Frankreich/D/B 2014 · 104 min. · FSK: ab 6 Regie: Benoît Jacquot Drehbuch: Julien Boivent, Benoît Jacquot Kamera: Julien Hirsch Darsteller: Benoît Poelvoorde, Charlotte Gainsbourg, Chiara Mastroianni, Catherine Deneuve, André Macon u.a. |
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Packendes Gefühlskino |
Zwei Schwestern in der Provinz, sie heißen Sylvie und Sophie, sie sind grundverschieden. Sylvie, gespielt von der irrlichternden Charlotte Gainsbourg, einer Darstellerin, der man alles zutraut; jeden Abgrund, jede Leidenschaft, Sylvie ist stark und spröde. Die jüngere Sophie, ist sanft, verletzlich. Ihre Darstellerin ist Chiara Mastroianni, die immer wieder tief und rätselhaft erscheint, wie ein dunkler Bergsee, und Mastroiannis Mutter im richtigen Leben, Catherine Deneuve,
spielt in diesem Film die Mutter der beiden. »Ihr zwei wart noch nie voneinander getrennt« sagt einer der Boyfriends der Töchter bei Tisch – »Wir drei.« antwortet Deneuves Figur bestimmt, »Mais c'est la vie«. »Mais c'est la vie« – diesen Satz könnte man über alles Weitere stellen.
Ein Matriarchat, die Männer wirken wie Eindringlinge, Randfiguren, Störenfriede – 3 Herzen von Benoit Jacquot ist, mit anderen Worten schon einmal ein Fest
seiner Schauspieler, vor allem der Schauspielerinnen. Jacquot ist seit jeher ein Frauenregisseur, ein Filmemacher, der immer wieder mit den gleichen Darstellerinnen arbeitet – und sie offenbar auch gern mit ihm: Isabelle Huppert, Isild LeBesco, Virginie Ledoyen und jetzt Deneuve, Mastroianni, Gainsbourg.
3 Herzen ist aber auch Kino der großen Gefühle, für das der Begriff »Melodram« zu schwach und abgenutzt scheint: Kino als Schicksalsmaschine, als ein Kraftwerk der Gefühle.
Eine Zigarette, eine Bar – Jacquot versetzt uns in die südfranzösische Provinz, nach Valence. Ein Mann aus Paris hat seinen Zug verpasst. Völlig erschöpft und aufgewühlt geht er in das Bistro gegenüber dem Bahnhof. Dort lernt er Sylvie kennen. Sie sind sich sympathisch, verstehen sich, lassen sich treiben, schlendern durch die menschenleeren Straßen der schlafenden Stadt bis zum Morgen, er heißt Marc, es ist sein Geburtstag. »Bonne aniversaire« – »Merci!« Dann bringt sie ihn zum Zug. »I want to got to the desert« – »Me too« antwortet er. Kein Kuss, kein Telefonnummerntausch, aber eine Verabredung, in Paris, Jardin des Tuileries, am nächsten Freitag.
Man ahnt da schon, ganz sachte zwischen den Bildern, wie es kommen muss, eine Schicksalsmaschine, wie gesagt.
Denn durch dumme Zufälle verpasst Marc den Termin, nur wir Zuschauer wissen, dass Sylvie lang gewartet hat, enttäuscht abreist und damit ändert sich beider Leben. Denn ein paar Tage später zieht Sylvie nach Amerika mit einem Mann, den sie nicht liebt.
Kurz darauf begegnet Marc, der immer zu spät kommt, Sophie, und wieder wissen nur wir, dass es sich um Sylvies Schwester handelt. Sie gehen durch die Stadt: »C'est calme« sagt er, sie: »C'est la provence.« Er küsst die Hand, ausgerechnet im Kino küssen sie sich auf den Mund. Sie verlieben sich, sind glücklich, sie erzählt, seit die Schwester weg sei: »Its like anything can happen.« Er antwortet »Imagining the worst is wise.« Was für ein weiser Satz angesichts dessen, was folgen wird. Erst
im Nachhinein sticht der Dialog ins Herz. Er gibt ihr Sicherheit, Sophie wird nicht mehr das Schlimmste befürchten und deswegen – vielleicht! – wird es eintreten.
Und noch ein ähnlicher Satz von ihr: »I have no choice«. Er: »We always have a choice.«
Hier setzt Jacquot erstmals den insgesanmt sehr sparsam auftretenden Erzähler ein. Der sagt: »Er ist glücklich, er lebt ein normales Leben.« Beide heiraten und da taucht natürlich die Schwester auf, und es geht erst richtig los.
Benoît Jacquot ist im französischen Gegenwartskino der Regisseur der Leidenschaften, des Begehrens, und des Wahnsinns im Alltag. Sein Kino ist faszinierend-unberechenbar, immer wieder geht es um die Notwendigkeit des Unerwarteten, um kleine, unscheinbare Augenblicke, in denen sich alles ändert. So ist auch sein neuer Film eine mitunter ironische, in jedem Fall aber kluge Reflexion über die dramaturgische Sprache des Liebesfilms. Jacquot versetzt seine Zuschauer in ein furioses, aufwühlendes Spiel aus Liebe und Zufall.
Dass sich ein Mann zufällig in zwei Schwestern verliebt, das muss man nicht für realistisch halten, kann es gekünstelt finden, aber – es ist eben Kunst: Sie wirft Fragen auf, fordert uns heraus, führt uns ins Land der Möglichkeiten. Und sie konfrontiert uns in diesem Fall mit einer mitreißenden Konstellation, in der es nicht um statistische Wahrscheinlichkeit geht, aber um emotionalen Realismus.
Und auf dieser Ebene funktioniert der Film hervorragend: Immer wieder wird herzschlaghafte, dräuend-drohende Musik eingesetzt, als Mittel der Überhöhung, der Distanzierung von der Realität – fast wie im Horrorfilm.
Die drei Herzen des Titels sind die der drei Liebenden, es ist vor allem aber das Herz von Marc, das krank ist, das immer wieder kurz aussetzt, das schnell in drei Teile zerbrechen kann, an dem Dilemma in dem er steckt.
Eine dumme Schicksalslaune, die zum Liebesverrat führt. Denn Marc verrät beide Schwestern. Was er tut, das geht nicht, es ist das Schlimmstmögliche. Man glaubt es auch nicht unbedingt, weil die Schwestern doch zu vertraut miteinander sind. Bei einer Steueruntersuchung sagt ein Klient zu Marc, der Steuerberamter ist: »Who doesn’t cheat?« Aber Marc verhält sih dumm, er macht viele Fehler und darum ist der Betrug noch verletzender.
3 Herzen ist einerseits ein sehr ernsthafter Film, der emotional, aber trotzdem realistisch und klug danach fragt, wo noch Platz ist für Leidenschaft, Geheimnis und Romantik in einer Zeit, in der das Leben durchmedialisiert ist, und soziale Netzwerke den Menschen alle Geheimnisse nehmen.
Zugleich ist dies in der Figur des vom belgischen Komiker Benoît Poelvoorde gespieltem, etwas spießigem Steuerbeamten Marc eine existenzielle Studie über die Vielfalt der Möglichkeiten und die Folgen verpasster Chancen im Leben.
Das letzte Bild zeigt Marc, wie er beim Pariser Termin Sylvie doch noch erreicht. Es hätte so schön sein können, sagt uns das. Aber er hätte auch schon früher einen Herzinfarkt bekommen können.
3 Herzen ist ein sehr französischer Film: Es wird viel gegessen, es wird viel geredet, es wird viel geliebt. Existentialistisch, hedonistisch und leidenschaftlich. Es ist aber auch packendes Gefühlskino, ein unglaublich guter allgemeingültiger Film über die universale Macht der Liebe, über das Verhältnis von Pragmatismus und Amour fou.