Tschechien/D/SK 2011 · 84 min. Regie: Tomás Lunák Drehbuch: Jaromír Svejdík, Jaroslav Rudis Musik: Petr Kruzík Kamera: Baset Jan Strítezský Darsteller: Miroslav Krobot, Marie Ludvíková, Leos Noha, Karel Roden, Alois Svehlík u.a. |
||
Finstere Geschichtsaufarbeitung |
Der Film erzählt die Geschichte des einzelgängerischen Alois Nebel, der im Jahre1989 im abgelegenen Bílý Potok im ehemaligen Sudetenland als Bahnhofsvorsteher arbeitet. Davon, dass die realsozialistische Tschechoslowakei bereits ihrem Ende entgegen geht, bekommt Alois nur wenig mit. Das liegt zum einen daran, dass er in einem nur dünn besiedelten Grenzstreifen wohnt. Außerdem beschäftigt Alois, dessen einzige regelmäßige Gesellschaft seine Katze ist, mehr die Vergangenheit. So sammelt er zum Hobby alte Fahrpläne und murmelt gerne die verschiedenen Anfahrts- und Abfahrtszeiten vor sich hin, was eine sehr beruhigende Wirkung auf Alois ausübt. Diese kann er insbesondere dann gebrauchen, wenn in der waldreichen Gegend mal wieder dichter Nebel aufzieht. Im undurchdringlichen Dunst erscheinen Alois dann Fetzen aus der Zeit seiner Kindheit, die sich jedoch nicht zu einem stimmigen Gesamtbild fügen wollen. Eines Tages erleidet Alois dabei endgültig einen Nervenzusammenbruch und wird in ein finsteres Sanatorium eingeliefert, wo man die Patienten noch mit Elektroschocks behandelt. Dort trifft er »den Stummen« und diese Begegnung führt zu Alois' Entschluss, sich endgültig den Gespenstern aus seiner Vergangenheit zu stellen.
Alois Nebel steht inhaltlich in der Tradition von Animationsfilmen, die sich mit ernsthaften und schwierigen Themen auseinandersetzen und die sich deshalb vorrangig an ein erwachsenes Publikum richten. Ein früher Meilenstein solch eines reifen Animationsfilms war Mamoru Oshiis Science-Fiction-Film Ghost in the Shell aus dem Jahre 1995. Der Film kreist um Fragen des Bewusstseins und der menschlichen Existenz und zeigt dabei einen beeindruckenden philosophischen Tiefgang, den selbst die wenigsten vergleichbaren Realfilme erreichen. 2009 bewies Ari Folman mit seinem Film Waltz With Bashir über erschreckende Vorkommnisse während des libanesischen Bürgerkriegs, dass sich ein Animationsfilm auch zur Auseinandersetzung mit brisanten politischen und geschichtlichen Themen eignen kann. Interessanterweise wurde Folmans Nachfolgefilm The Congress, der Realfilm und Animation miteinander verbindet, 2013 mit dem Europäischen Filmpreis in der Kategorie »Bester Animationsfilm« ausgezeichnet. Diese Ehre widerfuhr im Vorjahr dem ungleich dezenteren Alois Nebel.
Von seiner Gestaltung her ist Alois Nebel jedoch sehr verschieden von den obigen Beispielen. Zunächst einmal wurde dieser Animationsfilm im altehrwürdigen Rotoskopie-Verfahren erstellt, bei dem zunächst der gesamte Film mit echten Darstellern gedreht und anschließend auf eine Glasplatte projiziert wird, wo er dann Bild für Bild abgezeichnet wird. Dies hat einen besonders realistischen Eindruck zur Folge, der unter anderem durch extrem lebensechte, flüssige Bewegungen beeindruckt. Zugleich ist der schwarzweiße Alois Nebel stark stilisiert. Die holzschnittartige Zeichnung mit den starken Hell-Dunkel-Kontrasten, die sich gerade in extremen Lichtverhältnissen zeigt, verweist auf den deutschen Expressionismus. Sowohl die flüssigen Bewegungen, als auch der starke expressionistische Einfluss erinnern an den berauschend schönen Sci-Fi-Animationsfilm Renaissance (2006) des Franzosen Christian Volckman.
Diese jüngeren europäischen Animationsfilme führen ein genuin europäisches filmisches Erbe weiter, ohne dabei auch nur im entferntesten antiquiert zu wirken. Alois Nebel zeigt darüber hinaus noch einen weiteren deutlichen künstlerischen Einfluss, der direkt aus dem Entstehungsland der dem Film zugrunde liegenden Graphic Novel stammt. Es ist der Fatalismus und die Absurdität eines Kafka, die in dieser scheinbar fast stillstehenden Welt deutlich anklingt. Doch bei Alois Nebel wird die mystisch-mysteriöse Grundstimmung Kafkas in die sehr konkrete trübe Realität eines dünnbesiedelten Grenzstreifens mit düsterer Vergangenheit im Ostblock der späten 80er-Jahre übertragen. Überhaupt ist dieser Film ganz Atmosphäre, wobei sich die romantisch-melancholische Stimmung bevorzugt durch konkrete atmosphärische Phänomene wie Regen, Schnee, Nebel oder auch grellen Sonnenschein herstellt. Diese ganz eigene Stimmung wird zusätzlich von der sparsam eingesetzten Musik Petr Kruzíks unterstrichen.
Das ehemalige Sudetenland erscheint in Alois Nebel wie ein aus der Zeit gefallenes Niemandsland, das keine eigene Identität finden mag, dabei aber zugleich deutsche und tschechische Elemente vereint. Diese deutsch-tschechische Koproduktion verdichtet Geschichte in die persönliche Lebensgeschichte des gleichnamigen Protagonisten hinein. Und so, wie Alois' Geschichte mit einer leisen Hoffnung endet, so erweckt auch der gesamte Film die Hoffnung auf die Möglichkeit eines menschlichen Neubeginns.
»Jeseník 9:20 Uhr, Lipová Lázně Haltepunkt 9:24 Uhr, Bílý Potok 9:38, Ramzová 9:50 Uhr...« Das Leben hat schwarzweiße Zacken... Ganz zu Beginn blickt Alois Nebel, der Held dieser Geschichte ins Regenwetter. Wie in Trance liest Nebel mit monotoner Stimme die Fahrpläne der Provinzzüge. Das scheint ihn zu beruhigen. Das hat er spürbar nötig. Denn dieser Alois Nebel ist eigentlich gar kein Held. Er ist schüchtern. Er ist schweigsam. Er trägt eine Brille und bewegt sich sehr langsam. Sichtbar ein Durchschnittler und geborener Verlierer. Und dann hat er auch noch einen denkbar langweiligen Job. Alois Nebel arbeitet nämlich als Fahrdienstleiter in einem abgelegenen Provinzbahnhof.
Dann sehen wir: Ein Mann im Trenchcoat steht hinter einem Baum, versteckt. Ein Mann mit einer Axt, die offenkundig nicht zum Holzhacken gedacht ist. Plötzlich wird es laut. Schnell verstehen wir Zuschauer: Sobald der Nebel steigt und die Wälder der Umgebung im weißen Nebelwattemeer verschwinden, wird dieser sonst schweigsame Mann mit traumatischen Erinnerungen konfrontiert, die sich verselbständigen und im Film visualisieren. Dann hört er die Stimmen der Menschen, die während
des Zweiten Weltkriegs von der deutschen Besatzung in ein Konzentrationslager deportiert wurden, dann sieht er, wie die deutschstämmige Bevölkerung der Tschechoslowakei nach der Niederlage der Nazis vertrieben wird, und wie aus einstigen Nazi-Kollaborateuren Stalinisten werden.
Jetzt, im Jahr 1989 steht die nächste historische Umwälzung bevor und der kleine Mann fürchtet die große Geschichte. Also beruhigt er sich lieber...
Dieser Film ist ein merkwürdiger Solitär. Er mischt Elemente des Horrorfilms, des expressionistischen Psychothrillers und des amerikanischen Film-Noir mit der Trockenheit einer kulturwissenschaftlichen Abhandlung
In Tschechien ist der Comic »Alois Nebel« Kult. Seit 2003 sind dort mittlerweile drei Graphic Novels über den melancholischen Eisenbahner erschienen. Sie stammen von den beiden Tschechen Jaroslav Rudiš, der die Texte schrieb und Jaromír Švejdík, der sich »Jaromir 99« nennt, und die Bilder zeichnete. Jetzt hat sie Tomás Lunak verfilmt – im sehr alten Rotoskopie-Verfahren – also mit Schauspielern, deren Bilder dann übermalt und übersteigert wurden –
ein Animationsfilm, der weder mit Disneys Computerexzessen, noch mit den japanischen Manga-Filmen auch nur entfernte Ähnlichkeit hat. Am ehesten erinnert er in seinen kontrastreichen, reduzierten Schwarzweiß-Bildern an die Scherenschnitte und Licht-Schatten-Märchen der Expressionistin Lotte Reininger, und an Ari Folmans Waltz With Bashir.
Diesem israelischen Film über den
Libanon-Krieg ähnelt er auch darin, als dass Alois Nebel an verschiedene Tabus der tschechischen Geschichte rührt. Während der Zeit der großen gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen 1989 erinnert sich Nebel an die Tabus der tschechischen Vergangenheit erinnert, an Kollaboration mit Faschisten und Stalinisten, an den Antisemitismus und die Vertreibung und Ermordung tschechischer Juden, später dann die Vertreibung der
Sudetendeutschen.
Die Vertreibung der Deutschen ist dabei aber nur ein Kapitel und Aspekt dieser Geschichte – so lässt sich der Film in Deutschland besonders gut vermarkten. Es geht hier aber nicht um die Deutschen, die lange immer nur die Täter der Geschichte waren und nun endlich auch mal auch Opfer sein wollen. Sondern es geht um die Tschechen und ihre Republik, einen immer noch jungen Staat, der immer noch mit sich selbst, mit seiner Identität und seiner Geschichte hadert, und sich dieser Vergangenheit voller Verwerfungen nun allmählich zu stellen beginnt.
Alois Nebel steht für die ganze tschechische Nation, und so erzählt dieser Film auch keine richtige Geschichte, sondern zeigt ein kollektives Psychogramm, zwischen Leiden und Wiederkehr des Verdrängten, zwischen Psychiatrie und nicht nur weltanschaulicher Obdachlosigkeit.
Die Qualitäten dieses Films aber liegen noch woanders: Es ist dies nämlich ein schön gestalteter Film. Seine Schönheit liegt in den edlen Schwarzweiß-Bilder. Und es ist ein rebellischer Film. Die Rebellion des Alois Nebel und seiner Geistesverwandten, der Generation seiner Macher ist die der Verweigerung.
Ob das am Ende im Leben ausreicht? Ich glaube eigentlich nicht. Aber diese Verweigerung ist eine – wenn man so will – typisch tschechische – Tugend.
Alois Nebel ist auch ein Schwejk unserer Tage. Und ein bisschen Buchstaben-Kabbala gibt es dann auch noch: Nebel heißt nämlich auf tschechisch Himmel. Wer aber »Nebel« rückwärts liest erhält das deutsche Wort Leben.