»Darf man indische Elefanten nach Afrika setzen?« |
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Preisgekrönt: Draußen bleiben auf dem DOK-Fest 2008 |
Der Münchner Regisseur Alexander Riedel zeigt jetzt nach Nachtschicht, einem Film über die letzten Tage der Arbeiter im SZ-Druckhaus, mit Draußen bleiben bereits einen zweiten Film über den Alltag normaler Menschen und die Schattenseiten im nach außen glamourösen München gedreht. Draußen bleiben, eine Produktion des »Kleinen Fernsehspiel« des ZDF, für den Riedel soeben den FFF-Förderpreis beim Münchner Dok-Festival erhielt, erzählt von der Freundschaft zweier Mädchen in einem Flüchtlingsheim im Münchner Norden, ihrem Alltag, und zeigt ungekannte Seiten der bayerischen Landeshauptstadt.
Mit dem Regisseur sprach Rüdiger Suchsland.
artechock: Ich fang' mal an wie bei Robert Lemke: »Gehe ich recht in der Annahme…«, dass Deine Filme immer am Ende ganz anders aussehen, als Du es zunächst erwartet hattest, dass Du ein Filmemacher bist, der eher tastend vorgeht, ohne zu Beginn absolute Gewissheiten zu haben? Zumindest macht Draußen bleiben auf mich diesen Eindruck. Man kann diesen Film auf sehr unterschiedliche Art beschreiben. Man kann natürlich sagen: Das ist ein Film über Migrantenschicksale, über Flüchtlingsschicksale, man kann sagen, das ist ein Fußballfilm, ein Frauenfußballfilm, man kann sagen, das ist ein Mädchenfilm, man kann sagen, das ist ein München-Film, man kann sagen, dass ist ein Film über das sogenannte Prekariat oder bestimmte Formen des sogenannten Prekariats – und solche Beschreibungen. Das alles ist da drin.
Der Film hat einerseits eine ganz klare Linie, es ist keinesfalls als Vorwurf der Unklarheit gemeint, jetzt viele Facetten zu nennen, aber gleichzeitig macht es auch den Eindruck, dass da am Anfang die Richtung noch nicht völlig klar war. Sondern dass Du sozusagen die Wirklichkeit die Richtung bestimmen lässt…
Riedel: Bedingt, ja. Ich würde sagen: Das ist ein Freundschaftsfilm. Der Film erzählt die Geschichte einer Freundschaft zweier Mädchen. Und all das, was Du genannt hast, spielt da hinein und gibt auch den Druck auf diese Freundschaft, bestimmt vor allen Dingen den Druck auf die Hauptfigur.
Du hast insofern recht, als das sich bei dem Draußen
bleiben sehr viel doch während der Dreharbeiten ergeben hat. Gerade die Geschichte dieser Freundschaft hat sich an den ersten Drehtagen unglaublich in den Vordergrund geschoben – was ich aber begrüßt und aufgenommen habe. Ich habe einfach gemerkt, dass die Zusammenarbeit mit der Valentina und der Suli unglaublich gut funktioniert. Ich hatte ein Dreivierteljahr im Vorfeld recherchiert, und hatte die immer wieder getroffen, hatte das Umfeld, die Familie, die Freunde,
die Schule usw. abgeklappert, und spürte, dass da bei der Valentina ein unglaubliches Potential da ist. Und ich wollte das auch in den Film hinein bringen.
Aber das die Zusammenarbeit dann so gut funktioniert, war mir vorher nicht klar. Das ist aber dann der Fall gewesen, und insofern ist es so, dass die Valentina die unangefochtene Hauptfigur dieses Films geworden ist, und der Film jetzt die Freundschaft zwischen ihr und ihrer besten Freundin erzählt.
artechock: Wie hat das Ganze angefangen? Es gab eine Fotoausstellung dazu in München...
Riedel: Ja, es gab eine sehr lange Vorbereitungszeit. Ich arbeite im Vorfeld meiner Filme immer sehr stark mit der Fotokamera. Hier habe ich viele viele Bilder gesammelt. Die lege ich mir dann zuhause zu einer Art Fotoroman. Ich habe also eine ästhetische Annäherung an das Thema mit dieser Fotografie. Aber auch eine inhaltliche Herangehensweise: Es lassen sich so visuelle Verbindungen leicht erkennen, die ich später verwende und
umsetzen kann. Ich bin dann kurz vor der Drehzeit darauf angesprochen worden, man könne ja mit den Bilder auch noch mehr machen. So kam es parallel zu der Ausstellung.
Es war also nicht geplant. Es gab aber eine Unmenge von Bildern, und ich bin dann auch speziell noch losgezogen, und habe Portraits dazu gemacht und die Ausstellung konzipiert. Aber diese dokumentarische Fotografie ist die Grundlage gewesen für diesen Film. Und das ist auch meine Herangehensweise: Mit der
Fotokamera Orte zu suchen, Konstellationen zu bauen. Insofern gibt es bei mir den Wunsch nach einer genauen Vorbereitung. Das wird bei mir auch von Film zu Film stärker. Ich möchte jetzt bei meinem nächsten Film sehr viel mehr im Vorfeld bestimmen und sehr viel mehr definieren, und weniger die Spontaneität zum Zuge kommen lassen.
Aber diese Spontaneität, die jetzt in diesem Film drin ist, die gehört auch dazu. Das habe ich bewusst aufgenommen und das gibt dem Film ja auch den
Drive.
artechock: Wie lang hat die Vorbereitung gedauert
Riedel: Ein gutes halbes Jahr habe ich immer wieder alle Protagonisten getroffen, bevor die Kamera und jemand vom Team hinzukam.
artechock: In der Zeit hast Du die Fotos gemacht?
Riedel: Genau. aber das geht auch weiter. Ich fotografiere bis heute.
artechock: Und was stand am Anfang? Was war die Idee über die Du diese Protagonisten gefunden hast?
Riedel: Ganz am Anfang stand der Wunsch, einen Film mit Jugendlichen zu machen – nach Nachtschicht meinem Film über die letzten Tage der Arbeiter im SZ-Druckhaus. Der Wunsch, mit Jugendlichen zu arbeiten.
Und mich hat das Thema der Verweigerung interessiert. Was heißt Verweigerung? Dieses Thema hat sich unglaublich in den Vordergrund
gedrängt. Ich habe gesellschaftliche Verweigerung jeder Art reflektiert. Damit bin ich auch auf Schul-Verweigerung gekommen, habe in Schulen recherchiert, und über diese Verweigerung kam ich letztlich auf diesen Mädchenfußball-Bolzplatz, wo ich die Valentina kennengelernt habe. Da handelt es sich um so ein Projekt, mit dem man Jugendliche von der Straße holt, dass die gegeneinander Fußball spielen, und nicht blöd abhängen, und sich dann irgendwann irgendwelche Dinge
antun.
Da habe ich im Grunde genommen alle Jugendlichen, die jetzt im Film sind, kennengelernt.
artechock: Das klingt tatsächlich, als hätte der Zufall Regie geführt, in dem Sinn, dass Du eher zufällig auf dieses Projekt gekommen bist, und dann hat sich herausgestellt, dass die Valentina gut ist, und dann hattest Du quasi Dein Filmthema
Riedel: Naja, ganz so ist es nicht. Ich habe schon mit einem starken Egoismus nach meinem Thema Verweigerung gesucht. Und das habe ich dann in diesem Mädchen gefunden. Es ist mir sehr schnell sehr klar geworden, dass ich mit diesen Mädchen das Thema auch erzählen kann. Die lebt seit über 14 Jahren unter einem unglaublichen Druck, hat immer noch keine Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland, und Verweigerung wird hier sehr
vielschichtig: Die Gesellschaft verweigert sich gegenüber diesen Mädchen,
ihre eigene Verweigerung: Sie geht kaum in die Schule, ist fast gar nicht in der Lage, zuhause Hausaufgaben zu machen, und all diese Varianten. Und dazu kommt diese unglaubliche Kraft, die in diesem Mädchen ist, und diese fast anarchistische Lebensweise. Das habe ich sehr schnell verstanden, und fand ich unglaublich spannend, und so ist sie zur Hauptfigur im Film geworden.
Und so bin ich ein
dreiviertel Jahr später wieder zu meinen ersten Gedanken zurückgekommen. Auch wenn im Treatment das breiter recherchiert und breiter angelegt war.
Da stand allerdings auch schon drin: Das ist kein Fußballfilm.
Man kann das Filmemachen in mehrere Phasen einteilen. Es wäre falsch, sich immer wieder in der Drehphase auf dieses Treatment zu beziehen. Aber der Film entspricht im Ergebnis ganz meiner ursprünglichen Intention.
artechock: Würdest Du sagen, dass das die ausführliche Vorbereitung ist, die sich da auszahlt? Oder ist es das genaue Nachdenken, das dazu führt, dass man sich aus der Wirklichkeit auch immer das herausholt, was zu der Grundidee passt?
Die Frage, die dahinter steht, ist ja die, wie man mit Wirklichkeit umgeht. Als Regisseur eines Films, der zumindest Dokumentarfilm heißt. Wir haben uns in den letzten Jahren immer wieder darüber unterhalten, was eigentlich der wesentliche Unterschied eines Dokumentarfilms zum Spielfilm ist. Weil ja auch Dokumentarfilme gestalten.
Nach wie vor ist das für mich eine der interessantesten Fragen überhaupt: Welche Vorstellung von Wirklichkeit hat man als Regisseur? Als Spielfilmregisseur erfindet man eine fiktionale Wirklichkeit – die ist dann unter Umständen überprüfbar, muss es aber nicht sein. Der Betrachter kalkuliert Ausbrüche und Umgestaltungen, Fiktion, automatisch mit ein. Als Dokumentarfilmregisseur hat man erstmal nach außen hin den Anspruch, etwas zu »zeigen, was es wirklich gibt«. »Ich dokumentiere etwas.« Es ist mehr zeigen, als herstellen.
Und gleichzeitig geht man an die Wirklichkeit ja doch so heran, dass man nicht nur ein Seismograph ist, mit dem die Wirklichkeit etwas macht, und man ist ganz passiv, und lässt die Wirklichkeit dann den Film schreiben. Es gibt ja solche Konzepte: »Cinema Stylo«, »Cinema Verité« und ähnliche Ideen, die ja aus der Autorenfilmtradition kommen, die sind ja so gedacht.
Aber das ist ja nicht Deine Auffassung…
Riedel: Ne, ne! Draußen bleiben ist ein inszenierter Dokumentarfilm. Das würde ich sofort unterstreichen. Und dieses Zeigen, von dem Du gesprochen hast, das findet nur in der Vorbereitung statt. Für mich selbst, zum Scriptführen und für die Kamera. Dann ist es vorbei, dann wird gebaut und gesetzt und verdichtet – dieses dokumentarische Verdichten ist mir sehr sehr wichtig. Es wird auch in meinen nächsten Filmen immer mehr in diese Richtung gehen. Das spüre ich richtig. Ich möchte in meinen nächsten Filmen immer mehr inszenieren und verdichten.
Um noch mal auf die Orte zurückzukommen: Ich hatte kurz vor Drehbeginn nach dieser langen Fotorecherche Tage mit dem Kameramann, an denen wir die Motive gesucht haben. Es gab also eine richtige Motivsuche, so, wie man es auch beim Spielfilm macht. Diese Motive müssen auch nicht unbedingt eine hundertprozentige Deckung mit dem Alltag haben, es müssen nicht die Orte sein, wo die Jugendlichen, die dann im Film später in diesen Motiven agieren, sich sonst wirklich
treffen, wo sie wirklich wohnen und leben.
Ich kann Dir ein Beispiel nennen: Da gibt es im ersten Akt des Films einen Streit beim Fußballspielen. Da ist das Motiv von mir gewählt worden. An dem Bolzplatz haben die Mädchen noch nie gespielt, und auch die Mannschaft gab es in dieser Konstellation nicht. Ich habe also den Ort für die Szene gesucht. Der ist sehr entsprechend dem, was ich erzählen möchte, aber er ist in Milbertshofen.
Spielen tun sie normalerweise ganz woanders, in
Allach oder dergleichen. Das heißt, wir haben uns dort verabredet. Ich habe die Mannschaft so zusammengeführt, wie ich es richtig fand. Also die Gruppen zusammengeführt. Insofern kann man von einer Inszenierung sprechen im Vorfeld.
Ich habe die Kadrage mit dem Kameramann festgelegt. Dass wir auf Super 16 drehen, dann ranspringen, dann nur noch mit der Handkamera und das beobachten, und erst dann entsteht dieser spontane und dokumentarische Moment.
Was passiert?
Natürlich haben wir den Streit nicht inszeniert, aber wir haben alles drumherum inszeniert, und dann geschaut.
artechock: Ihr wusstet ja auch nicht, dass ein Streit kommen würde?
Riedel: Nein. Wir wussten, dass es eine Spannung zwischen diesen zwei Gruppen gibt. Ich hatte, wenn Du so möchtest während der Drehzeit andauernd einen unglaublichen Input. weil die Mädchen dauernd die neuesten Geschichten erzählt haben, hatte ich immer wieder den neuesten Update, was gerade ansteht. Das konnte ich nutzen, und konnte es ein, zwei Tage später einsetzen.
artechock: Wie würdest Du denn Deine Moral als Filmemacher beschreiben?
Riedel: In keiner Weise angekratzt. Das Inszenieren im Dokumentarfilm ist absolut zulässig.
artechock: Ja. Naja. Man könnte jetzt sagen: Erstens weiß das der Zuschauer nicht, man denkt, das ist deren normale Umgebung. Und zweitens finde ich, dass man Spielfilmen anmerkt, wenn sie nicht da gedreht werden, wo sie vorgeben zu spielen. Ich glaube, dass es zur Moral des Spielfilms gehört, und zwar zur künstlerischen Moral, also dass es sich auf das Kunstwerk auswirkt. Es geht mir nicht darum, sich gegenüber der Realität moralisch zu verhalten, sondern darum, einen guten Film zu machen. Also: was macht 'nen guten Film? Das ist die Moral. Und da würde ich immer denken, dass die Menschen sich in fremder Umgebung anders bewegen. Man könnte ja sagen: erst recht, wenn Du mit Laien arbeitest. Du holst sie aus ihrer natürlichen Umgebung. Du setzt indische Elephanten nach Afrika. Geht das?
Riedel: Ja, aber so ist es ja nicht. Erstens agieren sie immer nur in ihrer eigenen Rolle. Sie sind keine Laien, die etwas anderes spielen müssen.
Und dann gibt es ein Phänomen dieser Jugend: Es gibt keine Verortung in München. Die Jugendlichen leben eben nicht alle irgendwo im Norden am Stadtrand, sondern sie sind den ganzen Tag in der U-Bahn in allen Stadtteilen unterwegs und zuhause. Ihre Schule liegt am Hauptbahnhof, die besten Freunde
am Hasenbergl, eine ganze Clique aber in Milbertshofen. Die Freundschaften gehen über die Stadtteile hinweg.