Bones and All

Italien/USA 2022 · 131 min. · FSK: ab 16
Regie: Luca Guadagnino
Drehbuch:
Kamera: Arseni Khachaturan
Darsteller: Taylor Russell, Timothée Chalamet, Michael Stuhlbarg, Mark Rylance, Chloë Sevigny u.a.
Filmszene »Bones and All«
Sie haben sich zum Fressen gern
(Foto: Warner Bros.)

Eat the Rich and Lick it Up

Romantische Kannibalen: Bones and All von Luca Guadagnino

»I dont want to hurt anybody.« – »Famous last words.«
Film­dialog aus Bones and All

Als erstes sieht man gemalte Bilder von elek­tri­schen Strom­masten. Das Ganze führt uns gleich darauf, was denn ein Bild ist, und wie weit Film mit Malerei zu tun hat.

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Danach magische Momente im Kino: Gerade hat man es sich etwas zu wohlig einge­richtet in einem stil­si­cheren US-High­schooldrama, in dem zu gutem 80er-Jahre-Pop und Ambient-Tontep­pi­chen schöne junge Menschen schöne, wenn auch etwas banale Dinge tun, und man einem Mädchen wohl noch die nächsten zwei Stunden lang dabei zuschauen wird, wie sie gegen gewisse Wider­stände erwachsen werden wird. Doch dann passiert auf der Leinwand etwas Atem­be­rau­bendes.
Am späten Abend ist die 17-jährige Maren zuhause ausge­büchst, aus dem Fenster geklet­tert, um ihre Freun­dinnen zu treffen. Dort reden sie über Klamotten, Lippen­stift, Nagellack. »Girls' Stuff«. Maren kuschelt mit ihrer Gast­ge­berin auf dem Boden, schaut ihr Gegenüber noch zärtlich an, sie könnten sich gleich küssen, erotische Zwei­deu­tig­keit liegt jeden­falls in der Luft, erst recht, als Maren den Mittel­finger ihrer Freundin sinnlich lutscht und in den Mund nimmt. Dann beißt sie zu!
Und vom Finger bleiben nur noch die nackten Knochen übrig!

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Ein unglaub­lich starker Kinoau­gen­blick! Erst jetzt begreifen wir: Der Auftakt zu einem Kanni­ba­len­film, in dem die Welt der Menschen, jeden­falls in den USA, von diesen »Essern« durch­setzt ist, die sich unter­ein­ander erkennen, ansonsten aber unerkannt bleiben. Es sind freund­liche Wesen mit normalen Problemen, die sich auch von Obst oder Hähn­chen­fleisch ernähren, bis sie in regel­mäßigen Abständen der unkon­trol­lier­bare Heißhunger nach dem »Anderen« wie ein Trieb überfällt.
Bones and All heißt dieser Film des Italie­ners Luca Guada­gnino.

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Maren (gespielt von Taylor Russell), ein schwarzes Mädchen, ist still, sie hat kaum Erin­ne­rungen an ihre Mutter, wie sie der Freundin erzählt, sie wohnt in einem Wohnwagen in einem Trai­ler­park, ist also auch ökono­misch eine Außen­sei­terin.
Irgend­wann ist auch der Vater, der sich um sie kümmerte, weg. Er hat es nicht mehr ausge­halten mit der zunehmend mons­tröser werdenden Tochter. »You got clever. So fucking clever«, sagt er. Aber er lässt ihr eine Tonkas­sette da, die er bespro­chen hat. Das Ganze spielt in den 80er Jahren: Es gibt einen Walkman, es gibt keine Mobil­te­le­fone. Es ist die Zeit von Ronald Reagan.

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Jetzt begibt sie sich allein auf eine Reise durch die USA, auf der Suche nach ihrer Mutter. Sie führt sie zunächst von Virginia nach Massa­chu­setts. Nachts, bei einer einsamen Greyhound-Station trifft sie einen relativ alten merk­wür­digen Mann. Er heißt Sullivan und nennt sich Sully. Sully erzählt aus seinem Leben – »I ate my own granddad, while we were waiting for the under­taker« – erklärt ihr, dass es in ganz Amerika offenbar ziemlich viele Kanni­balen gibt, jeden­falls viel mehr, als man denkt.
Sie haben Prin­zi­pien: »Never eat an Eater.« Und: »I don’t kill people. At least I try not to.«

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Bald danach trifft Maren, die immer eine Barbour-Jacke trägt, auf Lee (Timothée Chalamet). Er hört Kiss (»Lik it up«), wird ihr Freund, dann ihr Lover.
So geht es um die Suche nach einem Vektor der Zuneigung in einer Welt, die ihr abgeneigt ist. Im Gegensatz zu Julia Ducour­neaus Raw geht es hier aber nicht um Sexua­lität und ihre Metaphern, nicht um »das Aufblühen einer jungen Frau«, sonderm um Psycho­lo­gi­sches: Die Existenz als »Außen­seiter«.

Regisseur Guada­gnino hat bekannt­lich keine Angst vor Genre­stoffen, er dreht immer wieder abwech­selnd in seiner Heimat Italien und in den USA.
Dies und eine fließende Kamera erinnert an Chloe Zhaos Nomadland und an American Honey von Andrea Arnold.

Zugleich ist dies auch ein Roadmovie, der seine Haupt­fi­guren durch diverse US-Bundes­staaten durch den »Blood Meridian« (Cormac McCarthy) führt, weil sie ihre Eltern suchen, sie aber erstmal den Budweiser-saufenden White Trash und die Hilly­billys finden lässt. Ein Spiel­bu­den­be­sitzer in Kentucky ist offen­sicht­lich schwul, lässt sich von Lee im Maisfeld verführen und wird gegessen. Das ist eine starke Szene, in der der Film dem Unaus­sprech­li­chen nahe kommt, Tod und Sex verbindet.

Dabei ist die Handlung immer wieder unter­bro­chen von Tagträumen oder Albträumen der Figuren. Es geht um Kanni­balen, die ihr Gewissen entdecken. Aber wo soll das hinführen, wenn jetzt auch noch die Monster ihr Gewissen entdecken? Es geht natürlich auch um Rebellion: »You wanna be people? Let’s be people. Hey, let’s be people for a while.«
Aber das Glück kann nicht von Dauer sein. Sully kommt wieder und wir verstehen: Amerika ist ein kanni­ba­li­sches Land.

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Dem Italiener Luca Guada­gnino ist das Kunst­stück eines zärt­li­chen Kanni­ba­len­films gelungen, der einige der stärksten Kinoau­gen­blicke des ganzen Film­jahres bietet.

Guada­gnino zeigt die Kanni­balen sympa­thisch und voller Gewis­sens­bisse, als sensible Wesen, die Trieb­täter sind, aber selber unter ihrem Trieb leiden. Weil der Regisseur eigent­lich von Außen­sei­tern erzählt: Es geht um das ganz Andere, um alles, was tatsäch­lich nicht inte­grierbar zu sein scheint, und unsere Toleranz auf echte Proben stellt: Die jungen »Esser« könnten genau­sogut auch Obdach­lose oder Drogen­süch­tige sein. Es geht um Menschen, die auf andere wie abstoßende Monster wirken, in bürger­liche Zusam­men­hänge nicht inte­grierbar sind. Und doch ist dies ein bei aller Subti­lität erschre­ckend grafi­sches Horror-Drama. Dies ist ein Horror­film, ja, aber für Erwach­sene, der mit einer klugen Psycho­logie von den Orten erzählt, an denen Wärme entsteht, und zwar auf brutalst­mö­g­liche Weise.

Bones and All ist wunder­schönes, über weite Strecken aufre­gendes Kino: Ein Roadmovie, der die Vorstel­lung von ameri­ka­ni­scher Freiheit entfaltet, ein Liebes­film, ein Mons­ter­film.