F/Indien/NL/L/I/CH/USA 2024 · 123 min. · FSK: ab 12 Regie: Payal Kapadia Drehbuch: Payal Kapadia Kamera: Ranabir Das Darsteller: Kani Kusruti, Divya Prabha, Chhaya Kadam, Hridhu Haroon, Azees Nedumangad u.a. |
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Nur das Licht und die Menschen, die von ihm berührt werden... | ||
(Foto: Rapid Eye / Real Fiction) |
Man kennt das: Eine kleine Geschichte aus dem Alltag, über Menschen einer Großstadt, die durch prachtvolle Kinobilder und kluge Filmregie zu einer sinnlichen Hommage an die Metropole-an-sich anwächst, an die Hoffnungen und Ängste, an das kleine Glück im großen Moloch, für das sie steht. Solche »Symphonien der Großstadt« gibt es zahlreiche im Kino: Über Paris, Berlin, wie New York, Tokio oder Hongkong.
Jetzt ist ein Film über die westindische Metropole hinzugekommen, die hier
mal Bombay, mal Mumbai genannt wird, nach ihren beiden, politisch keineswegs neutralen Namen. All We Imagine as Light, Payal Kapadias magische Ode an das nächtliche Bombay, wurde im Mai bei den Filmfestspielen in Cannes gefeiert und gewann mit dem »Grand Prix« einen der Hauptpreise. Jetzt kommt dieser Film ins deutsche Kino, dessen größter Teil abends und nachts spielt, nach Einbruch der Dunkelheit, wenn die Stadt im Neonlicht ein zweites Mal erwacht.
Einer der
schönsten Filme des Jahres.
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Alles beginnt als eine meditative und beobachtende, ruhige Erkundung der Zufälle und Feinheiten des urbanen Lebens in den Straßen und Bahnhöfen von Bombay (Mumbai), als ein poetisches Flanieren, das in seiner Subjektivität und seiner nachdenklichen Hingabe an den Augenblick auch an französische und deutsche Großstadtfilme der 20er und 30er Jahre erinnert. Die Musik verstärkt diesen Eindruck des Impressionistischen noch zusätzlich.
Es ist eine mitunter in ihren
Alltagsregeln und Ritualen fremde, doch immer verständliche und für uns vertraute Welt. Indien.
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Zu einer ersten von vielen Kamerafahrten durch die neonerleuchtete Nacht hören wir verschiedene Stimmen, wie Tagebuchaufzeichnungen oder Interviewstatements, die die Herkunft der Regisseurin aus dem Dokumentarfilm verraten:
Ein Mann: »Ich bin seit 23 Jahren hier. Aber ich mag es immer noch nicht mein Zuhause nennen. Ich habe immer Angst wieder gehen zu müssen.«
Ein zweiter Mann: »Eines Tages habe ich mich mit meinem Vater gestritten. Da habe ich meine Sachen gepackt und bin nach Bombay. Mein Bruder hat auf der Werft gearbeitet. Seine Unterkunft hat so schlimm gerochen, dass ich nachts nicht schlafen konnte.«
Eine Frau: »Ich war schwanger, habe es aber niemandem erzählt, weil ich Arbeit als Hausmädchen
gefunden hatte. Die Kinder meiner Arbeitgeberin waren richtige Teufelsbraten. Aber sie hat mir viel zu essen gegeben. In dem Jahr habe ich gut gegessen.«
Eine weitere Frau: »Aus jeder Familie des Dorfes ist mindestens einer in Mumbai. In Mumbai gibt’s Arbeit und Geld. Da will keiner wieder zurück.«
Noch eine Frau: »Ich hatte gerade eine Trennung hinter mir, die Stadt hat mir darüber hinweg geholfen.«
Allmählich werden die Geräusche der Großstadt lauter. Man wird hineingezogen. Die Musik, die wir hören, ist brasilianisch.
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In diesem Stil fängt die Regisseurin Payal Kapadia den Alltag von drei Frauen ein, die alle als Krankenschwestern auf der gleichen Station eines großen Krankenhauses arbeiten. Sie lernt man zunächst als Gefangene ihrer Lebensumstände und der sozialen Codes kennen, die ihr tägliches Leben bestimmen.
Die Regisseurin hält sich dabei bewusst mit Wertungen und offenen Parteinahmen zurück. Ihr Kino will keinen Diskurs illustrieren, keine »Punkte abhaken«, sondern vor allem genau hinschauen. Dabei entfaltet Kapadia ihre Charaktere nicht in Worten, sondern inszenatorisch selbstbewusst in Form von Schichten, Fragmenten und Splittern, und nicht zuletzt in den Blicken, die sie aufeinander und auf die Welt werfen. Auf der Leinwand liest man auch Text- und Sprachnachrichten, im Off wirkt eine der drei als Erzählerin.
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Übrigens: »Bombay«/»Mumbai« – die einen sagen so, die anderen sagen so in diesem Film. In Indien das eine politische Frage, die auch den Klassenstandpunkt (bürgerlich/proletarisch) enthüllt und etwas darüber verrät, ob man eher universalistisch oder hindu-nationalistisch und identitär gesonnen ist.
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Die Handlung wird dadurch vorangetrieben, dass Anu (Divya Prabha), die jüngste und modernste der Drei, in einen jungen Mann verliebt ist, der als Moslem wie als Angehöriger einer anderen Kaste für sie aber sozial tabu ist, weshalb sie die Beziehung geheim hält. Ihre Eltern auf dem Land haben für sie längst eine andere Ehe arrangiert...
Die älteste ist Parvaty (Chhaya Kadam), die nach 22 Jahren von Immobilienhaien aus ihrer Wohnung vertrieben wird. Zwischen den beiden in Alter wie
im Verhältnis zur Tradition steht die Erzählerin Prabha (Kani Kusruti), deren Untermieterin die junge Anu ist. Prabha wurde arrangiert verheiratet, hat aber zu ihrem Gatten seit Jahren keinen Kontakt, weil der in Europa lebt, in Deutschland.
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Ohne forcierte Handlung, ohne plötzliche Wendungen und aufgesetzte Dramatik erzählt die Regisseurin in beiläufigen, flüchtigen Bildern von Einsamkeit und Kommunikation unter sehr verschiedenen Menschen.
Es geht dabei vor allem um die alltägliche Sehnsucht der Menschen, aber auch um »handfestere« Sujets wie Migration, soziale und kulturelle Unterschiede, um den Gegensatz zwischen Liebe und arrangierten Ehen, aber auch um Immobilienspekulation und Gentrifizierung.
Hierin steht All We Imagine as Light dem Hongkong-Regisseur Wong Kar-wai sehr nahe: Auch Kapadia geht es darum, Bilder für das Ungreifbare zu finden. Und für weibliche Solidarität: Es ist eine Solidarität, die hier nie auf Kosten der Männer ausgelebt wird, die genauso verloren und einsam und würdevoll sind wie die Frauen. Der Film kommt ohne Antagonisten aus, ohne »Bösewichter«.
Stattdessen erfahren die drei Frauen am Ende am Ozean, unter den Neonfarben einer nächtlich illuminierten Strandbar, so etwas wie eine Epiphanie. Alles ist Ufer, ewig ruft das Meer...
Plötzlich ist die Zukunft offen und alles möglich in diesem bewegenden, schönen Film. Es gibt nur noch das Licht und die Menschen, die von ihm berührt werden. Es ist die Utopie des Kinos.
Eine Fahrt durch das nächtliche Mumbai, die Straße entlang. Die Stände eines Marktes reihen sich auf in der Dunkelheit, Obst und Gemüse leuchten geheimnisvoll. Rote Kisten werden auf Lastwägen geworfen, die Händlerinnen packen ihr Gemüse aus. Aus dem Off heben Erzählungen an. »Ich bin schon 23 Jahre hier«, sagt ein Mann, »aber immer noch nicht in einem Zuhause angekommen.« Die Angst, jederzeit wieder gehen zu müssen, lässt die Menschen hier keine Wurzeln schlagen und keine Beziehungen eingehen. Eine Frau erzählt, dass sie schwanger wurde, es aber verheimlicht hat. »Ich hatte Arbeit als Hausmädchen gefunden«, sagt sie. »Ich habe gut zu essen bekommen, in diesem Jahr.« Und: »Aus jeder Familie ist mindestens einer in Mumbai. Hier gibt es Arbeit und Geld.« Dann verlieren sich die auf der Straße eingefangenen Stimmen im Gedränge der Menschenmassen in der U-Bahn-Station. Wie in einem Sog geht es in den Schlund der Megalopole. Die Handlung beginnt.
All We Imagine as Light ist der erste Spielfilm der indischen Regisseurin Payal Kapadia, ausgezeichnet mit dem Grand Prix der Jury in Cannes. Wesentlich für Kapadia ist ihr Hang zum Traumhaften, der sich auch in ihrem gefeierten Dokumentarfilm A Night of Knowing Nothing manifestierte. Hier verschwimmen bereits die Grenzen zur Fiktion, wenn die Studentinnen und Studenten einer Filmschule vor dem Hintergrund der Machenschaften der hindu-nationalistischen Partei ihren Wünsche nach Eskapismus und Illusion in langen Filmvorführungen anhängen. Der neue Film setzt nur scheinbar den Kontrast zum Vorgänger. Das titelgebende Licht ist die ästhetische Korrespondenz zur Nacht davor, auch in All We Imagine as Light versinken die Menschen immer wieder in der Dunkelheit der Nacht. Und wie in A Night of Knowing Nothing entsteigt auch hier aus der Tiefe der Realität die Fiktion, als sozialrealistisch grundiertes Melodram.
Zwei Krankenschwestern, Prabha (Kani Kusruti, ein Star des indischen Arthouse) und Anu (Divya Prabha), sind seine Protagonistinnen. Im Dreiklang der entfremdeten Großstadterfahrung von boulot, métro, dodo (Arbeit, Metro, Schlaf) pendeln sie zwischen der gynäkologischen Station, auf der sie arbeiten, und einem engen Zimmer, in dem sie gemeinsam wohnen. Im Hintergrund sind aus ihrem Fenster wie eine leuchtende Symphonie der Großstadt die zahlreichen Lichter von den Wohnungen in den Hochhäusern zu sehen. Die Züge auf den Schienen, die unter dem Wohnhaus von Prabha und Anu die Kurven nehmen, quietschen schrill dazu.
Das alles erinnert an die Filme von Satyajit Ray. Wie beim Großmeister des indischen Neorealismus entsteigt auch bei Kapadia aus den Zimmern und Gesprächen der Protagonistinnen ein tiefgründiger Humanismus, der die Menschen gegen den Wandel der Moderne umarmen und beschützen will. Unweigerlich aber heftet das sozial-politische Leben den Menschen Melodramatik an. Die ältere Prabha wurde als junge Frau mit einem Mann in arrangierter Ehe verheiratet, der jetzt im fernen Deutschland arbeitet und außer einem Reiskocher seit langem keinen Gruß mehr geschickt hat. Anu ist frisch verliebt, sie ist Hindu, ihr Freund ein Muslim; eine Amour fou, eine unmögliche Liebe bahnt sich hier den Weg zwischen den Verboten und Tabus, heimlich, unter der großen Gefahr, entdeckt zu werden.
Das Leben von Prabha und Anu steht exemplarisch für die Erzählungen aus dem dokumentarischen Prolog; dazu kommt Kaki, eine verwitwete Bekannte, die zum Opfer der raumfressenden Hochhäuser wird, die überall aus dem Boden wachsen. Die Überbevölkerung ist allgegenwärtig, was auf der gynäkologischen Station naturgemäß ein Thema ist – die Pille wird heimlich weitergereicht.
Beiläufig und unterschwellig weben sich die skizzierten Themen in die somnambule Atmosphäre des Films. Fast immer ist es Nacht, die Zimmer sind spärlich beleuchtet, das Großstadtlabyrinth zeigt viele dunkle Winkel, in denen Anu mit ihrem Liebhaber einen ungestörten Platz sucht. Das kreiert eine Atmosphäre schwerer Emotionalität, in die man hineinsinkt wie in einen schlaflosen Fiebertraum.
Und dann beginnt die B-Seite des Films.
Als Kaki resigniert das chaotische Mumbai verlässt, um zurück in ihre Heimat zu gehen, folgen ihr Prabha und Anu. Jetzt spielt der Film an den kleinen Bambushütten direkt am Strand, wo die Touristen bunte Getränke schlürfen. Das Licht bahnt sich mit einemmal den Weg in den Film und auch eine Mystik, die die Schwere aufbricht und die Rätsel der Vergangenheit zu lösen scheint. Der Realitätsgehalt des Erlebten ist ungesichert. All We Imagine as Light: Das ist der erfüllte Sehnsuchtshorizont, der sich nur in der Imagination finden lässt – als Rückkehr der Menschen zu ihren Träumen.