23.03.2023

»Die Kamera lügt fortwährend. Genau dafür ist sie da!«

John Malkovich
John Malkovich in Robert Schwentkes Seneca
(Foto: Filmgalerie 451)

John Malkovich über das Kino als »Plastikkunst«, über die eigene Vergänglichkeit, und warum er sich seine Filme nie ansieht

Seneca – die Rolle des römischen Philo­so­phen und Erziehers des Kaisers Nero – hat der in den USA lebende deutsche Autoren­filmer Robert Schwentke (Der Hauptmann) nach lang­jäh­riger Recherche seinem Haupt­dar­steller John Malkovich auf den Leib geschrieben. Seneca – On the Creation of Earth­quakes ist ein eigen­sin­niger Film und alles andere als eine Geschichts­lek­tion oder eine stoi­zis­ti­sche Alltags­ü­bung à la »Seneca für Manager«.

In diesem auch stilis­tisch über­ra­schenden Kinowerk wird aktuelle Politik mit römischer Geschichte über­schrieben. Und deutsche Schau­spieler verschie­dener Gene­ra­tionen wie Lilith Stan­gen­berg, Wolfram Koch, Louis Hofmann treffen auf Europäer wie Geraldine Chaplin und Julian Sands.

Im Zentrum aber steht nur einer: John Malkovich, in der Titel­rolle. Wir haben exklusiv mit Malkovich über diesen Film und über seine Karriere, über das Verhältnis von Theater und Kino und über den Umgang mit Alter und Vergäng­lich­keit gespro­chen.

Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland

artechock: Beginnen wir mit Seneca. Wie kamen Sie zu diesem Projekt? Regisseur Robert Schwentke hat gesagt, dass er immer Sie vor Augen hatte, als er an dieses Projekt gedacht und die Rolle geschrieben hat. Als Sie Robert Schwentke auf die Rolle ange­spro­chen hat, gab es da schon ein Skript oder war das nur eine lose Idee?

John Malkovich: Wenn ich mich richtig erinnere, gab es schon ein Drehbuch, aber nur eine der ersten Fassungen. Ich mochte das Projekt. Es war verfüh­re­risch. Es war spek­ta­kulär und eine riesige Menge Arbeit. Nicht nur quan­ti­tativ, sondern auch von der Qualität und dem Gedan­ken­reichtum dieses Films.
Es ist kein einfacher Film und es ist kein Projekt, das einfach zu finan­zieren ist. In jeder Hinsicht schwierig.

artechock: Was hat Sie an dieser Rolle inter­es­siert?

Malkovich: Ich habe mit Robert schon öfter zusam­men­ge­ar­beitet. Er ist sehr intel­li­gent, sehr talen­tiert, sehr kulti­viert, ich mochte seinen Film Der Hauptmann sehr.
Natürlich war klar, dass dieser Film ganz anders ist, aber ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass es da im Kern etwas sehr Inter­es­santes gab.
Meine Art, mit Regis­seuren zu arbeiten, liegt an den Regis­seuren. Es kommt darauf an, was sie wollen: Wenn sie möchten, dass ich mit ihnen über das Drehbuch rede, dass ich mir zu bestimmten Szenen und Dialogen Notizen mache, und dies mit ihnen austau­sche, dann mache ich das sehr gerne. Ich bin sehr froh, wenn man über ein Drehbuch so sprechen kann, dass man gemeinsam versucht heraus­zu­finden, was da im Drehbuch drin liegt. Aber wenn Regis­seure anders arbeiten, ist mir das auch recht. In diesem Fall war es so, dass ich das Drehbuch in mehreren Fassung gelesen habe und Robert meine Eindrücke geschil­dert habe.

artechock: Was ist dieser Seneca-Charakter für Sie? Wir wissen, dass die histo­ri­sche Figur ein Philosoph war, dass er Ideen entwi­ckelt hat, in denen es um den Umgang mit dem Tod geht. Zugleich war er – auch das zeigt der Film – auch in die Tages­po­litik einge­bunden: Poli­tik­be­rater und Reden­schreiber. Ein Coach der Macht. Wie haben Sie sich dieser Figur genährt?

Malkovich: Seneca war offen­sicht­lich ein ziemlich schlauer Mann, der ziemlich gut mit Sprache umgehen konnte. Im Drehbuch wird es so darge­stellt, dass Kaiser Nero ohne seinen Einfluss noch gefähr­li­cher und exzessiv und gestört gewesen wäre. Das wäre bestimmt auch Senecas Ausrede gewesen, wenn man ihn gefragt hätte.
Bevor wir mit der Arbeit ange­fangen haben, hatte ich keine beson­deren Ansichten und keinen beson­deren Bezug zu Seneca. Aber wenn wir vom histo­ri­schen Seneca sprechen, dann müssen wir zugeben, dass er in einer Zeit lebte, die mit unserer eigenen Epoche nichts zu tun hat – sie könnte unseren eigenen Erfah­rungen nicht ferner liegen.

artechock: Ist das wirklich so? Regisseur Robert Schwentke würde ja anders argu­men­tieren: Er sieht eine Parallele zwischen den USA unter Donald Trump und seinen Consul­tants zu jener Zeit von Nero...

Malkovich: [Lacht.] Jaja, ich weiß, dass Trump alle möglichen Leute um sich herum töten wollte und alle anderen ins Gefängnis sperren – viel­leicht hatten seine Ratgeber mehr Erfolg als die von Seneca [lacht].
Nein im Ernst: Ich weiß, dass es gerade eine tota­li­täre Bewegung in der Welt gibt. Aber ich bin nicht ganz sicher, ob sie aus dieser Ecke kommt – um offen zu sein.
Ich fand es darum nicht nötig, die Figur von Nero und Seneca zu sehr an die Situation in den USA vor einigen Jahren – während der Präsi­dent­schaft von Donald Trump – anzu­knüpfen. Ich habe, offen gesagt, den Punkt nie gesehen, die angeb­li­chen Ähnlich­keiten zwischen Trump und Nero. Ganz offen­sicht­lich gibt es große Unter­schiede.
Aber ich mag ande­rer­seits auch einige der anachro­nis­ti­schen Momente, die der Film hat. Da ich vom Theater komme, ist das für mich nicht besonders unge­wöhn­lich. Nur im Kino ist man das nicht so gewohnt.

artechock: Robert Schwentke hat ein sehr kriti­sches Bild von Seneca. Ist das auch Ihre Sicht­weise?

Malkovich: Nein, ich denke ein Coach zu sein, ein Rheto­rik­lehrer, ist sehr gefähr­lich, erst recht wenn der Schüler ein Nero ist. Ich kann niemandem Lektionen erteilen. Ich denke, dass es ein Kampf für jeden Mensch ist, heraus­zu­finden, wie sie selber sein sollten und wie sie sie selbst sein können. Man denkt da nicht an zukünf­tige Gene­ra­tionen.

artechock: Viel­leicht hatten mächtige Leute schon immer solche Menschen um sich herum, wie Sie jetzt einen spielen: Oppor­tu­nisten und Spei­chel­le­cker, Menschen, die klüger sind, als diese Männer an der Macht. Die aber Kompro­misse eingehen, sich anpassen und nicht das sagen, was sie wirklich denken. Sie machen Kompro­misse für ihr eigenes Wohl­ergehen, für ihre Karriere, für Geld natürlich... So einen Typen spielen Sie, oder?

Malkovich: Ja, schon. Seneca ist ein Kolla­bo­ra­teur. Im Gegensatz zu heute, wo man viel­leicht Instagram-Follower verlieren kann, oder für bestimmte Aussagen „gecancelt“ wird, konnte man damals natürlich für so etwas sofort enthauptet werden.
Ich finde darum, dass es proble­ma­tisch ist, diese ganzen Vergleiche zur Gegenwart zu ziehen. Auch wenn natürlich auto­ri­täre und tota­li­täre Instinkte die Mensch­heits­ge­schichte immer umgeben haben, und uns auch heute umgeben.
Ich habe es immer unan­ge­messen gefunden, sich so zu benehmen, wie jene Leute, die heute finden, es sei ihre Pflicht und ihr Recht, anderen Menschen vorzu­schreiben, wie sie leben sollten, was sie denken sollten, was sie tun und lassen sollten, was sie glauben sollen. Dieser Impuls geht quer durch die Geschichte und quer durch alle Lager des soge­nannten »poli­ti­schen Spektrums«. Dieses Spektrum ist letztlich immer ein ideo­lo­gi­sches Spektrum. Es ist ein Ersatz für Religion. Ich finde die Vorstel­lung, dass ein Mensch einem anderen sagt, wie er sein soll, wie er sich benehmen soll, wie das Leben ist, was man glauben soll, immer ein bisschen faschis­tisch. Das steht einem Menschen einfach nicht zu.
Ich möchte das von anderen nicht gesagt bekommen. Natürlich ist es ein Verrat an der eigenen Selbstein­schät­zung und Selbst­be­stim­mung, wenn man gesagt bekommt, wie man sich bewegen soll und wie man sich benehmen soll – was ich damit sagen will: Man kann Ideologen und Tota­li­täre unter jedem Stein finden.

artechock: Wie wichtig ist Angst für diese Leute? Auch der Seneca des Films hat Angst, gleich­zeitig ist er weniger feige, als die Leute um ihn herum, als seine soge­nannten Freunde. In den 24 Stunden, die wir in diesem Film sehen, gibt es diese unmit­tel­bare Bedrohung und die Furcht vor dem Tod.
Was sind Ihrer Ansicht nach die zeitlosen Fragen in diesem Film, und was sind die ganz zeit­ge­mäßen Motive?

Malkovich: Ich glaube, das Zeitlose ist die Frage: Wann werden die Kompro­misse, die man macht, zu viele? Ist es einer zu viel oder sind es 3000? Passiert es täglich oder nur am Morgen?
Für mich ist das Leben ein Kompro­miss und natürlich gibt es da auch einen Anteil Korrup­tion. Das ist ziemlich zeitlos. Das Nach­denken über solche Fragen überlässt man aber besser den Philo­so­phen und den Theologen. Ich glaube nicht, dass normale Menschen („everyday people“) sich damit allzu viel ausein­an­der­setzen sollten. Manche kümmert es sowieso nicht, andere ertragen es nicht.
Was wahr­schein­lich ein Phänomen unserer Zeit und Epoche ist, ist die Plötz­lich­keit und Gewiss­heit des Preises, den man bezahlen muss, wenn man keine Kompro­misse macht.
An bestimmten Epochen und Orten der Geschichte – Lenins Sowjet­union, Pol Pots Kambo­dscha und Hitlers Deutsch­land – hatte jedes Wort poten­tiell eine tödliche Konse­quenz. Das ist ganz das Gegenteil zu unserer Gegenwart, in der es sehr viel Blablabla gibt. Mit den sozialen Medien wird alles erweitert und verbrei­tert, aber das ist eine Erwei­te­rung in die Folgen­lo­sig­keit.
Also: Es gibt in diesem Film Ähnlich­keiten zur Gegenwart, wie auch große Unter­schiede.

artechock: Sie haben jetzt von Politik gespro­chen. Gibt es auch Ähnlich­keiten zur Kunstwelt? Seneca war auch ein Künstler, er hat Stücke geschrieben, und Sie sind ein Künstler. Ich weiß nicht, aber ich könnte mir vorstellen, dass Sie manchmal mit sehr auto­ri­tären Personen zu tun hatten, mit toxischen Charak­teren... War das so?

Malkovich: Nun ich hatte ein paar sehr wenige Kollegen in meinem Leben, die ich viel­leicht „toxisch“ nennen würde. Jeden­falls waren sie unan­ge­nehm oder, noch höflicher gesagt: nicht sehr ideale Kollegen.
Ich habe das in der Regel versucht, zu vermeiden. Meine Biografie als Künstler war im Großen und Ganzen sehr glücklich. Aus den wenigen Momenten, in denen ich es nicht vermeiden konnte, folgte zumindest, dass ich mit diesen Leuten nicht wieder zusam­men­ar­beite.
Im Großen und Ganzen hatte ich groß­ar­tige Kollegen, und habe dies auch gegen­wärtig.

artechock: Sie sind in diesem Film in fast jeder Szene zu sehen. Als Schau­spieler mit so viel Präsenz – wie dosieren Sie ihren Ausdruck, wie variieren Sie?

Malkovich: Jede Szene ist anders und jede Kame­ra­ein­stel­lung ist anders. Jede Aufnahme enthält etwas Neues, abhängig von der Linse und von dem, was der Kame­ra­mann macht. Ich denke von Szene zu Szene, von Einstel­lung zur Einstel­lung. Es ist sehr sehr schwierig, als Schau­spieler im Film die Konti­nuität im Auge zu behalten. Man muss sich auf den Moment konzen­trieren. Ich glaube, dass es vor allem der Job des Regis­seurs ist, darauf zu achten. Mein Job ist es, aus jeder Szene das Beste heraus­zu­holen und in jeder Einstel­lung in jedem Moment präsent zu sein.

artechock: Prak­ti­sche Frage: Sie haben so viel Text in diesem Film. Wie lange haben Sie sich damit beschäf­tigt, die ganzen Texte zu lernen?

Malkovich: Wenn wir die ganzen verschie­denen Dreh­buch­fas­sungen mal weglassen und die Bespre­chungen über das Drehbuch, dann hat es viel­leicht vier Monate gedauert. Zwei Monate allein, um den Text einfach zu lernen, denn es sind ungefähr 90 Seiten Monologe. Dann die verschie­denen Vorbe­rei­tungen. Und natürlich habe ich am Dreh auch Hilfe gebraucht.

artechock: Sie machen sehr viel Theater. Zugleich sind Sie eine Persön­lich­keit des Film­busi­ness. Gibt es Ihrer Ansicht nach einen großen Unter­schied zwischen den beiden Welten?

Malkovich: Yeah! Das Theater ist ein leben­diges Ding. Es ist durch­lässig und organisch, es pulsiert. Alle Thea­ter­s­tücke, in jedem Fall alle guten Stücke haben eines gemeinsam: Präsenz. Das betrifft auch das Publikum. Es erlebt eine Insze­nie­rung im Hier und Jetzt.
Beim Kino ist das natur­gemäß ganz anders: Man sieht den Film irgend­wann. In gewisser Weise lebt er nicht und ist unor­ga­nisch. Kino ist eine Plas­tik­kunst. Es ist etwas Gemachtes.
Es geht darum, den Zufall und Instinkt auszu­schließen, das Ephemere.
Für mich sind Kino und Theater nicht einmal entfernte Verwandte, nicht einmal Cousins. Bei beidem gibt es einen Set, ein Drehbuch und Schau­spieler, aber die Erfahrung ist eine voll­kommen andere.

artechock: Das klingt, als würden Sie das Theater bevor­zugen. Was macht für Sie das Kino inter­es­sant?

Malkovich: Das möchte ich so gar nicht sagen! Ich bevorzuge nicht das Theater. Nur sind beide Kunst­formen komplett verschieden.
Ich erinnere mich, dass ich, als ich anfing Filme zu machen, immer gesagt bekommen habe: »Die Kamera lügt nicht.« Mit der Zeit habe ich irgend­wann heraus­ge­funden, dass sie genau das tut. Die Kamera lügt fort­wäh­rend. Genau dafür ist sie da. Die Möglich­keit dieser Art von Lüge gibt es im Theater überhaupt nicht.
Es sind beides Formen der Krea­ti­vität. Das Theater hat seine Grenzen, das Kino hat auch seine Grenzen. Darum würde ich niemals sagen, dass ich eine Präferenz habe. Aber ich bin in dem einen Kunst­me­dium aufge­wachsen und praktisch ausge­bildet worden. In das andere bin ich als erwach­sener Mann hinein­ge­kommen.
Das Film­schau­spiel habe ich mit der Zeit gelernt, während ich es prak­ti­ziert habe. Ich habe gelernt, das zu mögen, was die Filme machen, was das verlangt oder fordert von uns.
Ich hatte groß­ar­tige Zeiten sowohl beim Film, wie beim Theater, aber sie sind beide sehr verschie­dene Kunst­formen.

artechock: Haben Sie das Gefühl, über die Kunst gegen die Vergäng­lich­keit und den Tod anzu­kämpfen? Seneca ist ja ein Film über Vergäng­lich­keit und die Kunst des Sterbens, und darüber, wie Menschen mit ihrem eigenen Sterben umgehen … Man könnte sagen: Filme bewahren Ihr Aussehen und Ihre Jugend für immer. Und in 100 Jahren werden Menschen einen Film mit John Malkovich ansehen können. Ein Thea­ter­s­tück nicht. Sie sind ewig durch das Kino. Auf der anderen Seite fühlen Sie sich mögli­cher­weise leben­diger, wenn Sie vor Publikum auf einer Bühne stehen und jetzt und hier auftreten...

Malkovich: Ich würde sagen, diese Beschrei­bung ist akkurat. Aber ich würde auch sagen, dass ich nicht jemand bin, dem es wichtig ist, dass man sich an mich erinnert.
Ich habe sicher­lich kein bewusstes Bedürfnis danach – und ich finde es ein bisschen absurd, auch nur darüber zu reden – irgend­eine Art von Erbe für die Nachwelt oder etwas Ähnliches zu hinter­lassen.
Aber ja: Auf dem Theater tut man genau das, was man gerade in diesem Moment tut und was man nicht verändern kann. Etwas, das nicht in irgend­einer Form im Nach­hinein in etwas anderes ummon­tiert wird – sondern es ist etwas, das einfach in der Erin­ne­rung des Publikums existiert oder eben überhaupt nicht. Und selbst das, was in der Erin­ne­rung existiert, wird viel­leicht falsch erinnert.
Jeder kreative Ausdruck ist, wenn schon nicht auf dem Tod basierend und vom Tode besessen, so doch sich zumindest des Todes bewusst. Das Ende wird kommen, egal ob wir das nun mögen oder nicht.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich mir jemals nicht des eigenen Todes bewusst gewesen bin, und des Vergehens der Zeit.
Wenn wir jung sind, sind wir ziemlich vergess­lich. Aber je älter wir werden, umso mehr sind wir uns das Vergehens der Zeit bewusst und der immer weniger Zeit, die uns noch bleibt. So sollte es auch sein, denke ich.

artechock: Wie geht es Ihnen, wenn Sie einen sehr alten Film sehen? Nehmen wir zum Beispiel einen Film von der Stummfilm-Diva Louise Brooks. Darin sehen Sie dann viele junge Menschen, die heute längst gestorben sind oder in jedem Fall uralt. All das, was Sie da sehen, wird niemals wieder exis­tieren. Das heißt, Sie sehen dort ganz unmit­telbar auch das Vergehen der Zeit. Berührt Sie das?

Malkovich: Auf alle Fälle! Es ist berührend, aber nicht meinet­wegen, sondern ihret­wegen, wegen der Menschen, die wir dort auf der Leinwand sehen.
Aber so ist das Leben: Die Welt stirbt fort­wäh­rend und fort­wäh­rend wird irgend­etwas neuge­boren. Nichts bleibt für immer.

artechock: Sie sind also auf Ihre Art ein Stoiker?

Malkovich: Ja. Aber ähnlich wie bei Seneca ist das viel­leicht etwas leichter gesagt als getan. Ich muss jetzt auch an Beckett denken, bei dem heißt es: »Du bist auf der Erde. Dagegen gibt es keine Medizin.«
Ich habe darüber neulich mit meiner Frau gespro­chen Wir haben jetzt ein kleines Enkelkind. Und zum ersten Mal habe ich in der letzten Zeit gedacht: »Oh shit! Ich wäre gerne zehn Jahre jünger oder wenigs­tens fünf Jahre jünger – nicht unbedingt wegen irgend­etwas, was ich selbst bisher nicht getan hätte und gerne noch tun würde, sondern um unser Enkelkind ein bisschen älter zu erleben. Und in unserem Fall wird das wahr­schein­lich nicht passieren. Aber auch hier gilt: So ist das Leben. Aber viel­leicht klappt es …«

artechock: Sehen Sie sich eigent­lich ab und zu Ihre eigenen früheren Filme an?

Malkovich: Nein, nie!

artechock: Sie haben also keine senti­men­talen Gefühle sich selbst gegenüber?

Malkovich: Nein. Das ist mal sicher. Wenn mich Freunde fragen, warum ich bei den Filmen, bei denen ich mitspiele, nicht Regie führe, dann antworte ich immer: Das würde bedeuten, dass der Schau­spieler, den ich am wenigsten mag, für den Regisseur arbeiten würde, den ich am wenigsten mag.
Es ist nicht so, dass ich das nicht ansehen könnte. Bei dem Film Seneca habe ich mir schon ein paar Sachen ange­schaut, weil es wichtig war, mit dem Regisseur Robert Schwentke über die Art zu reden, wie wir die Rolle angehen. Aber das Meiste sehe ich wirklich nicht.

artechock: In diesem Film haben Sie mit vielen deutschen Schau­spie­lern zusam­men­ge­ar­beitet. Sie müssen auf sehr verschie­dene Arten spielen. Manche von ihnen haben sehr viel Bühnen­er­fah­rung.
Was hat Sie daran besonders über­rascht und viel­leicht beein­druckt?

Malkovich: Eine der eindrucks­vollsten Eigen­schaften an ihnen ist ihre körper­liche Präsenz und die Verkör­per­li­chung von Dingen und Gefühlen und Gedanken. Sie sind sehr körper­lich. Das ist fantas­tisch.
Ich war viele Jahre lang Mitglied einer Thea­ter­kom­panie, die seltsam genug einen deutschen Namen hatte: »The Step­pen­wolf«. Das war auch ein sehr physi­sches Theater. Aber wie die Deutschen an einem körper­li­chen Ausdruck arbeiten, ist besonders und etwas, das ich ausge­zeichnet fand.
Sie hatten es bestimmt nicht leicht, weil ich in meiner Rolle sehr lange Monologe hatte und tagelang vor mich hin gebrab­belt habe – und sie mussten zuhören und die Wirkung der Worte in ihrem Ausdruck spiegeln. Für mich wäre das der Traumjob, weil ich relativ faul bin. Aber ich denke nicht, dass das besonders einfach ist. Und sie waren wunderbar. Diejenige, mit der ich vor allem zusammen gespielt habe, und die meiste Inter­ak­tion hatte, war Lilith Stan­gen­berg. Ich denke, sie ist absolut fantas­tisch. So smart und schnell und instinktiv und lustig und schlau und originell. Sie ist frei. Sie ist eine Wild Card.
Einer, den ich früher sehr bewundert habe, ist der leider verstor­bene große Volker Spengler. Das war die lustigste Person, die ich je gekannt habe. Er hat mich jeden Tag sehr zum Lachen gebracht.

artechock: Haben Sie Ihre Film-Ehefrau Lilith Stan­gen­berg oder Volker Spengler je auf der Volks­bühne gesehen?

Malkovich: Nein, leider nicht.

artechock: Sind Sie nun mit dem fertigen Film zufrieden? Entspricht er jetzt Ihren Vorstel­lungen?

Malkovich: Ja sehr. Es ist aber nicht wichtig, was ich mir vorstelle. Auch das Drehbuch ist nicht wichtig. Wie gesagt gab es mehrere Fassungen, es ist dazu da, immer wieder geändert zu werden.
Es gibt den Film, den man sich vorstellt; es gibt den Film, den man schreibt; es gibt den Film, den man dreht. Aber der einzige Film, der dann wirklich existiert und zählt, das ist der Film, den man schneidet. Alles andere bedeutet überhaupt nichts. Insofern kann man einen Film immer erst dann beur­teilen, wenn er fertig ist.