USA 2003 · 125 min. · FSK: ab 12 Regie: Alejandro González Iñárritu Drehbuch: Guillermo Arriaga Kamera: Rodrigo Prieto Darsteller: Sean Penn, Naomi Watts, Benicio Del Toro, Charlotte Gainsbourg, Melissa Leo u.a. |
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Wieviel wiegt das Leben? |
Das erste Bild weist schon auf das Ende hin. Im Morgenlicht sitzt Paul auf dem Bett, beobachtet die schlafende Cristina, mit der er die Nacht verbracht hat. Beide sind nackt, entblößt, ihrer Kleidung und jeglichen Schutzes beraubt. Menschen aus Glas, durch die wir hindurchsehen können. Menschen, deren Innerlichkeit herausbricht, deren Vergangenheit sie zum Implodieren bringt. Verstrickt in Schuld und Sühne. Später sehen wir Cristina, wie sie ihrerseits den schlafenden Paul beobachtet. Das Bild ist reiner Ausdruck. Innerer Monolog ohne Worte. Zusammen bewohnt das frisch verliebte Paar ein schäbiges Motelzimmer. Aber es gibt kein gemeinsames Erwachen, (noch) keine Geschichte, keine geflüsterten Worte um sich der Liebe des Anderen zu versichern. Paul und Cristina warten auf den richtigen Moment, um den Mann zu töten, der durch eine Unachtsamkeit den unentrinnbaren Kreislauf aus Trauer und Wut in Gang gesetzt hat.
Die Story von 21 Grams klingt zunächst wie die Sentimentalitäten eines Movie der Woche auf einem Privatkanal. Ein Autounfall verkleistert drei Menschen in einem klaustrophobischen Kosmos aus Schuld und erhoffter Vergebung. Jack überfährt den Mann und die zwei Töchter von Cristina. Eine Organspende später schlägt dessen Herz in Pauls Brust. Sein Leben ist nun, da ein anderer sterben musste, gerettet. Aber er kann nicht vergessen, so wenig wie Jack seine Tat und Cristina ihre Familie vergessen können. Mithilfe eines Privatdetektivs findet Paul die Frau seines Spenders und als Wiedergänger ihres Mannes verliebt er sich in sie. Auf das Drängen Cristinas hin beschließen die beiden den Mörder zu finden und sich an ihm zu rächen.
Inarritu nimmt das Motiv des Unfalls wieder auf und setzt die Suche, die er mit Amores perros begonnen hat, fort. Sein Ziel ist der Mensch und das ist vielleicht das faszinierendste an 21 Grams. Der Film will nicht unterhalten, kein ästhetisches Spiel sein. Zwischen den Bildern findet man den Anspruch tatsächlich etwas zu sagen, etwas Grundlegendes. Über die Figuren und deren Existenz. Inarritu wirkt in seinem Anspruch wie ein Dinosaurier (dabei ist er gerade 40 Jahre alt und 21 Grams ist tatsächlich erst sein zweiter Langfilm) nach all den Sequels des letzten Jahres, die den Weg verkürzen, sich immer wieder auf kinematographische Codes berufen. Wo sich die Aussage in einem Superzeichen verliert. Inarritu erforscht die Mikrokosmen der Gesten, der Emotionen. Er zeigt Menschen, die Angst haben, genau wie andere Filme auch. Aber er geht viel weiter. Geht über zu der Frage »Wie sieht das genau aus, wenn ein Mensch Angst hat?«. Und zeigt uns dann alle Facetten und Varianten dieses Gefühls. 21 Grams gibt uns keine Antworten. Keine Kategorie von Gut und Böse. Der Schuldige hat selbst schon am meisten gebüßt. Cristina, Paul, Jack können sich keinen Millimeter aus ihrer Erinnerung befreien und reißen alles, was sie umgibt, mit in ihre Abgründe. In einer Szene sehen wir Cristina, wie sie immer wieder den letzten Anruf ihres Mannes, kurz vor dem Unfall, auf ihrer Mailbox abhört. Die Protagonisten verlieren sich in einer Geisterwelt, wo die Stimmen der Toten nicht zum Schweigen zu bringen sind. Sie kämpfen mit aller Macht die aussichtslose Schlacht gegen die Unausweichlichkeit des Todes. Verweigern sich, begehren auf gegen Gott. Dort wo der Movie der Woche aufhört, beginnt Inarritus Reise erst.
Die Intensität, mit der 21 Grams den Leidensweg seiner Protagonisten beschreibt lässt sich noch am ehesten mit dem tiefen Fall der Figuren in Darren Aronofskys Requiem For A Dream vergleichen. Die beiden Filme treffen sich im Ausmaß der gezeigten und erzeugten Emotion und verwenden doch völlig verschiedene Mittel auf dem Weg dorthin. Aronofskys Reichtum besteht in seiner filmischen Eloquenz, er nutzt die ganze Bandbreite technisch-formaler Möglichkeiten, die das Kino ihm bietet und erzeugt so den Affekt aus dem Artifiziellen, der Verdichtung des Hör- und Sichtbaren. Inarritus Arbeit wirkt dagegen wie die eines Asketen. 21 Grams ist komplett aus der Hand geschossen, was den Bildraum beweglich macht, den Schauspielern die größtmögliche Freiheit gibt und die Zerbrechlichkeit, die Unsicherheit der Figuren ergänzt, deren Zusammenbruch immer nur einen Moment entfernt zu sein scheint. Dennoch agiert die Kamera strukturiert, intentional, Aufregung wird nie durch möglichst heftiges Gewackel evoziert. Der Kader verlässt ein Gesicht und der folgende Reißschwenk landet nicht im Nirgendwo, ist nicht Bewegung um ihrer selbst willen, sondern findet das Gesicht gegenüber, den reaction-shot. Musik wird spärlich eingesetzt und muss uns die Gefühle nicht zusätzlich simulieren. Die Emotion entsteht aus dem Spiel der Figuren (Aronofsky multipliziert die Darstellung seiner Schauspieler viel stärker durch die zusätzlichen Ebenen Farbe, Musik, Kamerabewegung etc.) und die Wucht der Konfrontationen, die jede einzelne Szene für sie bereithält. Inarritus Kino trifft sich hier mit dem von John Cassavetes. Der plot entwickelt sich aus den Charakteren heraus, aus ihren Bedürfnissen, Obsessionen und Ängsten. Und läuft so dem Zustand der »Wahrhaftigkeit« entgegen, wie es Cassavetes benannt hat. Das Ensemble ist, die Nebendarsteller eingeschlossen, herausragend (Naomi Watts und Benicio del Toro sind für den Oscar nominiert, Sean Penn hat seine Nominierung für Mystic River insofern nicht verdient als er sie für 21 Grams hätte bekommen müssen).
Die Erzählung ist bruchstückhaft. Springt in der Zeit vor und zurück und gibt dem Zuschauer so immer mehr Stoff für Hypothesen, als in den aktuellen Bildern eigentlich angelegt ist. Die Emotionen werden intensiver, weil sie auf den ersten Blick nicht kausal angelegt sind. Zunächst keinen Grund, keinen Ursprung haben. Sie bevölkern von Anfang an mit aller Kraft den fiktiven Raum, aber ihre Ursachen komplementieren sich erst mit dem Ende der Geschichte. Als Cristina mit ihrer Schwester im Schwimmbad ist, das Becken verlässt und hinausgeht, dreht sie sich noch einmal um und lacht. Den Grund für dieses Lachen zeigt uns der Film erst eine Stunde später. Und dennoch zerfällt die Geschichte nicht. Im Gegenteil. Die Montage stützt den inneren Zustand der Charaktere, für die der Unfall und das Elend zu allen Zeiten präsent sind. Der Affekt wird mit dem ersten Bild etabliert. Paul, der die schlafende Cristina beobachtet. Die Emotion breitet sich aus, infiziert jedes andere Bild mit seiner unendlichen Melancholie. Alles ist immer schon vorhanden.
Der Wert, den man dem Leben beimisst, ergibt sich auch aus dem Sinn, den es für einen hat. Das gilt für das eigene Leben, aber auch für das der anderen, denn Menschen hängen von einander ab. Und kleine Unachtsamkeiten können große Folgen haben, die über den Kreis der eigenen Angehörigen weit hinaus wirken.
So wie bei dem Autounfall, der das Leben dreier Menschen und ihrer Familien verändert: Da ist zum einen der todkranke Mathematik-Dozent Paul (Sean Penn), der auf ein Spenderherz wartet und dessen Frau Mary sich sehnlichst ein Kind von ihm wünscht. Da ist Cristina (Naomi Watts), die nach ihrer Drogenabhängigkeit Halt gefunden hat bei ihrem Mann Michael und den beiden kleinen Töchtern. Und da ist der Ex-Häftling Jack (Benicio del Toro), der nun im Glauben den rechten Weg gefunden zu haben meint und nicht merkt, dass er seine Familie durch seinen Fanatismus bedrückt. Alle drei sehen sich plötzlich vor den Scherben ihres bisherigen Lebens und müssen neu beginnen, den richtigen Weg für sich zu finden.
Auch das Publikum steht vor einem wirren Haufen Scherben. Doch obwohl die Geschichte zu Anfang recht verwirrend istwie Puzzle-Teilchen sind die Szenen um Cristina, Jack und Paul ohne zeitliche Ordnung durcheinander geworfenvermag sie einen nach spätestens einer Viertelstunde regelrecht zu absorbieren. Der Regisseur Alejandro Gonzáles Iñárritu, der mit Amores perros bereits seinen Mut zu ungewöhnlichem Erzählen bewiesen hat, fordert seine Zuschauer: Dies ist kein Film, bei dem man sich bequem zurücklehnen kann, während die Handlung sauber sortiert über einen hinweg rollt.
Natürlich hätte man auch, ganz nach Schema F, erst den Schluss (ein angeschossener Mann, eine panische Frau, ein ebenfalls verletzter Helfer) zeigen können, dann in einer ordentlich chronologischen Rückblende erzählen, wie es dazu kommen konnte – um dann nach der Wiederholung der Eingangsszene noch einen letzten Handlungsumschwung einzuführen. Der Geschichte hätte das möglicherweise nicht mal geschadet, und den Zuschauern das Sehen erleichtert. Aber der Preis wäre hoch gewesen: Der Ehrgeiz, dieses Verwirrspiel aufzulösen, involviert und steigert die Spannung. Die eigene Orientierungslosigkeit ist die ideale Ausgangslage zur Einfühlung, und mehr noch als die Geschichte interessieren die Gefühle der Protagonisten. Die Charaktere sind komplex genug, dieses schrittweise Erkennen zu tragen.
Die Besetzung von Iñárritus Film ist wirklich meisterhaft gewählt: Sean Penn überzeugt als zahlenmystisch angehauchter Suchender ebenso wie Benicio del Toro (Traffic) als von Rückschlägen heimgesuchter, geläuterter Kleinkrimineller. Aber am eindringlichsten bleibt Naomi Watts, die bereits mit ihrer Hauptrolle in David Lynchs Mulholland Drive auffiel und in The Ring und Eine Affäre in Paris auftritt. Vor allem das enorme emotionale Spektrum fasziniert, mit dem sie ihre Rolle bis ins kleinste auszuloten vermag. Auch bei der Wahl der Nebendarsteller bewies der Regisseur Geschick: Melissa Leo und Charlotte Gainsbourg spielen differenziert und eindringlich die Ehefrauen von Jack und Paul mit ihren sehr unterschiedlichen Vorstellungen vom eigenen Leben.
Der Versuch, einen lateinamerikanischen Film in den USA zu drehen und erfolgreich in die Kinos zu bringen, ist Alejandro Gonzáles Iñárritu mit seinem Team aus Amores perros gelungen: neben dem Autor Guillermo Arriaga ist auch der Kameramann Rodrigo Prieto wieder dabei, der in der Zwischenzeit an Frida, 25th Hour und Oliver Stones Fidel-Castro-Interview Comandante mitgewirkt hat. Die körnigen Bilder seiner Handkamera, die zwischen begleitendem Schauen und aktivem Erzählen wechseln, ermöglichen eine seltsame Mischung aus Nähe und Distanz zu den Figuren, unterstützt von der eindringlichen Gestaltung des akustischen Raums. Ruhiger erzählt als der hektische Amores perros, erschließt 21 Gramm seine melodramatische Geschichte nach und nach und hält die sich langsam aufbauende Spannung bis zum Schluss, ohne jemals seine Figuren preiszugeben.