24.02.2000
50. Berlinale 2000

Interview mit Jeanne Moreau

Jeanne Moreau
Jeanne Moreau in La propriétaire (1996)

In diesem Jahr erhielt die fran­zö­si­sche Schau­spie­lerin und Filmikone Jeanne Moreau den Goldenen Bären der Berlinale für ihr Lebens­werk. Artechock-Mitar­beiter Rüdiger Suchsland nutzte die Gele­gen­heit zu einem Interview.

artechock: Herz­li­chen Glück­wunsch für die Auszeich­nung durch die Berlinale. Unter den vielen Filmen Ihrer Karriere haben Sie sich für die Gala am Abend Tony Richard­sons Made­moi­selle gewünscht. Eine groß­ar­tige Wahl.

Jeanne Moreau: Ein wunder­voller, außer­ge­wöhn­li­cher Film. Beein­dru­ckend nicht wahr?

artechock: Ja, bis heute hat er sich den skan­dalösen Touch seiner Entste­hungs­zeit bewahrt. Er funk­tio­niert noch immer...

Moreau: Ja, und die Reak­tionen der Leute & Manche, die ihn nicht kannten, waren richtig scho­ckiert. Das war ein ganz beson­derer Film. Die Frau die ich spiele, hat eine Art heilige Obsession. Man darf den Begriff »Neurose« dafür gar nicht verwenden, ohne es zu redu­zieren.

artechock: Ist Made­moi­selle Ihr persön­li­cher Lieb­lings­film?

Moreau: Nein, so kann man das nicht sagen. Der Film war leider nicht sehr erfolg­reich. Denn die Leute haben ihn damals gar nicht verstanden. Die Vorlage zu der Geschichte stammt ursprüng­lich von Jean Genet, und meine Figur war eigent­lich ein junger Mann. Dieses Doppel­deu­tige hat mich faszi­niert.

artechock: Seit Beginn Ihrer Karriere haben Sie immer wieder solche skan­dalösen Figuren gespielt. Woher haben Sie eigent­lich diesen Mut genommen?

Moreau: Seit ich fünf Jahre alt war, wusste ich, dass ich etwas Beson­deres tun würde.

artechock: Sie hatten nie Angst?

Moreau: Oh nein! Angst vor was?

Vor den Geschichten, den Figuren, den Regis­seuren viel­leicht?

Moreau: Daran habe ich gar nicht gedacht. Ich wusste, dass ich etwas Beson­deres tun würde. Ich habe nicht daran gedacht, berühmt zu sein. Ich wollte etwas heraus­finden, die mensch­liche Wesensart unter­su­chen. Ich wollte wissen, worum es sich mit alldem um mich herum überhaupt handelte. Warum Erwach­sene so waren, wie sie waren. All das Gefühls­chaos. Und die Miss­ver­s­tänd­nisse und die Schönheit. Sehr früh war ich in der Lage, diese Schönheit zu entdecken, diese brutale Schönheit der Natur. Das Leben der Tiere, der Insekten.
Ich will Ihnen das erzählen: Mein Vater und meine Mutter arbei­teten sehr hart. Sie hatten ein Restau­rant, es gab kaum Privat­leben. Im Winter gab es kaum Kunden aber im Sommer schickte man mich manchmal nach England, zur Familie meiner Mutter. Das waren viele verschie­dene Erfah­rungen: Mit meinem Großvater entdeckte ich die See und die Sterne, meine Groß­mutter brachte mir Kochen bei.
In Frank­reich gab es eine wunder­schöne, außer­ge­wöhn­liche Frau, eine Cousine meines Vaters. Der gehörte eine Pension im fran­zö­si­schen Zentral­massiv, in einer durch und durch vulka­ni­schen Land­schaft. Ich habe das geliebt: oben die Bäume, darunter die schla­fenden Vulkane. Wenn man an einem wind­stillen August­nach­mittag dort liegt, gibt es nichts Schöneres.
Und der Freund dieser Cousine war ein Jäger. Mit seinem Hund und mit mir zog er durch die Wälder und brachte mir bei, die essbaren von den giftigen Pilzen zu unter­scheiden. Und ich lernte den Unter­schied zwischen einer Viper und einer harmlosen Schlange. So viele Dinge habe ich da gelernt!
Als Kind war ich oft krank. So habe ich viel gelesen. Romane und Gedichte.
Also um es kurz zu machen: Alles wurde mir verboten: Ausgehen, Musik, Filme, Theater. So begann ich, meine Eltern zu belügen, und ein Doppel­leben zu führen. Es war während der Besat­zungs­zeit, da ging ich nach Paris, und sah ein Stück: »Antigone«. Als ich das sah: die weiße, zarte Silhou­ette im Licht, da wußte ich, was ich sein würde: Antigone – eine Rebellin, nach der Wahrheit suchend.
Und ich suche nach wie vor nach der Wahrheit.

artechock: Haben Sie ein wenig davon gefunden.

Moreau: Ja, das habe ich. Ich habe irgendwo ein kleines Paket. [Lachend]

artechock: Wo fanden Sie Wahrheit? In Ihren Filmen oder im Leben?

Moreau: Nun, natürlich auch in den Filmen. Denn wovon handeln Filme: Leben, Tod, Liebe – immer die gleiche Geschichte. Und man kann gegen­seitig vonein­ander profi­tieren. Zum Beispiel Francois Truffaut hat von mir viel über die Frauen gelernt, ich bei ihm vieles über Filme.

artechock: Über die Männer haben Sie von Truffaut nichts gelernt?

Moreau: Nichts, was ich nicht bereits wusste.

artechock: Sie meinten einmal, ihre Regis­seure und ihre Liebhaber möchten Sie nicht mitein­ander verglei­chen. Warum eigent­lich nicht?

Moreau: Darum nicht. Es hat etwas Verlet­zendes.

artechock: Ist es besser, seine Geheim­nisse zu haben?

Moreau: Oh nein, das ist gar keine Frage von Geheim­nissen. Wie können Sie einen Menschen überhaupt mit dem anderen verglei­chen? Das ist eine Ernied­ri­gung für den einen wie den anderen. Jede Person ist eine spezielle Erfahrung. Ich hasse es, wenn manche Männer und Frauen – vor allem Frauen, denn Männer reden über so etwas nicht so offen – ihre Liebhaber verglei­chen: Oh ich habe mit dem und dem geschlafen, der ist so schlecht, jener ist ein Loser. Was heißt das denn überhaupt?

artechock: Sind Regis­seure wie Liebhaber? Gibt es da Ähnlich­keiten?

Moreau: Natürlich. Beim Film gibt es eine enorme Intimität. Auch wenn es nicht zum Sex kommt. Es geht da um etwas jenseits physi­scher Bezie­hungen. Physische Bezie­hungen, das ist wie essen, pinkeln, scheißen. Wenn man tiefer und tiefer geht, kommt es zu einem unglaub­li­chen, sehr spezi­ellen Austausch. Das hat große Bedeutung.

artechock: Ist das eine Art intel­lek­tu­eller Sex?

Moreau: Ich weiß nicht, was intel­lek­tuell heißt. Übersicht und Urteils­kraft sind wichtig, damit hat es etwas zu tun. Jeder trifft seine Entschei­dungen, entwi­ckelt seine eigene Philo­so­phie. Wer ist die Person, anderen Lektionen zu erteilen. Ich bin kein Intel­lek­tu­eller. Man hat auf der Bühne keine Zeit, ein Intel­lek­tu­eller zu sein.

artechock: Aber im Gegensatz zu anderen sind Sie eine intel­li­gente Schau­spie­lerin...

Moreau: Ich denke schon, ja. Jeder könnte es sein. Aber man muß Intel­li­genz auch kulti­vieren.

artechock: Ist Ihre Art zu spielen, etwas Ursprüng­li­ches, ganz Natür­li­ches, oder etwas, das Sie sich erst mühsam ange­eignet haben und kulti­vieren müssten?

Moreau: Es ist ein Gottes­ge­schenk. Ich vergleiche mich gern mit einer Rose im Garten. Das Wasser fließt durch mich hindurch. Ich selbst muss sauber sein.

artechock: Sind Sie das Medium Ihrer Regis­seure?

Moreau: Ich denke ja.

artechock: Fällt es Frauen leichter, sie so zurück­zu­nehmen? Oder ist das für einen Mann das Gleiche?

Moreau: Ich bin kein Mann. Ich weiß, dass manchen das sehr schwer­fällt. Aber die Größten haben genau dies akzep­tiert. Nehmen Sie Marcello Mastroi­anni. Der war auch ein Medium. Alles was auf ihn einströmte, gab er weiter und vers­tärkte es.
Man muss sich zurück­nehmen. Und es gibt einen Punkt, da merkt man das gar nicht mehr. Manchmal ist man fassungslos, wenn man sich dann selbst auf der Leinwand sieht: Mein Gott, wo kommt das denn her? So war Marcello.

artechock: Gilt dies auch in der Beziehung zu den Regis­seuren? Denn die sind ja meistens Männer?

Moreau: Vergessen Sie das Geschlecht! Auf Formu­laren muss man immer »f« oder »m«. ankreuzen. Vergessen Sie das. Wir sind alles. Ein Künstler ist nicht mehr »f« oder mehr »m«.

artechock: Sie möchten einmal den »King Lear« spielen, nicht wahr?

Moreau: Oh ja. Den haben ja schon ein paar Frauen gespielt. Viel­leicht vorher noch Richard den Dritten. [Lacht]

artechock: Das wäre schön. Sie haben schon Männer auf der Bühne gespielt. Wie war die Erfahrung?

Moreau: Zweimal. Mit 18 in einem Racine-Stück und mit 20 in einem anderen. Ich habe das damals sehr genossen. Es wird Zeit, dass ich es wieder tue. Ich habe nach wie vor noch viel zu lernen.