8mm – Acht Millimeter

8MM

USA 1999 · 123 min. · FSK: ab 18
Regie: Joel Schumacher
Drehbuch:
Kamera: Robert Elswit
Darsteller: Nicholas Cage, Joaquin Phoenix, James Gandolfini, Peter Stormare u.a.

Es ist eine ganz und gar ameri­ka­ni­sche Geschichte, in deren Mittel­punkt ein etwas windiger Privatschnüf­fler steht, der am Ende heraus­kommt irgendwo zwischen Mike Hammer und Lew Archer, zwischen I The Jury und dem rettenden Ritter in schim­mernder Rüstung, mit Blessuren versehen zwar, aber mit der Moral auf seiner Seite, der ganz persön­lich empfun­denen, zornigen Moral der Straße.

Wie wir diesem Tom Welles zum ersten Mal begegnen auf dem Flughafen von Miami, verraten die kleinen Gesten bereits viel über den Mann. Aus dem Flug­ha­fen­ge­bäude tritt er mit der Kippe im Mund­winkel, obwohl wir die Durchsage gehört haben, daß das Rauchen hier strengs­tens verboten ist. Kleine Regel­ver­s­töße, die in ihrer Gering­fügig­keit so viel schwerer ins Gewicht fallen als die großen, die spek­ta­ku­lären Vergehen. Tom Welles ist einer, der nicht so gerne die Verant­wor­tung übernimmt, seiner Frau gegenüber sich vehement als Nicht­rau­cher ausgibt, dann in sein Büro sich zurück­zieht und eine Zigarette ansteckt, dabei Raumspray versprühend. Einer, der die Spuren zu verwi­schen sucht und doch so leicht durch­schaubar ist, wo er die Kippe dann einfach im Aschen­be­cher liegen läßt.
Die Fälle, die er sich zur Bear­bei­tung aussucht, sollen ihn weiter­bringen auf der sozialen Karrie­re­leiter: So schnüf­felt er besonders den kleinen sexuellen Verstößen hinterher, die Ehepartner unter­ein­ander begehen. Ganz vertrau­lich ist er da bei der Sache, versteht sich, und die High Society schätzt diese diskreten Dienste ganz besonders.
Jetzt wird er wieder um Hilfe gebeten, von Mrs. Christian (ein telling name durchaus, und am Schluß wird sie als Märty­rerin dastehen, ganz biblisch sich opfern für die Sünden der anderen) deren Mann gerade verstorben ist und etwas hinter­lassen hat in seinem Safe, eine Rolle 8mm-Film.

Nun sind diese präch­tigen Anwesen der Reichen die eigent­li­chen Spuk­häuser, die old dark houses auf der ameri­ka­ni­schen Landkarte und wann immer die Mächtigen den Mann von der Straße herein­holen, der vertu­schen soll, was es zu vertu­schen gibt, offenbart sich der Morast, auf dem der ameri­ka­ni­sche Traum gebaut ist. Die Witwe tritt auf als weib­li­cher General Sternwood und Tom Welles ist ganz abgeklärt noch wie er sich jetzt ihre Sorgen und Nöte anhört, ganz business wie Philipp Marlowe in The Big Sleep. Dabei hat er längst jene Vorhölle betreten, jenes Dantesche Inferno: Wer hier eintritt, lasse alle Hoffnung fahren, das könnte als Motto stehen am Anfang seiner Reise, seiner Ermitt­lungen.

Um einen Film dreht sich alles, diesen 8mm-Zellu­loid­streifen, auf dem zu sehen ist, wie ein Mädchen vor laufender Kamera ermordert wird. Eine ganz spezielle Spielart der Porno­branche, snuff-film genannt. »The Camera never lies«, das ist hier ganz buchs­täb­lich verwirk­licht und was nun von Tom Welles verlangt wird ist, das Gegenteil zu beweisen.
Natürlich ist sie tot, dieses all-American-girl Mary-Anne Mathews mit ihren unschul­digen Träumen von Hollywood und weil alles in diesem Film den Blick freigibt auf die perver­tierte Unter­seite des American way of life, ist der, der dieses Mädchen umge­bracht hat so etwas wie die perso­ni­fi­zierte dunkle Unter­seite der Traum­fa­brik, der Film­in­dus­trie: Ihr Voll­stre­cker, The Machine genannt.

Die Topo­gra­phie, die Joel Schu­ma­cher entworfen hat für 8mm, gleicht einem faulig-dumpfen Disney­land, unter­ir­disch angelegt. Alles ist Höhle, ist Grotte hier, ist Grab, ist Nacht­seite. Das Herren­haus der Witwe Christian mit den holz­ge­tä­felten Wänden, den hohen Decken, unter denen die Schatten sich ballen. Das kleine Haus der Familie Welles auch, und wenn der Fami­li­en­vater im Vorgarten das tote Laub zusam­men­recht, bleibt der Himmel verhangen, grau in grau. Ein Mausoleum die Hallen der Exekutive, die nur mehr die Bilder der Vermißten archi­viert. Es gibt hier, anders als in A Time to Kill noch, den Schu­ma­cher vor wenigen Jahren drehte, kein Gesetz mehr als das eigene, keine Justiz mehr, das ein gewiefter Anwalt auf seine Seite bringen könnte, um damit dem moralisch Richtigen zu seinem Recht zu verhelfen.

Nur noch mean streets gibt es, die die private eyes durch­streifen, Sam Spade, Philip Marlowe einst, wie Tom Welles jetzt. In Cali­for­nien dann, wo die Traum­fa­brik ist, auch die für die tödlichen Träume, da sind die Straßen greller und die Hauswände bunt: Ein giftiges Gelb, Orange, Rot. Ungesunde Farben, die etwas Schwüles, Krank­haftes ausdampfen. Cali­for­nien ist dunkler als der Rest Amerikas.
Ein Land der unbe­grenzten Möglich­keiten, was die Befrie­di­gung der Phan­ta­sien angeht zumindest und gesteuert wird dann doch alles von der Ostküste aus, wo Dino Velvet, der Porno­pro­du­zent, die Fäden zieht. In seiner Selbstin­ze­nie­rung, dem roten Samt­mantel kommt er dabei daher wie ausge­borgt aus einer Edgar Allan Poe Verfil­mung von Roger Corman.
Joel Schu­ma­cher, der viel­leicht meist­ge­haßte Regisseur, den Hollywood derzeit aufzu­bieten hat, besitzt durchaus ein Talent, sich Stim­mungen und Bilder zusam­men­zu­klauben aus anderen Filmen, nicht nur den eigenen, und im Falle von 8mm steht diese Art der kine­ma­to­gra­phi­schen Leichen­fled­derei dem Sujet durchaus gut an. Ein Hauch Fincher liegt über dem Film, eine Erin­ne­rung an Seven, immerhin stammt 8mm aus der Feder desselben Dreh­buch­au­tors, Kevin Walker.

Eine Variation des Mottos, wie es Raymond Chandler einst ausgab als Losung für dieje­nigen, die noch etwas verändern wollen im gelobten Land Amerika: »Down these mean streets a man must go who is not himself mean...« Bösartig ist er nicht, dieser Tom Welles, eher etwas gleich­gültig zunächst. Das ist dann auch die große, aufre­gende Geschichte, die 8mm erzählt, diese plötzlich entdeckte Leiden­schaft des Tom Welles. Wie er sich verbeißt in den Fall Mary-Anne: Das ist die eigent­liche Liebes­ge­schichte, die große Obsession, wenn auch die eigene kleine Familie durchaus bleibt als sicherer Hafen. Wie Welles tagelang nach dem Bild einer Toten sucht in den riesigen Poli­zei­ar­chiven, wie er dann die Mutter des Mädchens aufsucht und dabei auch Mary-Annes Tagebuch mitgehen läßt, sich heimlich einweiht in die Träume einer Toten. Ein Amour fou, der ihn dann zuletzt zum Richter werden läßt. Bevor er aber auszieht, den Blutzoll zu fordern für die tote Geliebte, die geliebte Tote Mary-Anne, ruft er noch ihre Mutter an, Mrs. Matthews, die zurück­ge­blieben ist in ihrer düsteren, modrigen Wohnung, in der tristen ameri­ka­ni­schen Klein­stadt, aus der nur die Träume noch heraus­führen. »Tell me you loved her« fleht er sie an, hoch oben in den Hügeln Holly­woods: Ein Richter und Voll­stre­cker, der noch den Segen der Verlo­renen braucht, bevor er zuschlägt.

8mm ist eine Geschichte um die dunkelsten, die gefähr­lichsten, die aggres­sivsten unserer Phan­ta­sien, zu denen auch die von der Selbst­justiz gehört. Reak­ti­onär ist das natürlich nicht, wenn diese Vokabel auch das verbale Flam­men­schwert darstellt, mit dem viele Kritiker sich vorge­nommen haben, den Film zu richten. Ganz und gar cine­as­tisch ist 8mm. Denn das vor allem ist das Wesen des Kino als Mittel zum Sicht­bar­ma­chen des Unsicht­baren: diese magische Fähigkeit, unsere Phan­ta­sien abzu­bilden.

Joel Schu­ma­cher dreht Filme wie The Lost Boys und die letzten Batman-Streifen, die sich eher durch poppiges Äußeres als durch innere Werte auszeichnen. Andrew Kevin Walker hat mit seinem Drehbuch für Seven gezeigt, daß sich ein Blick auf die dunklen Seiten der mensch­li­chen Existenz künst­le­risch wie kommer­ziell lohnen kann. Und Nicolas Cage hat auf seinem Streifzug durch die Genres jeden Film aufge­wertet, in dem er den Schmer­zens­mann geben konnte. Wenn diese drei sich zusam­mentun, dann ist das Resultat 8mm – ein grell-düsterer Thriller von seltener Kompro­miß­lo­sig­keit, das Kuckucksei im dies­jäh­rigen Berlinale-Nest und ein Muster­bei­spiel für einen der erfreu­lichsten Trends im Hollywood der letzten Jahre.
Das Schweigen der Lämmer hat den Weg bereitet, Seven die Hoff­nungs­lo­sig­keit zum Prinzip erhoben. Fallen und Arlington Road sind die jüngsten Beweise, daß gute Filme nicht gut ausgehen müssen. Auch 8mm wagt es als Major-Produk­tion, dem Heile-Welt-Bedürfnis des Popcorn-Publikums den Blick in den Abgrund entge­gen­zu­setzen.

Privat­de­tektiv Tom Welles (Nicolas Cage) ist ein Schnüf­fler der S-Klasse, souverän, seriös und sehr diskret, mit einer Klientel aus höchsten Gesell­schafts­kreisen. Die greise Witwe eines Indus­trie­ma­gnaten zeigt ihm eine Rolle Schmal­film aus dem Nachlaß ihres Mannes – die Ermordung eines jungen Mädchens, gnadenlos auf Zelluloid gebannt. Nur geschmack­lose Special Effects oder einer jener sagen­um­wo­benen Snuff-Filme, deren angeb­liche Existenz zur »urban legend« geworden ist? Mrs. Christian will Gewißheit haben.
Die Suche nach den Ursprüngen des Films führt Welles zur Mutter des Mädchens, das seit Jahren vermißt wird. Wenn ihre Tochter tot wäre, fragt er, würde sie Gewißheit haben wollen? Sie will. Sie muß es wissen. Welles ist seit kurzem selbst Vater, er wird für diese Frau zum Mörder werden.
Die Spur führt nach Hollywood. Max Cali­fornia (Joaquin Phoenix), ein smarter Drauf­gänger, der beim Wichs­vor­lagen-Verkaufen Truman Capote liest, führt Welles in die Welt der Under­ground-Porno­gra­phie ein. Was es dort zu sehen gibt, hinter­läßt Spuren. »These things get in your head«, warnt Max, »and stay there.« Zu lange glaubt Welles, daß er im Dreck wühlen und dabei saubere Hände behalten kann. Der Tod des Mädchens wird bald Gewißheit, doch mit seiner Hart­nä­ckig­keit bringt er sich selbst, Max und sogar Frau und Kind in tödliche Gefahr.

Walkers Drehbuch zeigt eine brutale Gesell­schaft, in der ein naives Mädchen zum Schlacht­vieh wird, um die Schaulust einer zahlungs­kräf­tigen Kund­schaft zu befrie­digen. Schu­ma­cher macht daraus einen bild­ge­wal­tigen Trip, er versteht sich auf die Ästhe­ti­sie­rung des Häßlichen. Ein Hauch von Fäulnis liegt über Welles' beklem­mendem Abstieg in die Unterwelt.
Dieser Tom Welles hat große Vorbilder in der Film­ge­schichte: Wie einst Jake Gittes macht er Fotos von Ehebre­chern und übernimmt einen Auftrag, der zu dem wohl­gehü­teten Geheimnis eines reichen Mannes führt und bald außer Kontrolle gerät. Die zunehmend besessene Suche nach dem verlo­renen Mädchen, rastlos getrieben zwischen den Metro­polen der Ost- und Westküste, weist ihn als Urenkel eines Ethan Edwards aus. Und wie Travis Bickle wird ihm irgend­wann alles zuviel, und er schlägt zurück. Kritiker beklagen eine Propa­gie­rung der Selbst­justiz. Schu­ma­cher mußte sich das schon für Falling Down und A Time to Kill gefallen lassen, doch diesmal greift das Argument nicht. Welles ist kein strah­lender Held und kein eiskalter Engel, seine Motive sind archaisch: er muß seine Familie schützen, er muß Gerech­tig­keit walten lassen. Der Preis ist hoch, Welles endet als seeli­sches Wrack. »Save me«, mehr kann er seiner Frau nicht sagen, als er mit blut­be­fleckten Händen heimkehrt.

Die ersten Bilder: Ein Projektor wird ange­worfen. Der Licht­strahl durch­schneidet die Dunkel­heit. Wie so viele gute Filme, ist 8mm wunderbar selbst­re­flexiv. Junge Mädchen träumen vom großen Ruhm, gierige Produ­zenten geben dem Publikum, was es sehen will – die Sadoszene als verzerrtes Spie­gel­bild des Hollywood-Mythos. Realitäts­ver­lust inbe­griffen: Porno-Zar Dino Velvet, der »Jim Jarmush of S/M«, fängt sich einen Schuß in den Hals ein. »This is wrong«, beklagt er sich, als ob jemand sein Drehbuch umge­schrieben hätte. Im Zentrum von 8mm steht jedoch der Moment, in dem Tom Welles sich zum ersten Mal die tödliche Filmrolle ansieht. Der Mord flimmert lautlos über die Leinwand, das Rattern des Projek­tors füllt den dunklen Raum. Welles ist abge­stoßen und kann den Blick doch nicht abwenden. Man sieht ihn in der Ursi­tua­tion des Kino­gän­gers. Man sieht sich selbst. Und hat wieder mal ein Stück vom Wesen des Kinos begriffen.