The Beast

La bête

Frankreich/Kanada 2023 · 146 min. · FSK: ab 12
Regie: Bertrand Bonello
Drehbuch: , ,
Kamera: Josée Deshaies
Darsteller: Léa Seydoux, George MacKay, Dasha Nekrasova, Julia Faure, Guslagie Malanda u.a.
The Beast
Unterschiedliche Dimensionen des Allein-Seins...
(Foto: Grandfilm)

Hundert Jahre Einsamkeit

Bertrand Bonello erzählt in seiner Henry-James-Adaption von kultureller Einsamkeit in der Geschichte, der Gegenwart und der Zukunft

Ein grüner Raum: Léa Seydoux steht alleine in ihm, eine Stimme erklärt ihr die Situation, gibt ihr Angaben, wie sie sich verhalten soll, was sie zu tun hat. Es ist ein Filmset, ein Green­screen, ein Nicht-Ort, der noch alles werden kann, jetzt gerade aber noch nichts ist. Ein Messer soll sie nehmen, einem »Biest« wird sie begegnen. Sie fängt an zu schreien, das Bild verwischt, löst sich auf in eine Milliarde Pixel, bis nichts mehr ersicht­lich ist, nur noch Schemen dessen, was war, und dabei selbst noch nichts geworden ist. Die Pixel formen sich um und bilden den Titel: »La Bête«.

Diese Rolle ist nur eine von vielen, die Léa Seydoux in Bertrand Bonellos neuestem Werk spielt; der fran­zö­si­sche Regisseur sollte spätes­tens seit Nocturama und Zombi Child auch hier­zu­lande bekannt sein. Der Film verteilt sich auf drei Zeit­ebenen, in jeder ist Seydoux (die beste Schau­spie­lerin ihrer Gene­ra­tion) die Haupt­figur, immer heißt sie gleich: Gabrielle.
Matrosch­ka­artig wird zwischen diesen Ebenen gesprungen, sie ergänzen sich, bauen aufein­ander auf, machen einander erst möglich. Da wäre zunächst einmal die Gegenwart des Films, im Jahr 2044: Eine AI hat die Kontrolle über die Welt errungen und die meisten der anspruchs­vollen Jobs über­nommen. So überprüft Gabrielle etwa die Tempe­ratur von nicht näher defi­nierten Maschinen oder Tech­nik­ob­jekten, eine stupide Tätigkeit. Sie strebt nach mehr, doch der bessere Job ist mit einem Risiko verbunden: Sie muss sich einer Operation aussetzen, ihre alten Leben betrachten, sich von ihnen frei machen. Der Zweck: die Gleich­schal­tung ihrer Gefühle und Impuls­un­ter­drü­ckung. Der moderne Mensch ist abgeklärt, berech­nend, rational. System­in­te­griert, seinen Regungen entfremdet. Gabrielle zweifelt, und doch willigt sie in die OP ein, besucht ihre vergan­genen Ichs, und wir – das Publikum – folgen ihr dabei.

So lernen wir sie 1910 in Paris als Konzert­pia­nistin, spezia­li­siert auf Schönberg, kennen, ebenso als Model/Schau­spie­lerin im L.A. der Zehner­jahre. In all diesen Welten, in all diesen Leben lernt sie Louis Lewinsky (George MacKay in seiner bislang besten Rolle) kennen und lieben, in jeder dieser Welten wird sie ihn verlieren. Bonello also erzählt von der (unmög­li­chen) Liebe, von der Einsam­keit, die am amourösen Anfang und Ende steht. Die Einsam­keit ist das unbe­dingte Thema des Films, sie bestimmt ihn zu jeder Sekunde, gibt auch den Titel vor. Gabrielle fürchtet sich unbe­stimmt vor einem »Biest«, einem Etwas, das über sie herein­bricht, sie zunichte macht.
Es sind also unter­schied­liche Dimen­sionen des Allein-Seins, die hier disku­tiert werden: In der evidenten Abge­schie­den­heit und Isolation, glei­cher­maßen aber in der Welt als geistiges Konstrukt, und dann – wieder nahbarer – in der Liebe. Der aufflam­menden, der unmög­li­chen, der stür­mi­schen, der formalen, der nicht erwi­derten, auch der heim­li­chen Liebe. In all diesen vergan­genen Welten muss sie scheitern, und das nicht erst in einem tragi­schen Finale, sondern bereits in ihrem Konstrukt, ja selbst in der Hoffnung und Roman­ti­sie­rung des Verliebt­seins. Nie entsteht eine unmit­tel­bare Nähe zwischen Gabrielle und Louis, stets kommt etwas dazwi­schen. Oft ist es nicht einmal benennbar, schlum­mert in den Figuren, hervor­ge­bracht durch ihr Umfeld oder durch selbst­in­du­zierte Psychosen. Nur der Wille zur Liebe, die Hoffnung darauf bleibt bestehen, wird zum Kata­ly­sator des Einsamen, zum Fest­halten an einer Welt, die besser sein könnte als diese.

Eng damit verbunden sind kultu­relle Erschei­nungen; Arten der Ablenkung und Zerstreuung, der Beschäf­ti­gung und Unter­hal­tung. In Paris befinden wir uns in einer Puppen­fa­brik, die Puppen müssen »neutral« drein­bli­cken, heißt es, frei von Emotion und Regung, um allen zu gefallen, alle zufrieden zu stellen. Dieses Motiv begleitet den Film, veräußert sich, wenn nicht durch Puppen, durch modernes Enter­tain­ment; Karaoke-Shows im Fernsehen, Inter­net­seiten mit Lebens­rat­schlägen, Tanzbars, Drogen, Webvideo-Aufnahmen, Kameras, bis später natürlich die AI und die damit verbun­dene Operation sie final perver­tiert. Die Einsam­keit sehnt sich nach ihrer Aufhebung in etwas Fremdem, nach einer Spie­ge­lung ihrer Selbst, viel­leicht, um sie, um sich, selbst zu verstehen, viel­leicht aber um sie auszu­blenden, sie zu bekämpfen, ohne sie jemals annehmen zu müssen. Nach einem Ausweg aus sich selbst – hin zu einer Gleich­för­mig­keit.
Denn jene Abge­stumpft­heit muss nicht gleich­be­deu­tend mit dem Nichts sein, kann sich ebenso organisch entwi­ckeln, genährt und befeuert durch ein Übermaß an indu­zierten Stimu­lan­zien, einem Zustand, der schon alles kennt, und es deshalb immer neu befragt: Weil man weiß, was man kriegt, eine Dosis Trost, einen weiteren Schritt dorthin, nicht mehr sein zu müssen, wer man ist. Comfor­tably Numb.

Nun ist der Film selbst natürlich längst zu einem Kultur­pro­dukt geworden, man denke an Comfort Shows, oder Markus Söder, der ins Kino geht, um diese oder jene Emotion zu erhaschen. Die Einsam­keit des Kinosaals – man ist ja doch immer alleine in diesem schwarzen, kalten Raum – wird ausgelöscht durch eine Beschal­lung und einen Denk­pro­zess respek­tive durch erzeugte Gefühle, die die Verlo­ren­heit verdrängen, einen Kontra­punkt bieten. Gute Unter­hal­tung eben, ein Ausweg für den Alltag.

Bonello (man ahnt es) stellt sich gegen dieses Konzept mit aller Härte und Brillanz; ein Film mit diesem Thema hat für ihn eine Verant­wor­tung, und diese liegt nicht in der Heiter­keit, so viel sei gesagt. Viel mehr inte­griert er die Rolle der Erzählung in seinen Film, insze­niert die vergan­genen Kapitel wie ein leicht über­höhtes Pastiche der in ihnen verhaf­teten Erwar­tungen.
Das alte Paris ist in seiner uner­träg­li­chen Eleganz und Ernst­haf­tig­keit nahezu komisch, L.A. wirkt wie die Bret-Easton-Ellis-Verfil­mung, die niemals kam. Wir kennen diese Bilder, wir erwarten sie genau so, wie sie uns serviert werden – und genau darin liegt der Schrecken, den sie auf uns ausüben.

Durch Zeitsprünge und uner­war­tete Schnitte legt Bonello ihre Konstru­iert­heit offen, analy­siert sie punkt­genau, ohne jemals den Modus der Poesie zu verlassen. Es ist eine Dekon­struk­tion des Gefühls­kinos, des Melodrams, das sich nur auf sich selbst beruft, ohne sich zu hinter­fragen, seine Motive offen­zu­legen.
Das tut dieser Film, nicht aber als eine Parade von Metaphern, die in der Folge brav analy­siert werden dürfen, sondern auf einer viel basaleren Ebene, einer ehrlichen, die zugibt, die Angst nicht zu über­winden, sie nicht einmal greifbar machen zu können, sich jedoch im Stande dazu sieht, sie von den ihr anhaf­tenden Stör­fak­toren zu berei­nigen.

Bonello ist ein dezidiert poli­ti­scher Regisseur. Jemand, der histo­risch arbeitet, der die Welt­ge­schichte stets durch seine Filme fließen lässt, keine Posi­tionen aufgreift und als gut/schlecht behandelt, sondern in ihrem geschicht­li­chen Wirkungs­grad vergleicht und darüber erklärt. Eine Reality-Show ist demnach kein profanes Ärgernis, sie ist zugleich eine Pariser Puppe, und zugleich der Blick eines Leidenden, der auf ihr lastet. Viel­leicht entspringt hieraus die ange­spro­chene Poesie, die sich trotz des analy­ti­schen Blicks stets ins Zentrum setzt, die einzige Konstante bildet, die nicht verschwindet, selbst dann nicht, wenn sie kriti­siert wird, als eigener Mecha­nismus der Entfrem­dung entlarvt wird.

Dabei gerät der Film nie zu essay­is­tisch, die Figuren stehen trotz allem im Vorder­grund, gerade Gabrielle. La bête empfindet zu jedem Zeitpunkt Liebe und ein tiefes Vers­tändnis für sie, unter keinen Umständen wird eine Figur vorge­führt, oder meta­pho­risch angelegt, um einen Punkt zu machen, ein Bild der Welt zu entwerfen, das sich anschickt, die Wahrheit zu erkennen. Besonders rührend wird dies in der L.A.-Episode verhan­delt, wenn unter Louis' (beinahe) kari­ka­turesker Incel-Fassade eine zutiefst berüh­rende Unsi­cher­heit deutlich wird, die nichts anderes bedeutet als ein Zerbre­chen an sich selbst, an der Welt.
Wer kann sich schon heraus­nehmen, darüber zu spotten?

Wohin diese Reise geht, welches Ende Bonello für Gabrielle und ihre Liebe bereit­hält, soll natürlich nicht verraten werden. Es ist aber nicht zu viel gesagt, wenn auf die desolaten Zustände verwiesen wird, die diese (filmische) AI-Zukunft für uns bereit­hält. Nicht das Ende der Kunst als Handwerk wird hier ins Zentrum genommen, viel mehr die absolute Gleich­ma­chung der Gefühle, die Geschichten und Geschichte nurmehr als Mittel benutzt, um zu erzählen, was die Einsam­keit stillt.
»We fucked it all up. We had it all«, heißt es an einer Stelle. An diesem »all« gilt es fest­zu­halten, auch wenn es mit einer uner­klär­li­chen Trau­rig­keit einher­geht, einer Einsam­keit, die zerstö­re­risch sein kann, die aber noch immer da ist. In Paris, in L.A., sogar in der Zukunft wird von Räumen erzählt, die die ange­spro­chene Historie enthalten. Oft ins Radikale entwi­ckelt, ja, doch noch immer greifbar, nach­voll­ziehbar, als Punkte der Welt­ge­schichte.
Die emotio­nale Gleich­schal­tung kann dies nicht ändern, sie findet aber doch ein Bild dafür, das schreck­li­cher ist, als es zuvor hätte sein können: Ein grüner Raum, der alles sein kann, doch nichts ist. Auch in ihm wird geschrien. Wer soll hierin noch die Angst verstehen, die Geschichte erkennen, eine Analyse vornehmen?
Wie soll sich dieser Ort entwi­ckeln, wie überhaupt als weltlich verstanden werden?

»He only makes love in his dreams, not in real life«, wird die ange­spro­chene L.A.-Louis-Figur charak­te­ri­siert. Im Digitalen dann verschwindet das echte Leben vollends, wird für immer ein Traum bleiben. Ein Verspre­chen, alles zu haben, fernab jeden Seins, fernab gar der Möglich­keit der Trans­for­ma­tion. Und so bleibt nur die Einsam­keit, ohne Hoffnung, bis ans Ende aller Tage. Jene werden alle gleich aussehen, unun­ter­scheidbar.
Kurzum: Die Historie unter­gräbt sich selbst, löscht mit sich ihre Anmut aus, die Hoffnung einer Umkehr.
Und sie wird: grün.

Was begonnen haben wird

Futur Perfekt: Bertrand Bonellos aufregendes Science-Fiction-Melodram erzählt von Liebe in Zeiten der Künstlichen Intelligenz und der kommenden Katastrophe

»Die Erzählung, die die Möglich­keiten des Lebens offenbart, erfordert aber letzten Endes doch ein Moment der Raserei, ohne welches ihr Autor blind wäre für diese exzes­siven Möglich­keiten.«
– George Bataille

Vor einem komplett grünen Digital-Screen lauscht eine Schau­spie­lerin den Anwei­sungen eines Regis­seurs, der nicht zu sehen, sondern nur über seine Stimme zu hören ist. Bertrand Bonello spricht ihn selbst – und das ist alles andere als ein Zufall.

Die Schau­spie­lerin soll puren Schrecken spielen, die Angst vor einem imaginären Feind. Es ist Entfrem­dung pur, denn die Schau­spie­lerin kann sich das alles im abstrakten Green-Screen-Studio ja nur vorstellen, muss es aus der Macht nur ihrer eigenen Phantasie erst für die Leinwand erschaffen.
Dann bricht das Bild und zerfällt in eine Störung, die sich sofort in den Vorspann verwan­delt. Die Schein­hei­lig­keit unseres CGI-gesteu­erten modernen Kinos wird entlarvt.

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Dieser brillante Anfang liefert sofort einen der Schlüssel zum Vers­tändnis von Bonellos neuem Film: Wir haben es mit einem Werk in ständiger Frag­men­tie­rung zu tun, einem hyper­tex­tu­ellen Labyrinth, in dem sich die Geschichten, Genres, Bilder und Refe­renzen konzep­tuell über­la­gern.

Immer wieder gibt es in diesem Film solche Szenen, in der wir einer Schau­spie­lerin beim Spielen zusehen. Es ist die schlechthin groß­ar­tige Lea Seydoux, die hier, in ihrem viel­leicht bisher aller­besten Film, sämtliche Facetten ihrer Kunst auf die Leinwand bringen kann.
Sie ist wirklich mit einer hoch­dif­fe­ren­zierten, facet­ten­rei­chen Leistung dauer­prä­sent in diesem Film und in fast jedem Bild vertreten.

Dies, die Ebene des Spiels, ist zugleich die aller­erste von vier Zeit- und Hand­lungs­ebenen in diesem Film, der sehr schwer nach­zu­er­zählen ist, aber sehr leicht und sinnlich und – ja: – wunder­schön anzu­schauen.

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Wenn nicht alles hier ein Spiel der Kunst und der Auftakt im Green Screen die »wahre Welt« des Films ist, dann befindet sich die »reale« Hand­lungs­ebene von La bête in der nahen Zukunft des Jahres 2044. Die wird komplett von Künst­li­cher Intel­li­genz beherrscht; in den technisch perfekt ausge­stat­teten Gesell­schaften herrscht 60 Prozent Arbeits­lo­sig­keit, den Rest der Arbeit machen die Roboter.
In dieser von der KI kontrol­lierten Gesell­schaft haben Emotionen keinen Platz mehr. Gefühle sind zu über­flüs­sigen Hinder­nissen geworden, die die Produk­ti­vität beein­träch­tigen.

KI ist zugleich die Hüterin der Festung von Raum und Zeit, die in ihrer Erschei­nung einer Biblio­thek ebenso ähnelt, wie dem, was früher treffend »ein Tanzsaal« genannt wurde, oder später dann »eine Diskothek« oder »ein Club«, jeden­falls ein Ort für die gewöhn­li­chen Sterb­li­chen, die in der Lange­weile des Alltags ihr Leben fristen. Hier werden die Gesetze des Glamours und der Anziehung unter der Herr­schaft eines Spiels mit eigenen Regeln außer Kraft gesetzt, eine Flucht­mög­lich­keit, nach der sich alle Normal­sterb­li­chen sehnen.

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Die von Seydoux gespielte Haupt­figur heißt Gabrielle. Gabrielle will ihre DNA von der KI »reinigen« lassen. Das führt sie auf eine Art Zeitreise. Die zwei anderen Zeit­ebenen des Films in denen sie sich zeitweise aufhält, sind unsere Fast-Noch-Gegenwart des Jahres 2014, kurz vor einer kommenden Kata­strophe, die 2025 begonnen haben wird, und auch einen US-Bürger­krieg mitein­schließt, und in der nur China Trost und Sicher­heit bietet.
Und die Vergan­gen­heit des frühen 20. Jahr­hun­derts, das Jahr 1910, kurz vor der Urka­ta­strophe dieses Jahr­hun­derts, des (Ersten) Welt­kriegs, der diese »Welt von Gestern« (Stefan Zweig) ein für alle mal zerstörte.

Gabriele bewegt sich zwischen diesen verschie­denen Zeiten. Am ehesten tut sie das auf virtu­ellen wegen mittels der fort­ge­schrit­tenen KI jener Jahre; viel­leicht tut sie das auch mittels Zeitreise, oder in der Art von Psycho­ana­lyse und Hypnose, oder einfach nur im Traum. Jeden­falls ist dies – sie liegend in einem schwarzen Raum, mit geschlos­senen Augen in einer Art Trance – die Ursi­tua­tion des Kinos als Traum­fa­brik.

Im Jahr 1910 entfaltet Bonello ein sinn­li­ches, auf 35mm-Film gedrehtes Melodram, das Remi­nis­zenzen an Martin Scorseses The Age of Innocence wachruft, und sich vor dem Hinter­grund der Über­schwem­mung von Paris entfaltet, die sich im Jahr 1910 real ereignete – auch wenn man zunächst glaubt, es handle sich bei den hier gezeigten Bildern um eine wahn­wit­zige Fiktion.
1910 ist Gabrielle eine hoch­ge­fragte Musikerin, »eine Pianistin von seltener Fähigkeit«. Die bessere Gesell­schaft und deren Mode­schöpfer reißen sich um sie.

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Bei einem Gespräch während einer Ausstel­lungs­eröff­nungs­soiree wird Gabrielle ein ein anderes Gespräch erinnert. In dem ging es um ein Gefühl aus ihrer Jugend: »Das Gefühl von drohendem Unheil das Gefühl dass etwas Schreck­li­ches passiert. Dass etwas Sie einholen wird. Sie möchten keine Beziehung führen da ihr mit Sicher­heit etwas zustoßen wird.«
Sie antwortet: »Ich war jung und roman­tisch.«

Aber dies ist eine roman­ti­sche Geschichte. Irgend­etwas wird auftau­chen, »wie ein Biest«.

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Auf ihren Zeitreisen entdeckt Gabrielle irgend­wann, dass sie in all ihren verschie­denen Exis­tenzen immer in Louis verliebt gewesen ist.

Doch der Louis aus L.A. im Jahr 2014 ist ein Monster, das als Reaktion auf seine Zurück­wei­sung entstanden ist, ein »Incel«, während Gabrielle aus dem Jahr 1910 zu spät erkennt, wem sie ihr Herz hätte schenken sollen. Die Figuren im Jahr 2044 denken darüber nach, ihre Gefühle auszu­lö­schen – das jüngste Beispiel für die seelen­be­täu­bende Aktivität, die die Menschen schon immer betrieben haben.

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La bête geht auf »The Beast in the Jungle« zurück, eine Novelle von Henry James aus dem Jahr 1903. Diese Erzählung, die als eine der besten Kurz­ge­schichten von James gilt, behandelt univer­selle Themen: Einsam­keit, Schicksal, Liebe und Tod. Im Zentrum steht ein Mensch, der seine Liebe verfehlt, weil er von der Vorahnung einer fürch­ter­li­chen Kata­strophe gepeinigt wird.

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Bertrand Bonello ist einer der aufre­gendsten Autoren­filmer Frank­reichs. Bonello hat ein Buch über »Filmes Fantomes«, über »Geis­ter­filme« geschrieben, Filme, »die man nicht den man nicht drehen konnte?« Was macht man als Regisseur mit so einem Film? »Einem Film, der phan­ta­siert, geschrieben, gear­beitet und bis zur Erschöp­fung geträumt wurde? So sehr geträumt, dass er zu einem Albtraum wird, da die Nächte Tag für Tag die Bilder offen­baren, die er produ­zieren sollte.«
Sich jedes Jahr wieder darin zu vertiefen, die Notizen durch­zu­lesen, die Fotos von den Vorbe­rei­tungs­ar­beiten zu sehen, sich zu erinnern, warum der Film nicht zustande kam, über den Weg nach­zu­denken, den man wieder einschlagen müsste. Diese Phantome tauchen in anderen Filmen wieder auf, als Fragmente, zerstü­ckelt, inkohä­rent. »Die Geis­ter­filme kommen immer wieder. Sie sind offen­sicht­lich die schönsten, weil sie nicht miss­lungen sind.«

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Rückwärts gewandte Zukunft trifft vorwärts gewandte Vergan­gen­heit – die Zeit­ebenen des Films sind ellip­tisch mitein­ander verbunden, durch Wieder­ho­lungen, Param­nesen – also eine Störung, bei der die betrof­fene Person »Erin­ne­rungen« an Ereig­nisse hat, die niemals statt­ge­funden haben – und durch poetische Motive, wie agora­pho­bi­sche Tauben, oder Puppen, deren Entwick­lung wir über den Lauf der Zeit mitver­folgen, von einer manuellen Fabrik für Kinder­spiel­zeug bis zu den von der KI herge­stellten Erwach­senen-Robotern unserer allzu nahen Zukunft.
Solche Motive verbinden die Zeit­ebenen und ermög­li­chen ihnen in Teilen, mitein­ander zu kommu­ni­zieren und eine flüssige Erzählung zu bilden. Der Komple­xität dieser Erzählung kann eine linear geschrie­bene und zu lesende Film­kritik trotzdem nur ansatz­weise gerecht werden. Bonello stellt eine Verbin­dung zwischen persön­li­chen und inter­na­tio­nalen Kata­stro­phen her, und konfron­tiert dies zwei Bestien Liebe und Angst vor der Zukunft.
Gleich­zeitig unter­nimmt es La bête, Diskurse über den filmi­schen Akt selbst, über Insze­nie­rungs­ver­fahren und Aufnah­me­tech­niken zu führen, und über die Notwen­dig­keit, sich in Bildern der Vergan­gen­heit wieder­zu­er­kennen, um neue Bilder in die Zukunft zu proji­zieren.

Dies ist eine überaus sinnliche, physische, immersive Reise, auf der der Filme­ma­cher David Lynchs Mulhol­land Drive ínter­pre­tiert, und Harmony Korines Trash Humpers zitiert, um den Zuschauer zu hypno­ti­sieren, ohne ihn seines aktiven Blickes zu berauben, eines Blickes aller­dings, der bereit ist, sich über­wäl­tigen zu lassen.

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Worum es Bonello geht, ist eine Kritik der Gegenwart. Es ist glasklar, dass er die Neuen Medien und Künst­liche Intel­li­genz satirisch und humorvoll kriti­siert.

Mit seinem Green-Screen-Auftakt und dem unkon­ven­tio­nellen Abspann – man muss einen QR-Code scannen, um ihn zu sehen – verachtet La bête ganz offen unsere neue digitale Realität. Zugleich argu­men­tiert der Regisseur, dass der Prozess der Entmensch­li­chung auf unzählige viel subtilere Arten statt­findet.

In Filmen wie Nocturama schil­derte Bonello Menschen, die vom Leben lobo­to­miert zu sein schienen, deren vergeb­liche Hand­lungen ein verzwei­felter Versuch sind, ihrer eigenen Bedeu­tungs­lo­sig­keit einen Sinn zu geben. Ein ähnliches Gefühl von Ennui durch­dringt auch La bête, denn schon die Szene völliger Künst­lich­keit zu Beginn etablierte ein Unbehagen, das sich durch den ganzen Film zieht.

Zugleich gelingt es Bonello unglaub­lich gut, mit unseren Gefühlen, Empfin­dungen und Emotionen zu spielen. Dies ist Science Fiction, es ist ein von David Lynch inspi­rierter Psycho­thriller. Vor allem aber ist La bête ein hoch­ro­man­ti­sches Melodram.

Es geht hier ganz ernsthaft darum: Wie lebt man? Was bleibt eigent­lich übrig von uns, wenn man Roboter nicht mehr von Menschen ausein­an­der­halten kann, wenn man sich in einen Menschen verliebt, der sich dann als Roboter entpuppt?

Oder wenn wir Menschen uns immer mehr selbst den Robotern annähern und robo­ter­hafte Verhal­tens­weisen entwi­ckeln, wenn wir den Algo­rithmen gehorchen und den kleinen Maschinen, die uns lenken.

Diese Frage wird gestellt. Und sicher­lich die Frage: Woran können wir uns fest­halten? Worauf können wir aufbauen? wie kommen wir wieder zum Ernst zurück? Meinet­wegen auch zum Eigent­li­chen. Also zu etwas, an das wir wirklich glauben können? Viel­leicht auch zu Utopien? Viel­leicht auch zu univer­salen Werten?

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Bonello ist ein konse­quenter Film über Liebe im Zeitalter ihrer tech­ni­schen Repro­du­zier­bar­keit geglückt. Ein kluger, facet­ten­rei­cher Film, und ein höchst virtuoser im mehr­fa­chen Sinn: Er zeigt die Virtuo­sität dieses Regis­seurs, er zeigt auch die Virtuo­sität von Lea Seydoux, und er zeigt die uner­schöpf­li­chen Möglich­keiten des Kinos.

La bête ist kurz gesagt: Der beste Film des Jahres!