03.11.2011

»Die hatten die charak­ter­liche Verfas­sung von Gang-Leadern in der Banlieue«

Marie de Montpensier schreibt
Emanzipation einer Adeligen:
Hier hilft nur Bildung

Bertrand Tavernier über seinen Film Die Prinzessin von Montpensier nach Madame de La Fayette, über das Leben zur Zeit der konfessionellen Bürgerkriege und der Verwandtschaft zwischen einem Hongkong-Gangsterfilm und dem 16. Jahrhundert

1941 in Lyon geboren, als Sohn eines Schrift­stel­lers und Verlegers in Paris aufge­wachsen, ist Bertrand Tavernier heute der wich­tigste fran­zö­si­sche Regisseur der ersten Gene­ra­tion nach der »Nouvelle Vague«. Der Filme­ma­cher gewann 1995 bei der Berlinale den Goldenen Bären für L’appât, und drehte viele weitere erfolg­reiche Spiel­filme, darunter das düstere Mittel­alter-Epos La passion Béatrice, und die leiden­schaft­liche soziale Anklage Ça commence aujourd'hui. Jetzt kommt sein neuer Film Die Prin­zessin von Mont­pen­sier ins Kino – eine Liebes­pas­si­ons­ge­schichte aus der Zeit der Reli­gi­ons­kriege.

Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland.

artechock: Beginnen wir mit dem Buch: „Die Prin­zessin von Mont­pen­sier“ ist eine Novelle. Sie stammt aus dem 17. Jahr­hun­dert von Madame de La Fayette. Die ist seit Jahr­hun­derten welt­berühmt für ihren Roman: „La Princesse de Clèves“ – es ist die Defi­ni­tion der modernen Liebe. Von ihren anderen Büchern weiß man wenig...

Bertrand Tavernier: „Die Prin­zessin von Mont­pen­sier“ würden wir heute eine Kurz­ge­schichte nennen. Es sind etwa 30 Seiten. Madame de La Fayette schrieb zwei solche novel­len­hafte Kurz­ge­schichten, die eine Art Vorbe­rei­tung auf die „Princesse de Clèves“ waren. Aber in ihrer konden­sierten Form finde ich die Novelle nicht weniger inter­es­sant als den Roman. Das waren in ihrer Art revo­lu­ti­onäre Bücher; zum ersten Mal ging es direkt um Gefühls­zu­stände – ohne sich hinter Metaphern zu verste­cken oder drama­ti­sche Konven­tionen zu bedienen. Madame de La Fayette wirft sie erstmals ab und schreibt nur über Fakten und Gefühle. In gewissem Sinn legt sie die Basis für die moderne Literatur. Zugleich schreibt sie über das 16. Jahr­hun­dert und die konfes­sio­nellen Bürger­kriege und mit den Vorur­teilen des 17. Jahr­hun­derts. Diese Zeit unter Ludwig XIV. war im Vergleich viel puri­ta­ni­scher, viel mora­li­sie­render. Darum elimi­niert die Autorin gewisse Fakten. Denn „Die Prin­zessin von Mont­pen­sier“ geht auf eine wahre Geschichte zurück. Tatsäch­lich hatten der Duc de Guise und seine Geliebte ein Kind! Ich wollte diese wahre Gewalt unter der sehr zivi­li­sierten Ober­fläche wieder zum Vorschein bringen. Zugleich ging es mir darum, mich in meinem Film nicht durch die alter­tüm­liche Sprache hemmen zu lassen. Die Madame schrieb in sehr konden­siertem Stil.

artechock: Wofür inter­es­sierte man sich im 17. Jahr­hun­dert am meisten an der Geschichte?

Tavernier: Die Möglich­keit der Treue. Treue und Liebe sind ja nicht dasselbe, das wusste man auch schon damals. Und man inter­es­sierte sich für den Subplot der reli­giösen Diffe­renzen, des Bürger­krieges. Diese Diffe­renzen standen immer noch im Raum, und Ludwig XIV. widerrief immerhin das Edikt von Nantes, das seiner­zeit den Frieden gestiftet hatte. Das hatte zur Folge, dass viele hoch­be­gabte Leute – Wissen­schaftler, Bankiers, Philo­so­phen – Frank­reich verließen, und nach Deutsch­land, in die Schweiz oder die Nieder­lande flohen. Ande­ren­orts gab es immer noch mörde­ri­sche Kriege zwischen Katho­liken und Protes­tanten.

artechock: Die ganze Geschichte ist ungemein modern...

Tavernier: Aller­dings! Es geht um Hass, Into­le­ranz; religiöse Ideo­lo­gien, die sich zu Kriegen steigern; Liebe, Macht und Menschen, die zwischen Pflicht und Gefühl hin und her gerissen sind. Man muss nur die alter­tüm­liche Sprache abstreifen und zum emotio­nalen Kern vorstoßen – dann ist die Moder­nität offen­kundig.

artechock: Am modernsten ist die Figur des protes­tan­ti­schen Deserteur Chabannes, den Lambert Wilson spielt...

Tavernier: Aber eben ein Deserteur, den man mag. Er gibt alles auf, weil er an schlechtem Gewissen leidet. Ich habe mich hier weniger an die Novelle gehalten, als versucht, histo­ri­sche Fakten zu rekon­stru­ieren – immerhin geht „Die Prin­zessin von Mont­pen­sier“ ja auf wahre Vorkomm­nisse zurück. Zugleich stellt sich aber die Frage: Wie gibt man seine Truppe überhaupt auf? Das war gefähr­lich, man wird als Verräter betrachtet, und erschossen, wenn man doch noch zurück­kehrt. Ich fragte Histo­riker, was zu jener Zeit für einen Soldaten wirklich unver­zeih­lich war? Die Antwort war: Die Zers­törung eines Pfluges. Die Zers­törung eines Backofens. Und die Tötung einer Schwan­geren. Das waren drei Kriegs­ver­bre­chen! So hatte ich meinen Anfang. Und meine Haupt­figur ihr schlechtes Gewissen.

artechock: Gibt es eine Schlüs­sel­szene für Sie?

Tavernier: Ja: Die Hoch­zeits­nacht. Alle Hoch­zeits­nächte in adeligen Familien waren öffent­lich. Machen wir uns mal klar, wie jung die Menschen waren, als sie heiraten mussten: Und dann mussten sie vor zehn bis fünfzehn Leuten zum ersten Mal in ihrem Leben Liebe machen. Was für ein Desaster! Die meisten dieser öffent­li­chen Hoch­zeits­nächte waren Kata­stro­phen – und natürlich trau­ma­ti­sierte diese Erfahrung die Menschen. Das fand ich sehr sehr inter­es­sant zu erzählen.

artechock: Es geht hier schon auch um den Wider­spruch zwischen Liebe in modernem Vers­tändnis, begriffen als Leiden­schaft, und der Tatsache, dass fast alle mensch­li­chen Bezie­hungen Teil eines Macht­spiels sind?

Tavernier: Aber in alldem liegt eine voll­kom­mene Aufrich­tig­keit. Das macht die Dinge so aufregend. Die Menschen sind weder nur gut, noch nur böse. Meine Heldin in meine Haupt­figur Marie. Ich bin heftig verliebt in sie. Sie ist eine Rebellin. Sie will die Ursache des jahr­zehn­te­langen Krieges verstehen. Bildung ist für sie das einzige Mittel des Wider­stands gegen das Schicksal. Eine sech­zehn­jäh­rige Adelige im 16. Jahr­hun­dert hat nicht mehr Rechte, als heute die Tochter aus einer funda­men­ta­lis­ti­schen Familie aus dem Jemen. Man musste schreiben lernen – das galt auch für die Madame de La Fayette selbst: Ein Mädchen aus kleinem Provinz­adel. Was sollte schon aus der werden? Bildung war das Mittel der Befreiung. Und dann die Kunst. Dass eine Frau Novellen schrieb, war revo­lu­ti­onär, so revo­lu­ti­onär, dass sie die ersten Bücher anonym erscheinen ließ, und lange Zeit abstritt, die Verfas­serin zu sein. Denn dass eine Frau schrieb, war ein Angriff auf die Ordnung. Darum übertrug ich diese Über­le­gungen und Probleme auf die Haupt­figur. Und es ist keine totale Erfindung: In der Renais­sance begannen adelige Frauen, schreiben zu lernen, und sich dadurch zu eman­zi­pieren.

artechock: Und diese Bildung führte dann zur Eifer­sucht der Ehemänner?

Tavernier: Oh ja! Machen wir uns keine Illu­sionen: Ein Großteil des Adels im 16. Jahr­hun­dert konnte nicht schreiben. Sie konnten gerade mal ein bisschen lesen. Die meisten von ihnen hatten die geistige und charak­ter­liche Verfas­sung von Gang-Leadern in unseren heutigen Vors­tädten. Sie raubten Märkte aus, verge­wal­tigten Frauen. Leute wie sie waren wie die Mafia. Diese Ritter waren harte Kämpfer. Einer von ihnen hatte 18 Wunden erhalten und kämpfte immer noch weiter – wie in einem Hongkong-Gangs­ter­film.

artechock: Eine Ausnahme war der Herzog von Anjou, der spätere König Heinrich III., eine der zentralen Figuren Ihres Films...

Tavernier: Ich mag ihn sehr. Er war aufge­schlossen und neugierig, fein­geistig und gebildet, intel­lek­tuell, und inter­es­sierte sich für Kunst und Mode. Und darum redeten die anderen genauso über ihn, wie es heute die dummen Schläger tun würden: »Der ist schwul«, »Der ist wahn­sinnig«, »pervers«. Er wurde stig­ma­ti­siert und ist bis heute die „bête noire“ der fran­zö­si­schen Geschichte, obwohl die ganze Legenden über ihn längst von den Histo­ri­kern widerlegt wurden. Das sind Erfin­dungen der katho­li­schen Propa­ganda. Er war ein sehr guter Feldherr – mit achtzehn Jahren errang er zwei der bedeu­tendsten Siege des Bürger­kriegs. Er führte das Essen mit Gabeln bei Hofe ein – das störte natürlich die ganzen Idioten. Man sagte ihm nach, er sei homo­se­xuell, weil er sich mehr als einmal pro Woche gewaschen hat. Und als König studierte er Latein. Er war der einzige König der fran­zö­si­schen Geschichte, der jeden Abend mit seiner Frau zu Abend aß.

artechock: Als Regisseur kommen Sie immer wieder zur Geschichte zurück...

Tavernier: Ja, ich liebe histo­ri­sche Stoffe. Das eine Form, als Regisseur zu träumen. Ich liebe es Duelle zu drehen, Kostüme.

artechock: Ich hatte den Eindruck, Sie haben einen Großteil ihrer Bilder nach Vorbil­dern aus der Malerei gestaltet?

Tavernier: Nein, nein, der Eindruck täuscht. Das mache ich nie. Ein größerer Einfluss ist der Film noir. Und ich schmeichle mir, indem ich mir einbildet, dass ein paar meiner Bilder den Einstel­lungen eines klas­si­schen Western ähneln. Ich wollte die Land­schaft zu einem eigenen Charakter machen. Und ganz wichtig: Es gibt keine Spezi­al­ef­fekte, und keine Stunt­leute. Alles, was Sie sehen, haben die Schau­spieler selbst gedreht. Ein »biolo­gi­scher Film«.

artechock: Wie wählen Sie Ihre Projekte aus?

Tavernier: Ich lese viel. Histo­ri­sche Bücher, Romane, Dreh­bücher. Oder ich treffe jemanden durch Zufall. Einen meiner letzten Filme habe ich gedreht, weil ich zufällig einen Poli­zisten getroffen hatte, der mir eine tolle Geschichte erzählte.

artechock: Können Sie Kriterien nennen?

Tavernier: Nein, tut mir leid. Ich weiß immer erst am Ende eines Films, warum ich ihn gemacht habe. Es geht mir wie dem Maler Soulages, der gesagt hat: Erst wenn ich es gefunden habe, weiß ich, wonach ich gesucht habe. Auf die meisten Filme komme ich, weil ich etwas lernen wollte: Über eine Arbeit, eine Situation, einen histo­ri­schen Moment. Und weil ich mehr darüber wissen wollte. Es macht mir großes Vergnügen, etwas zu entdecken, zu erkunden, meine Neugier zu stillen.

artechock: Kennen Sie den deutschen Dichter Heinrich von Kleist?

Tavernier: Selbst­ver­s­tänd­lich! Ich kenne das „Käthchen von Heilbronn“ und die „Marquise von O.“ Hat nicht Volker Schlön­dorff Kleist verfilmt?

artechock: Ja, den „Michael Kohlhaas“...

Tavernier: Genau! Den habe ich mal gesehen, aber das ist leider sehr lange her. Der Film ist nicht zu finden.

artechock: Kleist, dessen 200. Todestag sich bald jährt, schrieb über die »allmäh­liche Verfer­ti­gung der Gedanken beim Reden«: Wenn man etwas erfahren will, muss man dem Gegenüber davon erzählen. Klingt paradox, ist aber das, was Sie beschreiben...

Tavernier: Ja genau das. Absolut! So arbeite ich. Eines Tages kann ich einen Lehrer treffen und muss seine Geschichte erzählen. Und dann erschließe ich mir den Kontext. Das war Ça commence aujourd'hui.

Also: Wenn Sie nicht gerade drehen, dann lesen Sie viel?

Tavernier: Ich lese viel, ich sehe mir Filme an, Thea­ter­s­tücke, höre Musik. Die einzige Zeit, in der sich zu nichts komme, sind Film­fes­ti­vals...

artechock: Kostüm­filme erscheinen vielen Leuten schwierig. Warum?

Tavernier: Ich denke die Leute glauben, sie sind schwierig. Ignoranz ist weit verbreitet. Wir leben in einer Welt, in der die Diktatur der Gegenwart herrscht. Und die Leute unter­werfen sich dieser Gegenwart. Aber das ist Unsinn. Seit meinem zweiten Film erklärt man mir: Keiner will Kostüm­filme sehen. Ich habe viele gemacht, und sie waren sehr erfolg­reich.