Großbritannien 2021 · 99 min. · FSK: ab 12 Regie: Kenneth Branagh Drehbuch: Kenneth Branagh Kamera: Haris Zambarloukos Darsteller: Jude Hill, Caitriona Balfe, Jamie Dornan, Lewis McAskie, Judi Dench u.a. |
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Ein so gnadenloses wie bewegendes Rütteln an der britischen Selbstverständlichkeit | ||
(Foto: Universal) |
Gerade hat sich der nordirische »Bloody Sunday« zum 50. Mal gejährt, da kommt Kenneth Branaghs Belfast in die Kinos, in dem er die Northern Ireland riots des Jahres 1969 zum Anlass nimmt, um einen brennglasartigen Blick auf seine eigene Kindheit zu werfen und an einen Krisenherd zu erinnern, der im Rahmen des Brexit wieder in den Fokus der Öffentlichkeit geraten ist. Was für Marcel Proust der Geschmack und Geruch von Madeleines nach dem Eintauchen in Lindenblütentee war, um einen beispiellosen, literarischen Erinnerungssog auszulösen, ist für Kenneth Branagh ein Anschlag während der Riots von katholischer Aktivisten auf die von mehrheitlich von Protestanten und Anhängern der Royal Ulster Constabulary (RUC) bewohnten Straße, in der damals auch der neunjährige Kenneth lebte.
In Branaghs Film heißt Kenneth Buddy und wird von dem großartig aufspielenden Jude Hill verkörpert, mit dessen Blicken wir vom Anschlag angefangen immer tiefer in Branaghs Erinnerungen eintauchen. Wir lernen die Eltern kennen, die Mutter (Caitríona Balfe), die Buddy als fast Alleinerziehende vor den Gefahren zu schützen versucht und mit ihrem Ehemann (Jamie Dornan), der als Gastarbeiter in England lebt und nur selten vor Ort ist, mehr und mehr in eine Ehekrise schlittert. Denn Pa fordert wegen der Gefahren eine Migration nach England, Ma möchte jedoch bleiben, allein Buddys Großeltern, eindrücklich von Judy Dench und Ciarán Hinds dargestellt, bieten so etwas wie einen kulturelle Identität vermittelnden Anker der Sicherheit.
Vor der historisch verbürgten Zuspitzung der Situation, in der nicht nur Buddys Vater, sondern auch Buddys Bruder Will (Lewis McAskie) von den sich radikalisierenden Fraktionen zu einer klaren Stellungnahme gefordert werden, skizziert Brannagh jedoch auch den ganz normalen Alltag eines neunjährigen Jungen, der sich in eine katholische Mitschülerin verliebt und nicht weiß, ob das so gut ist. Über die Schulebene und die Freundschaften, kleine Diebstähle und Straßenfeste gelingt es Branagh, ein so eindringliches wie zärtliches Porträt einer zerrissenen Gesellschaft zu zeigen, eine Gesellschaft, die durch kleinste »Fehlzündungen« zum Explodieren gebracht werden kann. Dass das nicht nur Teil einer längst vergangenen Zeit ist, sondern auch in der jüngsten Gegenwart wieder möglich ist, illustrieren die Anspannungen der letzten Monate in der Ulster-Region. Und ein Film, wie der auf der gerade zu Ende gegangenen Berlinale gezeigte Klondike von Maryna er Gorbach über die politische und ethnisierte Zerrissenheit einer Familie in der Ost-Ukraine macht nicht nur deutlich, wie aktuell, sondern auch wie universell diese Konflikte sind.
Doch anders als Gorbach ist Branaghs Geschichte auch seine eigene, ganz persönliche Geschichte, die er durch die Wahl von kristallklarem Schwarz-Weiß auf die Geschichte und die Dialoge reduziert und auch inhaltlich sehr deutliche Verweise auf seinen späteren Werdegang gibt. Der unter dem Weihnachtsbaum drapierte Agatha-Christie-Band etwa könnte keine schönere Anspielung auf Branaghs gerade erschienene zweite Christie-Adaption, Tod auf dem Nil, sein.
Doch mehr als das persönliche Leben zu erklären, reiht sich Branagh mit seinem autofiktionalen Ansatz, mit dem er er erstmals um die ganz großen Filmpreise konkurriert (sieben Oscar-Nominierungen, unter anderem als bester Film, für die beste Regie und für das beste Originaldrehbuch) in eine gerade durch die Filmlandschaft wogende Welle von Regisseuren ein, die über ihre Jugend und Kindheit auch unsere politische und persönliche Gegenwart erklären, sei es Édouard Bergeons Das Land meines Vaters, Janna Ji Wonders Walchensee Forever, Die Hand Gottes von Paolo Sorrentino und natürlich Paul Thomas Anderson und sein Licorice Pizza. Doch am nächsten ist Branaghs Film wohl Steve McQueens meisterlicher Film-Anthologie Small Axe, denn so wie McQueen rüttelt auch Branagh an den Grundfesten britischer Selbstverständlichkeit, weil er so gnadenlos wie bewegend zeigt, welche Auswirkungen eine kolonialisierte Vergangenheit wie die irische auf die folgenden Generationen hat und wie schwer, ja fast unmöglich es ist, diese Konflikte zu lösen. Und das nicht nur in Irland.