50. Berlinale 2000
Interview mit Jeanne Moreau |
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Jeanne Moreau in La propriétaire (1996) |
In diesem Jahr erhielt die französische Schauspielerin und Filmikone Jeanne Moreau den Goldenen Bären der Berlinale für ihr Lebenswerk. Artechock-Mitarbeiter Rüdiger Suchsland nutzte die Gelegenheit zu einem Interview.
artechock: Herzlichen Glückwunsch für die Auszeichnung durch die Berlinale. Unter den vielen Filmen Ihrer Karriere haben Sie sich für die Gala am Abend Tony Richardsons Mademoiselle gewünscht. Eine großartige Wahl.
Jeanne Moreau: Ein wundervoller, außergewöhnlicher Film. Beeindruckend nicht wahr?
artechock: Ja, bis heute hat er sich den skandalösen Touch seiner Entstehungszeit bewahrt. Er funktioniert noch immer...
Moreau: Ja, und die Reaktionen der Leute & Manche, die ihn nicht kannten, waren richtig schockiert. Das war ein ganz besonderer Film. Die Frau die ich spiele, hat eine Art heilige Obsession. Man darf den Begriff »Neurose« dafür gar nicht verwenden, ohne es zu reduzieren.
artechock: Ist Mademoiselle Ihr persönlicher Lieblingsfilm?
Moreau: Nein, so kann man das nicht sagen. Der Film war leider nicht sehr erfolgreich. Denn die Leute haben ihn damals gar nicht verstanden. Die Vorlage zu der Geschichte stammt ursprünglich von Jean Genet, und meine Figur war eigentlich ein junger Mann. Dieses Doppeldeutige hat mich fasziniert.
artechock: Seit Beginn Ihrer Karriere haben Sie immer wieder solche skandalösen Figuren gespielt. Woher haben Sie eigentlich diesen Mut genommen?
Moreau: Seit ich fünf Jahre alt war, wusste ich, dass ich etwas Besonderes tun würde.
artechock: Sie hatten nie Angst?
Moreau: Oh nein! Angst vor was?
Vor den Geschichten, den Figuren, den Regisseuren vielleicht?
Moreau: Daran habe ich gar nicht gedacht. Ich wusste, dass ich etwas Besonderes tun würde. Ich habe nicht daran gedacht, berühmt zu sein. Ich wollte etwas herausfinden, die menschliche Wesensart untersuchen. Ich wollte wissen, worum es sich mit alldem um mich herum überhaupt handelte. Warum Erwachsene so waren, wie sie waren. All das Gefühlschaos. Und die Missverständnisse und die Schönheit. Sehr früh war ich in der Lage, diese
Schönheit zu entdecken, diese brutale Schönheit der Natur. Das Leben der Tiere, der Insekten.
Ich will Ihnen das erzählen: Mein Vater und meine Mutter arbeiteten sehr hart. Sie hatten ein Restaurant, es gab kaum Privatleben. Im Winter gab es kaum Kunden aber im Sommer schickte man mich manchmal nach England, zur Familie meiner Mutter. Das waren viele verschiedene Erfahrungen: Mit meinem Großvater entdeckte ich die See und die Sterne, meine Großmutter brachte mir Kochen bei.
In
Frankreich gab es eine wunderschöne, außergewöhnliche Frau, eine Cousine meines Vaters. Der gehörte eine Pension im französischen Zentralmassiv, in einer durch und durch vulkanischen Landschaft. Ich habe das geliebt: oben die Bäume, darunter die schlafenden Vulkane. Wenn man an einem windstillen Augustnachmittag dort liegt, gibt es nichts Schöneres.
Und der Freund dieser Cousine war ein Jäger. Mit seinem Hund und mit mir zog er durch die Wälder und brachte mir bei, die
essbaren von den giftigen Pilzen zu unterscheiden. Und ich lernte den Unterschied zwischen einer Viper und einer harmlosen Schlange. So viele Dinge habe ich da gelernt!
Als Kind war ich oft krank. So habe ich viel gelesen. Romane und Gedichte.
Also um es kurz zu machen: Alles wurde mir verboten: Ausgehen, Musik, Filme, Theater. So begann ich, meine Eltern zu belügen, und ein Doppelleben zu führen. Es war während der Besatzungszeit, da ging ich nach Paris, und sah ein Stück:
»Antigone«. Als ich das sah: die weiße, zarte Silhouette im Licht, da wußte ich, was ich sein würde: Antigone – eine Rebellin, nach der Wahrheit suchend.
Und ich suche nach wie vor nach der Wahrheit.
artechock: Haben Sie ein wenig davon gefunden.
Moreau: Ja, das habe ich. Ich habe irgendwo ein kleines Paket. [Lachend]
artechock: Wo fanden Sie Wahrheit? In Ihren Filmen oder im Leben?
Moreau: Nun, natürlich auch in den Filmen. Denn wovon handeln Filme: Leben, Tod, Liebe – immer die gleiche Geschichte. Und man kann gegenseitig voneinander profitieren. Zum Beispiel Francois Truffaut hat von mir viel über die Frauen gelernt, ich bei ihm vieles über Filme.
artechock: Über die Männer haben Sie von Truffaut nichts gelernt?
Moreau: Nichts, was ich nicht bereits wusste.
artechock: Sie meinten einmal, ihre Regisseure und ihre Liebhaber möchten Sie nicht miteinander vergleichen. Warum eigentlich nicht?
Moreau: Darum nicht. Es hat etwas Verletzendes.
artechock: Ist es besser, seine Geheimnisse zu haben?
Moreau: Oh nein, das ist gar keine Frage von Geheimnissen. Wie können Sie einen Menschen überhaupt mit dem anderen vergleichen? Das ist eine Erniedrigung für den einen wie den anderen. Jede Person ist eine spezielle Erfahrung. Ich hasse es, wenn manche Männer und Frauen – vor allem Frauen, denn Männer reden über so etwas nicht so offen – ihre Liebhaber vergleichen: Oh ich habe mit dem und dem geschlafen, der ist so schlecht, jener ist ein Loser. Was heißt das denn überhaupt?
artechock: Sind Regisseure wie Liebhaber? Gibt es da Ähnlichkeiten?
Moreau: Natürlich. Beim Film gibt es eine enorme Intimität. Auch wenn es nicht zum Sex kommt. Es geht da um etwas jenseits physischer Beziehungen. Physische Beziehungen, das ist wie essen, pinkeln, scheißen. Wenn man tiefer und tiefer geht, kommt es zu einem unglaublichen, sehr speziellen Austausch. Das hat große Bedeutung.
artechock: Ist das eine Art intellektueller Sex?
Moreau: Ich weiß nicht, was intellektuell heißt. Übersicht und Urteilskraft sind wichtig, damit hat es etwas zu tun. Jeder trifft seine Entscheidungen, entwickelt seine eigene Philosophie. Wer ist die Person, anderen Lektionen zu erteilen. Ich bin kein Intellektueller. Man hat auf der Bühne keine Zeit, ein Intellektueller zu sein.
artechock: Aber im Gegensatz zu anderen sind Sie eine intelligente Schauspielerin...
Moreau: Ich denke schon, ja. Jeder könnte es sein. Aber man muß Intelligenz auch kultivieren.
artechock: Ist Ihre Art zu spielen, etwas Ursprüngliches, ganz Natürliches, oder etwas, das Sie sich erst mühsam angeeignet haben und kultivieren müssten?
Moreau: Es ist ein Gottesgeschenk. Ich vergleiche mich gern mit einer Rose im Garten. Das Wasser fließt durch mich hindurch. Ich selbst muss sauber sein.
artechock: Sind Sie das Medium Ihrer Regisseure?
Moreau: Ich denke ja.
artechock: Fällt es Frauen leichter, sie so zurückzunehmen? Oder ist das für einen Mann das Gleiche?
Moreau: Ich bin kein Mann. Ich weiß, dass manchen das sehr schwerfällt. Aber die Größten haben genau dies akzeptiert. Nehmen Sie Marcello Mastroianni. Der war auch ein Medium. Alles was auf ihn einströmte, gab er weiter und verstärkte es.
Man muss sich zurücknehmen. Und es gibt einen Punkt, da merkt man das gar nicht mehr. Manchmal ist man fassungslos, wenn man sich dann selbst auf der Leinwand sieht: Mein Gott, wo kommt das denn her? So
war Marcello.
artechock: Gilt dies auch in der Beziehung zu den Regisseuren? Denn die sind ja meistens Männer?
Moreau: Vergessen Sie das Geschlecht! Auf Formularen muss man immer »f« oder »m«. ankreuzen. Vergessen Sie das. Wir sind alles. Ein Künstler ist nicht mehr »f« oder mehr »m«.
artechock: Sie möchten einmal den »King Lear« spielen, nicht wahr?
Moreau: Oh ja. Den haben ja schon ein paar Frauen gespielt. Vielleicht vorher noch Richard den Dritten. [Lacht]
artechock: Das wäre schön. Sie haben schon Männer auf der Bühne gespielt. Wie war die Erfahrung?
Moreau: Zweimal. Mit 18 in einem Racine-Stück und mit 20 in einem anderen. Ich habe das damals sehr genossen. Es wird Zeit, dass ich es wieder tue. Ich habe nach wie vor noch viel zu lernen.