Großbritannien/USA 2019 · 119 min. · FSK: ab 12 Regie: Sam Mendes Drehbuch: Sam Mendes, Krysty Wilson-Cairns Kamera: Roger Deakins Darsteller: George MacKay, Dean-Charles Chapman, Mark Strong, Andrew Scott, Richard Madden u.a. |
||
Zerplatzendes Amalgam des Grauens (Foto: Universal) |
»In Flanders fields the poppies blow
Between the crosses, row on row,
That mark our place; and in the sky
The larks, still bravely singing, fly
Scarce heard amid the guns below.
...« – In Flanders Fields, John McCrae
Bis ich mit meinem englischen Freund Simon 2014 die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs in Ypern besuchte, hatte ich nicht einmal eine Ahnung davon, was der 1. Weltkrieg für den Commonwealth bedeutet, die Sieger von damals. Wie Besucher aller Generationen aus allen Teilen des Commonwealth – vor allem jeden Frühling und Sommer – rote Mohnblumen-Imitate auf die Gräber ihrer Vorfahren legen, wie Schülergruppen aus allen Teilen Englands der Gefallenen ihrer Schulen gedenken, an den Irrsinn eines der schlimmsten Kriege erinnern und an den Gräbern die Gedichte der großen Poeten dieser Jahre rezitieren. Eine Erinnerungskultur, die Deutschland wohl guttäte, die aber wohl allein deshalb schon nicht etabliert werden konnte, weil sie die Verlierer (und Verursacher) gleich doppelt und dreifach schmerzt und hinterfragt.
In diesem Kontext ist auch die unermüdliche filmische Auswertung und Aufarbeitung dieser Zeit zu verstehen, die sich bis in die jüngsten Jahre nicht nur der so weit entfernten Historie der ANZAC-Truppen (Australian and New Zealand Army Corps) wie etwa in Peter Weirs Gallipoli (1981) oder Russell Crowes Das Versprechen eines Lebens annahm, sondern auch die Lebenslinie von Menschen und Autoren erklärt, wie etwa der erst letztes Jahr erschienene Tolkien, der deutlich machte, dass Tolkiens Werk ohne seine Traumatisierung im 1. Weltkrieg eigentlich nicht denkbar ist.
Auch Sam Mendes' Kriegsfilm 1917 ist ohne diese beeindruckende Erinnerungskultur und die Traumatisierungen der eigenen Familie nicht denkbar. Mendes verweist in einem Interview mit der britischen »Times« auf seinen Großvater Alfred, einen Veteranen des 1. Weltkriegs, der ihm als Kind Geschichten aus der Zeit des Krieges erzählt habe, eine davon sei im Kern auch jene, die er nun filmisch erweitert wiedergebe: »It’s the story of a messenger who has a message to carry. And that’s all I can say. It lodged with me as a child, this story or this fragment, and obviously I’ve enlarged it significantly. But it has that at its core.«
Mendes erweitert die Geschichte seines Großvaters um einen zweiten Boten, der mit dem ersten ausgeschickt wird, eine Nachricht zu überbringen, die eine britische Einheit vor einem Hinterhalt der Deutschen warnen soll. Mendes versucht dem Wahnsinn dieser so lebensmüden wie überlebenswilligen und pflichtschuldigen Querung der feindlichen Linien vor allem durch lange Einstellungen gerecht zu werden. 1917 geht dabei zwar nicht den Weg wie Sebastian Schipper in Victoria mit seiner einzigen Kameraeinstellung, doch Mendes erzeugt zumindest die Illusion davon. Immer bei ähnlich bewölktem Wetter gedreht und nur von einer zeitlich unklaren Bewusstseinsverlust-Szene unterbrochen, verschmelzen erzählte und erlebte Zeit zu einem zerplatzenden Amalgam des Grau(-ens), das durch die überragende Kamera von Roger Deakins und das so eindringliche wie zurückgenommene Score von Thomas Newman noch einmal unterstrichen wird.
Doch trotz der schauspielerischen dichten Leistungen von George MacKay als Lance Corporal William Schofield und Dean-Charles Chapman als Lance Corporal Tom Blake und Special Effects, die die Grenzen zwischen Realität und Fiktion einmal mehr verwischen, fehlt 1917 eine gleichwertige emotionale Dichte, die ein Film wie Mel Gibsons Hacksaw Ridge, der ähnlich zermürbend einem fast hoffnungslosen Unternehmen im Herzen der Front nachspürt, durchaus erzeugt. Das mag daran liegen, dass Mendes, der mit Jarhead (2005), dem Porträt eines einfachen Marines im ersten Golfkrieg, durchaus schon ähnliche Kriegserfahrungen »gesammelt« hat, auch hier die (filmästhetische) Struktur und abstruse Absurdität von Kriegshandlungen mehr noch als die persönliche Geschichte in den Vordergrund stellt. So erfahren wir von den eigentlichen Protagonisten trotz der etwas mehr als 110 Minuten Filmlänge im Grunde sehr wenig. Stattdessen sehen wir Lance und Dean durch mal unversehrte und dann wieder versehrte Landschaften oder Ruinenfelder laufen, hören spärliche Dialoge, folgen sinnentleert und gebannt den physikalisch konsequenten Abläufen von aufeinanderfallenden Dominosteinen, mit der leisen Hoffnung, dass der Mensch sich doch bitte endlich einmal diesen Prozessen entziehen möge.
Nur am Ende, als Mendes eine Gruppe singender und betender Soldaten in einem Waldstück zeigt, die kurz davor stehen, ihren suizidalen Angriff auf die Deutschen zu starten, gelingt Mendes genau das, was dem Film über weite Strecken fehlt – die wunde, so irre wie schöne Seele des Wahnsinns Krieg bloßzulegen.
Ein One-Shot-Movie – warum ist das eigentlich wirklich interessant? Erst recht nach Timecode? Nach Birdman? Victoria? Eine athletische Leistung, ok. Aber wenn 1917 wirklich überzeugen kann, dann doch hoffentlich durch das, was der Film sonst tut.
+ + +
Viele Vorschusslorbeeren vorweg: »Bester Film« und »Beste Regie« bei den Golden Globes, acht Nominierungen für den »British Film Awards« und nun diese Woche gleich zehn Oscar-Nominierungen. Echt jetzt?
Nun kommt 1917 ins Kino. Da schauen wir aber mal ganz genau hin.
+ + +
Es sind ruhige Bilder, mit denen dieser unruhige Film beginnt: Auf einer Wiese, im Sonnenschein, der friedliche Frühlingsstimmung suggeriert. Zwei Soldaten in britischen Uniformen ruhen sich aus, der eine sitzt an einen Baum gelehnt. Dann erreicht sie ein Befehl und bald bleibt vom Frieden des Augenblicks nichts übrig.
Die Kameraperspektive weitet sich und erlaubt einen ersten Blick auf eine zerfurchte Grabenlandschaft, die die Handlung schnell im Stellungskrieg der
Westfront des Ersten Weltkriegs lokalisiert. Ein Blick auf Massen menschlicher Kämpfer, auf den Krieg als maschinengleichen Betrieb, in dem der Einzelne nur ein kleines Rädchen ist; wenn überhaupt, denn das Laufen der Maschine hängt hier von keinem dieser Rädchen ab. So ist die Metapher eines Termitenhaufens wohl die treffendere, mit seinem chaotischen Gewimmel, dem doch eine geheime Ordnung und strenge Steuerung zugrundeliegen. In ein solches Steuerungsorgan, einen
Befehlsstand, werden die zwei befohlen.
Sie sind Unteroffiziere, von denen wir nur die Nachnamen erfahren: Schofield (George Mackay) und Blake (Dean Charles Chapman). Ein General erklärt ihnen, dass sie gemeinsam als Melder auf eine hochgefährliche Mission geschickt werden; »freiwillig«, aber wer könnte diesen Befehl schon verweigern? Durch das Niemandsland sollen sie sich auf dem direkten Weg zu einer vorgeschobenen Stellung durchschlagen. Den dortigen Einheiten muss ein Befehl
übermittelt werden, der einen geplanten Einsatz untersagt, der diese in eine tödliche Falle führen würde. »Wenn ihr scheitert, wird es ein Massaker«, fürchtet der General. Weniger in dem, was der von Colin Firth gespielte Kommandeur sagt, als wie und in welchem Tonfall, scheint erstmals ein Motiv hervor, das im Film noch mehrfach auftaucht, wie es in britischen Kriegsfilmen überhaupt immer wieder eine wichtige Rolle spielt, etwa in Joseph Loseys King & Country (1964): Das des Klassenkonflikts, der die Offizierskaste und die »stiff lip« ihrer Oberklassenherkunft von den einfachen Soldaten mit ihrem »Cockney«-Englisch grundsätzlich trennt – und damit verbunden die unterschwellige Behauptung, dass die Truppen die Launen und Fehler, oder einfach den Starrsinn und andere
Charakterschwächen ihrer Vorgesetzten blutig ausbaden müssen. Denn warum die Nachricht nicht eigentlich anders zu übermitteln wäre, per Funk, Flieger oder Brieftauben, oder auf längerem Weg, aber mit deutlich schnelleren Fahrzeugen – diese naheliegenden Rückfragen werden hier nie zum Thema.
+ + +
Die Aufgabe für Schofield und Blake ist gesetzt. Und damit auch der bis zu einem gewissen Grad künstliche Plot dieses Films und seine technischen Herausforderungen. Denn der britische Regisseur Sam Mendes hat sich entschieden, seine Geschichte als »One-Shot-Movie«, also in einer einzigen Einstellung und der subjektiven Perspektive der beiden Hauptfiguren zu erzählen. Das hat zunächst den Vorzug, dass die Handlung enorm spannend ist und von immer neuen aus dem Nichts kommenden
Überraschungen und Wendungen geprägt. Auf ihrem Weg und im Wettlauf gegen die Zeit müssen die zwei nicht nur immer wieder Stacheldraht und verlassene Schützengräben überwinden, Leichenberge und riesige Granattrichter, Minenfelder und Sprengfallen; sie sind dabei auch ständig von Scharfschützen des Feindes bedroht, ebenso möglichen Fliegerangriffen, versprengten Truppenteilen und einzelnen Gegnern ausgesetzt.
Es bewirkt auch, dass sich das Publikum ganz auf die Erfahrung der
Hauptfiguren einlassen kann, ihren Stress und die ständigen Bedrohungen, die immer neuen Schockerlebnisse und den Taumel des Augenblicks intensiv spüren und bis zu einen gewissen Grad empfinden kann – bis zu einem gewissen Grad, denn die Todesgefahr selbst wird auch derjenige kaum adäquat spüren, der über ein Übermaß an Sensibilität verfügt.
+ + +
Ähnlich wie in Filmen wie Das Boot oder The Thin Red Line wird der Krieg hier zu einer ästhetischen Erfahrung, in der Körperliches, lose, unverbundene Eindrücke und sinnliche Gewissheiten im Zentrum stehen, nicht »das große Ganze«, nicht Moral und Sinnfragen.
Zugleich aber hat das
formale Verfahren paradoxe Folgen für das innerliche Involviertsein des Zuschauers. In die direkte Sinnlichkeit mischt sich eine ebenso grundsätzliche Distanz. Zwar wird, wer nicht weiß, worauf er sich hier einlässt, es erst allmählich merken, dass der Film scheinbar ohne Schnitt gedreht und in der Einheit aus Zeit und Raum erzählt ist. Wer es weiß, und das werden die meisten sein, dessen Blick ist von Anfang an ein doppelter: Gerichtet zum einen darauf, was dieser Film zeigt. Noch viel
mehr aber darauf, wie er das tut. Denn tatsächlich wirft bei aller Eleganz und fast unmerklichen Geschmeidigkeit der Kamera die Perfektion der Choreographie immer wieder schon im Moment der Betrachtung die Frage auf, wie denn nun diese oder jene Szene in der Praxis gemacht wurde, und wo die Live-Inszenierung durch digitale Effekte ergänzt wird. Damit ist der Betrachter beteiligt und herausgerissen zugleich, und sein Blick immer wieder auf Phänomene »zweiter Ordnung« gerichtet.
+ + +
Es ist das Hauptproblem von 1917, wie ihn seine Form dominiert. Das Prinzip einer einzigen Kamera-Einstellung wird im Übrigen nicht komplett durchgehalten. Zwar gibt es keine erkennbaren Schnitte, doch sehr wohl einige »Sollbruchstellen« wie Explosionen, wie Reissschwenks und Schwarzblenden. Zudem bricht Mendes den in der ersten Filmhälfte sehr konsequenten Naturalismus der Chronologie im zweiten Teil mehrfach, indem er die Nacht in Sekunden zum hellen Tag werden lässt, oder ein offenkundig kilometerweiter Weg in Minutenlänge zurückgelegt wird.
Das muss man dem Film nicht vorhalten – im Gegenteil ist solche Verdichtung eine richtige Entscheidung. Denn je länger die Handlung dauert, um so mehr wird aus dem Drama ein Parcours, an dem die Hauptfiguren immer neue Stationen erreichen, und Situationen bewältigen, um so ihrem Ziel Schritt für Schritt näher zu kommen. Würde es nicht verdichtet, müsste diese Redundanz ermüden. Mitunter ähnelt 1917 darin dramaturgisch trotzdem einem Computerspiel. Dann wieder öffnet sich der Film in expressiven, betont künstlich wirkenden Szenen hin zum Poetischen.
+ + +
Dies ist bereits seit Hitchcocks Rope keineswegs der erste »one-shot-movie« der Filmgeschichte. Man erinnert sich an Figgis' ambitionierten Timecode (mit vier parallelen Handlungssträngen), Sokurows Russian Ark, an Schippers Victoria oder an González Iñárritus Birdman. In diesem Fall allerdings wird der visuelle Bewsstseinsstrom auf ein Massengeschehen und auf den Krieg übertragen.
Als Spielfilm über den Ersten Weltkrieg ist
dieser Film ein Solitär. Seine Haltung zum Krieg ist von den bekannten Mustern gleich weit entfernt: Nicht »Stahlgewitter«, nicht Verklärung des Kriegs zur inneren Erlebnissteigerung, aber auch nicht »Im Westen nichts Neues«-Pazifismus findet sich hier. Mendes zeigt das Grauen des Krieges, zeigt ekelerregende Erlebnisse wie den Griff in die offene Wunde eines Toten, Tiere, die an Leichen knabbern. Er zeigt aber auch den Sinn, der in einzelnen Kriegshandlungen liegen kann, der sich
situativ ergibt: Im Töten eines Feindes, um nicht selbst getötet zu werden, im Riskieren des Lebens, um andere Menschen zu retten.
Das simple Klischee, nach dem jeder Krieg sinnlos sei, wird daher so wenig bemüht, wie patriotische Narrative. Vorstellungen von »Heldentum« können sich einstellen, wenn man die Entscheidung von Schofield und Blake heldenhaft nennen will, sich selbst potentiell zu opfern, um das Leben von 1600 anderen zu retten. Zweifellos ist es auch heroisch, wie die beiden hier in bestimmten konkreten Situationen handeln, zugleich zeigt diese der Film nie moralisch überhöht, eher als Selbstverständlichkeit oder als Ergebnis eines geradezu animalischen Überlebensinstinkts. Am ehesten kommt einem noch Kubricks Paths of Glory in den Sinn, der sich auch auf die Erfahrungen einer Figur konzentriert, allerdings weitaus stärker ein moralisches Drama entfaltet.
+ + +
Trotzdem ist 1917 weniger ein Film über den Krieg an sich, seine Erfahrungen und seine Bewertung, als ein existentielles Drama über Menschen in Todesgefahr, über Menschen, die in eine Situation hineingeworfen sind, die sie nicht gewählt haben, in der sie sich aber bewähren müssen, und in der jede Entscheidung genauso wie ihr praktisches Können und die Wachheit ihrer Instinkte und Reaktionsfähigkeit zu einer Frage des persönlichen Überlebens wie der Ethik werden. Hier wird das Historiendrama zu einem aktuellen Film mit universaler Dimension. 1917 ist weit mehr als eine respektheischende Leistung von erstaunlicher technischer Athletik. Es ist ein humanistischer Film über unmittelbare Humanität – darin zumindest ähnelt er Meisterwerken wie The Thin Red Line und Paths of Glory.