Frankreich 2014 · 113 min. · FSK: ab 12 Regie: Céline Sciamma Drehbuch: Céline Sciamma Kamera: Céline Sciamma Darsteller: Karidja Touré, Assa Sylla, Lindsay Karamoh, Marietou Touré, Idrissa Diabate u.a. |
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Atemberaubende Außenseiterbande |
Vier Mädchen, ausgelassen, in einem Hotelzimmer. Sie tanzen auf dem Bett, gemeinsam, auf dass nicht nur die Matratze vibriert. Sie tanzen zum Song »Diamonds« von Rihanna, der US-Sängerin, mit deren Kraft, deren Selbstbewusstsein sich die Vier identifizieren. »Wir sind schön«, singt Rihanna, »wir sind wie Diamanten im Himmel.«
Die Kamera, die Regisseurin kostet diesen Moment aus. Sie hat die Vier in bläuliches nahezu irreales Licht getaucht, und immer wieder, inmitten der lauten Musik fängt sie Augenblicke der Stille ein, ein Augenaufschlag, ein Lächeln, Blicke, die in die Ferne zielen, träumerisch den Moment genießen. Keine der vier ist hier für sich, sie sind eins miteinander und dem Moment. Sie haben ihre Lederjacken und Jeansklamotten ausgezogen, und sie mit schicken Abendkleidern getauscht, sie haben sich geschminkt und die Haare gemacht.
Sie sind jung, sie sind ekstatisch. Sie sind schön, sie sind stark. Sie sind völlig losgelöst. Und ganz langsam geht die Stimme der Sängerin in ihre Stimmen über. Denn sie haben eine eigene Stimme. Und wir werden sie hören in diesem Film.
Ein American-Football-Match. Die Spieler fighten, die Härte des Geschehens wird durch eine Zeitlupe noch hervorgehoben. Dann wird erkennbar: Es sind zwei Frauenteams, die hier gegeneinander spielen – das ist die programmatische erste Szene, die den Takt vorgibt für einen politisch wie sozial überaus wachen Film, der ohne Scheu sehr bewusst Stereotypen aufnimmt, um sie zu brechen – wie Football, den Männlichkeitssport par excellence.
Es geht in diesem Film um vier starke, schwarze Girls aus der Pariser Vorstadt. Sie haben nichts, also nehmen sie sich alles: Style, Stolz, Freiheit. Im Zentrum steht die junge Marième (großartig gespielt von Karidja Touré), die es im Alltag nicht leicht hat, zum Beispiel mit ihrem kaputten Bruder. Aber Marième ist eine Kämpferin. Ihr Gegner sind die Umstände: mit sechzehn geht sie noch zur Schule, zuhause muss sie ihren drei Geschwistern eine Ersatzmutter sein, weil die richtige,
alleinerziehende tagsüber arbeitet.
Eines Tages lernt sie eine Frauen-Gang kennen. Diese Mädchen sind unkonventionell und witzig, sie klauen ab und an, prügeln sich sogar, wenn es sein muss. Vor allem aber lassen sie sich nichts gefallen. »Tu was du willst!« ist ihr Motto – gerade für einen Haufen vermeintlich chancenloser Mädchen aus der Banlieue ein Fanal der Freiheit.
»Tu fais ce que tu veux. Dis-le!« – »Je fais ce que je veux. … Vic. Comme Victoire.« – »Du machst, was du willst. Sag es!« – »Ich mache, was ich will.«
Nach kurzer Annäherung wird Marième aufgenommen. Ihr Bandenname ist Vic, wie Victoire, das französische Wort für Sieg.
Der Film beobachtet Marième/Vic und ihre neuen Freundinnen in ihrem Alltag. Ihr Leben ist nicht einfach und wird auch nicht verklärt. Aber umgekehrt versagt sich dieser Filme den Blick von oben herab und alle Versuchungen des Sozialpädagogischen, des schnellen Mitleids, der einfachen Ursachenbestimmung. Hier wird nicht Vorstadt gleichgesetzt mit sozialem Elend und Chancenlosigkeit, hier werden keine Filmcharaktere stellvertretend für ein Milieu therapiert. Im Gegenteil: Bande de filles ist ein hochunterhaltsamer Film, der viel Spaß macht.
Zugleich ist dies ein modernes feministisches Manifest: Die Girls zeigen sich selbst und uns im Publikum, was Feminismus wirklich heißt: Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. Wenn sich diese Mädchen fortwährend im Spiegel angucken, sich filmen, und gegenseitig beurteilen, geht es um Selbstbestätigung, darum, dem Fremdbild ein Selbstbild entgegenzusetzen.
Bande de filles ist selbst ein solches Spiegelbild, und zeigt uns Zuschauern darin,
was das eigentliche Problem für viele Geschlechtsgenossinnen der vier Vorstadtgirls ist: Fehlendes Selbstbewusstsein, fehlender Mut, fehlende Härte und Durchsetzungskraft. Er zeigt uns, dass das nicht etwa »männliche Werte« sind, sondern universale.
Was anderen Regisseuren zum Sozialdrama oder zur moralischen Lektion gerinnen würde, nutzt Céline Sciamma in ihrem dritten Spielfilm (nach Water Lillies und Tomboy) zu einem ästhetischen und antikonventionellen Statement: Indem die Bedeutung der Form schon über das Handwerk unterstrichen wird, durch ausufernde Kamerabewegungen und forcierten Musikeinsatz,
indem Musik und Klamotten aber auch für die Figuren selbst Identität bilden, erklärt Sciamma, dass Selbstfindung mit Stilbewußtsein zu tun hat, und zugleich das Gegenteil von Anpassung ist. Dass der Wunsch der Umwelt, man solle »erwachsen« und »reif« werden, oft nur eine Maske der Repression ist.
Auch diese Filmemacherin geht ihren eigenen Weg, erarbeitet sich ihre eigene Stimme, unangepasst.
Dieser Film kommt ohne erhobenen Zeigefinger aus. Positiv besetzte Figuren tun auch
schlechte Dinge, und wer Schlechtes tut, wird nicht zwangsläufig bestraft.
Der Titel Bande de filles ist natürlich zunächst einmal nichts anderes ist als eine offene Anspielung auf Jean-Luc Godards Die Außenseiterbande. Wie dieser ist auch Bande de filles ein Film, der uns vorführt, nicht erklärt, warum Freiheit womöglich mehr mit Ästhetik zu tun hat als mit Moral, mehr mit Pop als mit political correctness, mit Musik und Mut, aber ganz bestimmt gar nichts mit Quoten. Das Motto: »Tu was du willst!«
Aber auch der internationale Verleihtitel Girlhood bietet einen wichtigen Verweis darauf, wie der Film zu verstehen sein könnte: Nämlich als Antithese zu Richard Linklaters Film Boyhood. Denn wenn dieser im Kern eine Geschichte ist, die vom Erwachsenwerden eines jungen weißen Mannes handelt, und in dem der Regisseur einem Vater und seinem Verhältnis zu einem Sohn breiten Raum gibt und dieses bis hin zu diversen Initiationsriten – Feuer machen, Zelten, Baseball, über Mädchen reden – durchspielt, und darin auch eine patriarchale Geschlechts- und Gesellschaftssicht bestätigt, dann ist Bande de filles das exakte Gegenteil: Nicht ausufernd, sondern intim. Ein Film von einer Frau. Die Geschichte eines schwarzen Mädchens, ohne Vater, in deren Leben die blutsverwandte Familie eine marginalere Rolle spielt, und durch die Wahlverwandtschaft einer Gruppe ersetzt wird. Hier, in der Gruppe, findet die Initiation statt, und es geht um Selbstbefreiung und Selbstbestimmung, den Bruch mit dem Herkommen, nicht dessen Kontinuität.
Emanzipation ist für alles dies ein älterer, ehrwürdiger Ausdruck, der etwas aus der Mode gekommen ist. Zwanzig Jahre nach Matthieu Kassowitz La haine (Hass) kehrt das französische Kino in die Banlieue zurück, ironisiert die Beschränktheit und Simplizität, mit der hier Individuen auf »Problemviertel« reduziert werden und entlarvt die Ideologie und das Reaktionäre hinter den biederen Geschichten ziemlich bester Freunde und hinter Mulitikultiklamotten wie Monsieur Claude. Auf ganz selbstverständliche Weise zeigt Sciamma in ihrem genau komponierten, einfallsreichen Bande de filles, wie Gesellschaft und Familie – manchmal sogar ohne Ansicht – die Entwicklung junger Frauen behindern.
Alles vibriert in diesem Film. Die Leinwand atmet frische Luft. Man kann schon jetzt feststellen: Bande de filles ist fraglos einer der besten Filme seit langem. Nouvelle Vague heute – wenn diese Formel einen Sinn macht, dann in diesem Film!