USA/GB/CDN 2024 · 216 min. · FSK: ab 16 Regie: Brady Corbet Drehbuch: Brady Corbet, Mona Fastvold Kamera: Lol Crawley Darsteller: Adrien Brody, Guy Pearce, Felicity Jones, Joe Alwyn, Raffey Cassidy u.a. |
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Ein kultiviertes, geduldiges und scharfsinniges Epos... | ||
(Foto: Universal) |
László, ein jüdischer Emigrant und Architekt, versucht 1947 in Amerika ein neues Leben zu beginnen und sein Glück zu machen. Er trifft auf einen reichen Gönner, der ihm die Chance seines Lebens eröffnet. Doch zunehmend geraten Geld und Kunst, Geist und Macht und die persönliche Rivalität der beiden Männer in einen unauflöslichen Konflikt.
So einen Film hat man schon lange nicht mehr gesehen: ein Film, der in der Tradition des großen klassischen Hollywood steht, den man mit Klassikern wie Orson Welles’ Citizen Kane ebenso vergleichen kann wie mit The Fountainhead, King Vidors Ayn Rand-Verfilmung, oder mit Christopher Nolan –
also mit den ganz Großen.
In Venedig gab es einen Silbernen Löwen als Regiepreis, vor wenigen Wochen drei Golden Globes und jetzt wurde Der Brutalist, die erst dritte Spielfilmregie des hochbegabten Ex-Schauspielers Brady Corbet für gleich zehn Oscars nominiert.
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Warum? Was macht diesen Film so außergewöhnlich? Womöglich sehnt sich Amerika klammheimlich nach der Zeit des klassischen Hollywood. »Make America great again« – das Trump-Motto durchzieht auch die Filmbranche, die nicht anders als der Rest der US-amerikanischen Ökonomie von der chinesischen Filmszene, den Indern, aber auch von kleineren Ländern in Lateinamerika und Europa und vor allem von neuen Technologien, Gamern und Streamern herausgefordert wird. Nur mit
Superhelden kann man da auf die Dauer nicht gegenhalten, und jenseits der immer formatierter wirkenden Hollywood-Stoffe und einer geradezu reaktionären Rückkehr zu brav-biederen Pseudo-Tabubrüchen wie in Babygirl diese Woche fehlt dem US-Kino in den letzten Jahren echte Tiefe und jede Poesie. Nur einzelne Regiekünstler wie Sofia Coppola, Quentin Tarantino und Christopher Nolan können hier
herausstechen und ein paar alte Meister wie Martin Scorsese erinnern an ihre großen Zeiten.
Und dann kommt da plötzlich Brady Corbet. Er fragt nicht um Erlaubnis, sondern fordert die Götter heraus, mit großer Geste: Gleich in der ersten Einstellung wird alles auf den Kopf gestellt – wenn auch nur im Blick der Hauptfigur (und des Publikums).
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Der Anfang ist buchstäblich umwerfend. Die Stimme einer Frau erzählt in Briefform aus dem Off von einem Verhör. Die Briefschreiberin selbst ist das Objekt der scharfen Befragung. Folter wird angedeutet. Die Sprache ist ungarisch; der Brief richtet sich an einen »László«. Das Verhör könnte sich schon während des ungarischen Faschismus im Zweiten Weltkrieg ereignet haben, oder irgendwann im Stalinismus der unmittelbaren Nachkriegszeit.
Plötzlich wechselt die Szenerie: Man sieht
viel Braun und Grau, man sieht einen Mann, mehrere Männer, in einem dunklen Raum; Körper und Stimmen drängeln sich, es ist laut, die Atmosphäre bedrängend, unangenehm, die Perspektive ist schief und verdreht, die Kamera taumelt, das Licht kommt von oben, und dann erst begreift man: Es ist ein Schiff, dessen Deck sich gerade öffnet und das erste, was zu sehen ist, ist die auf dem Kopf stehende, dann horizontale Freiheitsstatue.
Wird sie je wieder auf ihren Füßen stehen? Das ist eine der Fragen, die sich von nun an durch diesen Film ziehen. Schon im ersten Bild wird sie nahegelegt, im verzerrten Blick, dem ersten, das ein Mann von Amerika einfängt, nachdem nach einer langen Reise die Luke aufgeht. Dazu atonale Musik, modernistische Töne.
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Dieser Film wird von den Vereinigten Staaten handeln, aber er suggeriert zugleich von Anfang an den sofort den Zusammenbruch des Mythos »Amerika«. Dem Prolog zufolge ist Der Brutalist, der dritte Spielfilm von Brady Corbet – nach Childhood of a Leader und Vox Lux, in denen es ebenfalls direkt um Faschismuserfahrungen ging – eine Reise von der Dunkelheit ins Licht. Aber dieses Licht ist nie ein erlösendes. Immer wieder während des gesamten Films wechseln sich Licht und Dunkelheit ab, und am Ende des Tunnels steht bestenfalls Ruhe, aber kein Frieden.
Der Mann, der hier ankommt, und den die Kamera nun begleitet, ist jener László des Briefs, László Tóth, ein modernistischer Architekt, der der Shoa und dem Faschismus entronnen mit nichts in der Tasche 1947 aus Europa nach Amerika kommt, aus Ungarn nach Pennsylvania. Von nun an versucht er, einen Platz in der amerikanischen Gesellschaft zu erringen.
Noch in den ersten Minuten skizziert Brady Corbet in wenigen schnellen Szenen das 20. Jahrhundert als das Jahrhundert der
Einwanderer. Er zeigt Ellis Island, provisorische Unterkünfte, streift Prostitution, Ausbeutung und Rassismus, ein Sujet, das in diesem Film bis zum Ende auch eine Rolle spielen wird. Dann steigt László in einen der Greyhound-Busse, die die Einwanderer im Land verteilen, und der nächste Abschnitt beginnt.
Gegliedert ist der Film in eine Ouverture, zwei Hauptteile, die von einer genau 15-minütigen Pause unterbrochen werden und einen Epilog. Das erinnert an die Unterteilung einer Oper, genauso wie die Zeit, der sich der Film nimmt, und sein epischer Grundton. Auch die mal atonale, mal immersive, symphonisch wirkende Musik, die grundsätzlich ein bisschen zu laut und zu betont eingespielt wird, lässt zusammen mit dem nie verborgenen Kunstwillen Corbet als einen Wagnerianer des Kinos erscheinen: Film ist bei ihm wie für Sergej Eisenstein und Orson Welles ein Gesamtkunstwerk aus höchstem Anspruch, dominiert von musikalischem Denken: Kino als Fortsetzung von Musik mit anderen Mitteln.
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Der erste Hauptteil, über dessen Beginn auch die auffallend schönen, in konstruktivistischer Schrift gestalteten Zeilen der Titelsequenz von rechts nach links über das Bild wandern, heißt »The enigma of arrival 1947-1952«. Dieses Rätsel der Ankunft wird nicht weiter vertieft, dafür lernt man die Hauptfigur kennen. László war erfolgreicher Bauhaus-Schüler. Durch verschiedene, nur zu ahnende Erlebnisse traumatisiert, beginnt er in den USA zuerst in bitterster Armut: Er muss Kohle schaufeln und auf dem Bau arbeiten. Durch eine glückliche Fügung des Schicksals wird er von dem Unternehmer und Multimillionär Harrison Van Buren als begabter Architekt entdeckt und mit verschiedenen Aufträgen gefördert. Ist es reiner Zufall, dass diese Figur den Namen eines US-Präsidenten trägt? Und dass László Tóth eigentlich der Name jenes geistesgestörten Mannes ist, der 1972 mit Hammerschlägen Michelangelos Pietà schwer beschädigte?
Nachdem er sich in dessen Augen bewährt hat, erhält László von Van Buren den Auftrag seines Lebens, der für den Architekten schnell auch zu einer privaten Obsession wird: Auf einem Hügel nahe Van Burens Landsitz soll er ein großes Gemeindekulturzentrum bauen, das auch eine Kapelle enthalten und den Namen von Van Burens Mutter tragen soll – eine Art Mausoleum. Es soll im modernistischen Stil des Brutalismus gebaut werden – so erklärt sich der Titel des
Films.
Brutalismus ist die Architektur des Puren, Rohen, der sehr harten, hohen Betonwände, der Kontraste. Dadurch, dass es weder Tapeten, noch Holzverkleidung oder gar Plastik und Metall gibt, wird der darunterliegende Beton offen freigelegt. Das Beton-Mammutwerk, an dem László irgendwo im Nichts vor Philadelphia fast ein Jahrzehnt lang baut, erinnert im Megalomanen des Projekts und seiner Unfähigkeit zur Vollendung, wie in der Hybris des Erbauers, an das Opernhaus in
Werner Herzogs Fitzcarraldo.
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Man kann in diesem kompromisslos modernen Bau und dem, was ihm geschieht, aber auch eine Metapher für die Moderne als solche sehen, die stellvertretend für viele andere vom Philosophen Jürgen Habermas als »unvollendetes Projekt« beschrieben wurde.
Im Aufeinandertreffen der denkbar unterschiedlichen Temperamente und Charaktere László und Van Buren sind unschwer auch Repräsentanten dieser Moderne und ihrer Dialektik erkennbar. So wie Repräsentanten des (Vorkriegs-)Europa und der USA. László ist letztlich ein Idealist, der zwar die Fähigkeit zum Pragmatismus besitzt, aber ihm fehlt der Wille zum Kompromiss. Er möchte sich den Traum eines Architekten erfüllen, einmal alles so bauen zu können, wie er will. Van Buren wiederum ist großzügig, neugierig und offen genug, um den Einwanderer aufzunehmen und ihm viele Möglichkeiten zu geben, um seinen Traum zu erfüllen. Aber er kauft sich in László auch ein menschliches Spielzeug, das auf seiner Payroll steht, und in dessen Wünsche er sich einschreibt, sie sich zu eigen macht. Van Buren will Anerkennung als Kapitalist und Mäzen, László als Künstler und Könner. Beide sind zwei Willensmenschen, die letztlich den Willen ihres Gegenüber bezwingen wollen. Beide sind Außenseiter unter ihresgleichen und zumindest hierin Seelenverwandte.
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In beiden Figuren manifestiert sich aber auch Grundsätzliches: Das Verhältnis der Kunst zur Welt. Künstler leiden, Künstler sind sensibel, Künstler geben sich preis. Sie müssen es jedes Mal wieder aushalten, dass der Plebs mitredet, dass Banausen bestimmen, dass willkürlich und demokratisch entschieden werden soll, wo es um Schönheit und Wahrheit gehen müsste.
Diese tiefen Leiden der Künstler vollzieht der Film nach. Warum lasse ich mich ausbeuten? Warum lasse ich mich quälen, sekkieren von Geldgebern, die ganz andere Dinge wollen? Von Menschen, die keine Ahnung haben, die nicht auf meinem Niveau sind? Warum stelle ich mich aus und zur Schau und gebe mich preis vor einer Öffentlichkeit, die größtenteils am Kunstwerk und meiner Arbeit nicht sehen kann, was zu sehen wäre?
Künstler, auch Filmkünstler, fragen sich jeden Tag ein Leben lang: Mache ich noch weiter? Lasse ich mir das noch gefallen? Warum habe ich es hier mit lauter kleinen Geistern zu tun? Warum regieren immer die Bedenkenträger? Die Controller? Die Rechenschieber und Pfennigfuchser? Warum, warum, warum?
Endlich einmal zeigt ein Film das alles, empathisch, in Lászlós Figur, ohne es billig aufzulösen, oder gar lächerlich zu machen.
Der Kapitalist Van Buren, ein Manager, der groß denkt und alles will, der aber innerlich leer ist, doch sensibel genug, um unter dieser Leere zu leiden, um zu wissen, zu spüren, dass da mehr ist, er steht zu László, gibt ihm alle Möglichkeiten, jedenfalls lange Zeit.
Und dann doch nicht. Denn er kämpft letztlich nur für den persönlichen Ruhm. Für den Ruhm zu Lebzeiten, jetzt und hier; er baut ein Mausoleum für das Private, wo László an einem Mausoleum für die Menschheit oder
jedenfalls für all die Ermordeten der Shoa arbeitet. Auch ohne es zu sagen.
So haben diese beiden Außenseiter auch ihre eigene Agenda. Sie benutzen den jeweils anderen.
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Adrien Brody und Guy Pearce haben in diesen Rollen herausragende Auftritte. Während Pearce seine Figur an die größten Kapitalistenfiguren Hollywoods, an den Titelhelden in Citizen Kane und an verschiedene Darstellungen von Howard Hughes anlehnt, und eine Person zeigt, die brutale Härte mit echter Freundlichkeit verbindet, und eine dritte Seite sorgfältig zu verstecken trachtet, trägt Brody seine Figur aus Roman Polanskis Der Pianist in diese Rolle hinein. Ein Verfolgter und ein Künstler. Ein an Körper und Seele Versehrter, in dessen Gesicht sich Lachen und Weinen zu paaren scheinen.
Aber die etwas zu einseitige Aufmerksamkeit auf Brodys Leistung und Figur ist doppelt ungerecht. Fast alles an Der Brutalist hängt von Guy Pearces Leistung ab. Schwer vorstellbar, wie Brady Corbet die Figur anders hätte besetzen können: Ein schillernder Reicher, ein großzügiger Mäzen, ein kaputter Machtmensch, ein Muttersöhnchen, ein soldatisch-gepanzerter Zivilist. Ist er ein Trottel, oder zutraulich und offen? Will er einfach aufsteigen, oder mag er Lászlós Entwürfe tatsächlich? Mag er László? Oder fasziniert ihn die Tatsache, dass er ihn nicht versteht?
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Nachdem der erste Teil des Films vom Aufstieg László Tóths gehandelt hat, erzählt der zweite Teil, »The Hard Core of Beauty 1953-1960« (»Der harte Kern der Schönheit«), von einer Art Abstieg: Zu Beginn kommen Erzsébet und Zsófia, seine Ehefrau und seine Nichte, die in Ungarn zurückblieben, in die USA nach – schwerbehindert und durch Hunger-Osteoporose an den Rollstuhl gefesselt. Zuvor war immer nur von ihnen als Abwesenden die Rede gewesen, nun aber treten sie und mit ihnen die Schatten der europäischen Vergangenheit ins Licht des Films. Die Frau und die Nichte des Architekten existierten bislang nur in der Erinnerung des Protagonisten und in den Gesprächen, die er mit anderen führte, nur in Worten und Beschwörungen, fast geisterhaft. Nun wird klar, dass Europa bei Corbet auch als das Verborgene und Unbewusste Amerikas existiert, als das, was dieses Amerika nicht wahrhaben will, und immer wieder verdrängt.
Das Auftauchen von Erzsébet und Zsófia bringt die Handlung aber nicht wirklich voran, sondern behindert sie. Zsófia hat für eine Weile die Fähigkeit zu sprechen verloren, ohne dass die Ursache klar würde, ebenso wie der Film ihre Erlebnisse im Haus der Van Burens nur andeutet. Zunehmend reflektiert Lászlós Familie über die gebrochenen Utopien aus Fortschritt und Frieden, die im Amerikanischen Traum ebenso verkörpert werden wie im Staat Israel, wohin Zsófia schließlich auswandert.
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Die Bauarbeiten am Mausoleum geraten ins Stocken. Wie der Erzählfluss des Films, der allerdings mit Absicht, denn dass die Linearität des Aufstiegsversprechens des American Dream nicht (mehr?) funktioniert, schon in den 50er Jahren nicht mehr bruchlos funktionierte, ist ja gerade eine zentrale These des Films. Warum die Moderne entgleiste, warum plötzlich alles nicht mehr so glatt läuft, wäre genau zu analysieren. Der fehlende Geldfluss ist nicht das Entscheidende, genauso wenig
wie die Einwände der Philister. Es ist der Wille, der plötzlich schwach wird oder ganz schwindet.
Analog ins Stocken gerät aber auch die Moderne. Schon spätestens in den 60er Jahren, schon in Stilrichtungen wie dem Brutalismus deutet sich an, was man später die »Postmoderne« nennen wird, was von manchen ein bisschen verzweifelt als »Zweite Moderne« (Ulrich Beck) euphemisiert wurde, von anderen als reaktionärer Revisionismus gebrandmarkt. So oder so aber geschah da ein
unmerklicher Bruch.
All das sind Folgen des Zentralereignisses des 20.Jahrhunderts, des »Zivilisationsbruchs« (Hannah Arendt).
Zum Höhepunkt des zweiten Teils wird ein Zugunglück, und die Weise, wie der Regisseur dieses Geschehen lange vorher andeutet. Das eigentlich Unfassbare in diesem Moment ist aber, dass der Film hier gleichzeitig auch die Züge mitdenkt und unzweideutig evoziert, die zehn Jahre zuvor nach Auschwitz fuhren, wo die meisten ungarischen Juden vergast wurden. Oder nach Buchenwald, wo László irgendwie überlebte. Die Montage zwischen der Fahrt des Zuges, dem Verschwinden hinter den Wolken, dem Aufblitzen einer Explosion und der Verknüpfung dieser Aufnahmen mit dem Schmerzensschrei von Erzsbet, ist einer der Augenblicke, in denen Corbet neue meisterliche Filmmomente kreiert, und die deutlich machen, dass Der Brutalist auch ein Film über die Shoa ist.
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Erst im letzten Viertel des Films laufen alle Erzählfäden zusammen, und manches wird nun besser verständlich. Eine Reise zu den Marmorklippen des norditalienischen Carrara und ein sinnliches Abendfest bei den Marmorarbeitern, die früher antifaschistische Partisanen waren, leitet den unerhörtesten Moment des Films ein: Zuerst fühlt man sich ganz aus dem bisherigen Film herausgesogen, zärtlich in die immer erotische Traumlandschaft eines Bertolucci-Films hineinversetzt: Ein Tanz und der Flirt von László mit einer Tänzerin wird von Van Buren aus der Ferne beobachtet. Er sieht und spürt in diesem Augenblick, dass er kein Teil von alldem ist, Außenseiter bleibt und sich offensichtlich nicht mit diesen einfachen Leuten verbinden kann. Etwas später bricht dieses Ressentiment dann offen aus und Van Buren vergewaltigt László – und bringt damit die Sexualität als untergründiges Thema dieses Films zum Vorschein.
Es ist eine durch und durch verstörende Szene. Nicht wegen der Tat als solcher, sondern weil sie alle bisherigen Ereignisse in neuem, verändertem Licht zeigen. Und Van Buren als soldatisch gepanzerte Herrenmenschen voll innerer Unbeholfenheit. Der Regisseur legt uns Faschismus in seinem Doppelgesicht bloß: Als Infantilismus des »nicht zuende geborenen Mannes« und als sexuell grundierte Perversion.
Natürlich dürfen wir hier auch nicht vergessen: Der Steinbruch von Carrara war nicht nur der Lieblingssteinbruch der Römer und der Renaissance-Künstler wie Michelangelo, es war auch ein Lieblingssteinbruch der italienischen Faschisten, die sich als neues Rom inszenierten. Zugleich aber war dies ein zentraler Ort für die antifaschistischen Partisanen, worauf Corbet wie oben erwähnt, Bezug nimmt.
Und auch der besonders bei Postfaschisten beliebte Text des Faschismus-nahen deutschen Schriftstellers Ernst Jünger, die Fantasy-Fabel Auf den Marmorklippen, gewissermaßen das Schlüsselbuch der inneren Emigration der Nazis (!!) hat Bezüge zu diesem Ort.
Auch wenn dies eine gewagte Behauptung ist: ich glaube dass Regisseur Brady Corbet alle diese Dinge mitdenkt und er deswegen einen sehr differenzierten, referenzenreichen Film über Faschismus gemacht hat.
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Dazu noch eine Bemerkung, die über diesen »Theweleit-Komplex« der »Männerphantasien« hinausführt: Der unvergleichlichen Filmkennerin Lillith (Merci!) verdanke ich den treffenden Hinweis auf Liliana Cavanis Der Nachtportier: Tatsächlich ist auch dies hier noch einmal eine letzte Faschismusreferenz in dem an solchen Referenzen sehr reichen Film: Wenn Laszlo seine Frau Erzebet die höllische Schmerzen leidet, zunächst aufs Klo trägt, und ihr dann Heroin spritzt um die Schmerzen zu lindern, dann hat sie das gleiche Kleid an, das Charlotte Rampling im Nachtportier trägt. Und die Szenen der beiden sind auch sonst ähnlich gefilmt, wie die zwischen Rampling und Dirk Bogarde.
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Danach geht alles sehr schnell. László und Erzsébet gestehen sich – und den Zuschauern – die bittere Wahrheit ein: »Amerika ist verkommen. Die Landschaft, das Essen, die Menschen. Sie wollen uns hier nicht.« »Uns« – das meint die Juden. So brechen sie mit Van Buren, indem sie ihn sozial bloßstellen, und folgen Zsófia nach Israel.
Ein Epilog führt schließlich auf die Architektur-Biennale von Venedig 1980, und kontextualisiert den Stil von László unter der Überschrift »The presence of the past«.
Der Brutalismus erscheint als Reaktion auf den Zivilisationsbruch, als an Buchenwald angelehnte Architektur, als (schönes) Verbrechen aus Beton, als monumentales Mahnmal, das die Welt als Lager zeigt.
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Diese Gegenwart der Vergangenheit ist der rote Faden, der The Brutalist in seinem Ideen- und Facettenreichtum zusammenhält: Corbets Film rückt einen jüdischen Protagonisten und sein Traumatisiert-Sein ins Zentrum. Er zeigt eine Figur, die nicht mehr heimisch werden kann, weil die Vergangenheit nicht vergehen will, sondern anwesend bleibt, oder als verdrängte zurückkehrt. Anwesend ist diese Vergangenheit auch in der Moderne, deren Repräsentant László ist.
Der Stil des Films ist trotz »modernistischer« Momente bewusst »klassisch« gehalten. Gedreht wurde auf »Vista Vision«, dem Paramount-Format der 50er Jahre, und auf analogem Filmmaterial, vorgeführt wurde zur Premiere auf 70 Millimeter. Auch die Vorbilder sind amerikanische Klassiker: Neben offenkundigen Referenzen, Orson Welles Citizen Kane, King Vidors The Fountainhead, Paul Thomas Andersons There Will Be Blood kann man auch an Elia Kazans Einwanderergeschichten, Barry Levinsons Bugsy, und Sergio Leones Es war einmal in Amerika denken.
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Und doch ist Der Brutalist am Ende ein Film, der in der alptraumhaften Dunkelheit Europas und des europäischen Zivilisationsbruchs wurzelt. Moderne und Klassik sind auch hier kein Gegensatz sondern ineinander verschränkt.
Corbets Ehrgeiz, ein kultiviertes, geduldiges und scharfsinniges Epos in einer von Ignoranz und Aufmerksamkeitsdefiziten geprägten Zeit ins Kino zu bringen, ist unverkennbar. Dem Regisseur ist ein mitreißender Film geglückt, der eine Fülle von Themen anspricht. Ein Film, der nur sehr oberflächlich betrachtet um die Gegenwart einen Bogen schlägt. Seine konzentrierte Geschichte erzählt von den USA und Europa, Tatkraft und Intellekt, Hoffnung und Scheitern. Und vom Antisemitismus in Amerika.
Die besten Filme sind immer die, die wir spüren, nicht die, die wir hören und sehen. Der Brutalist ist erschütternd und schön.
Das ist der dritte Film des ehemaligen amerikanischen Schauspielers Brady Corbet, bekannt für seine schauspielerischen Arbeiten bei Michael Haneke oder Lars von Trier. Bereits mit seinem ersten Film The Childhood of the Leader etablierte er sich als ernst zu nehmender Regisseur. Sein zweiter Film Vox Lux lief im Wettbewerb um den Goldenen Löwen auf der 75. Viennale. Für seinen neuesten Film hat Corbet nach eigener Aussage sieben Jahre lang gearbeitet.
Düsteres Licht in den Schiffkabinen, verwackelte Bilder, schräge Kameraeinstellungen und verschiedene Geräusche, überlagert von einem aus dem Off vorgelesenen Brief; Treppen hinaufsteigend, in den dunklen Gängen herumirrend, torkeln Menschen im Dunkeln mit suchenden desorientierten Blicken aneinander vorbei, bis sie endlich das Licht erblicken. Und mit ihm die Freiheitsstatue, allerdings aus irritierend schrägen Perspektiven – eine nicht gerade subtile Metapher für Amerikas Wertesystem–, während der Brief aus dem Off über die Illusion der Freiheit reflektiert. Die Kamera fängt zwei jubelnde Männer ein, die ihr Glück nicht fassen können.
Dies sind die ersten Szenen – von Corbet als »Ouvertüre« bezeichnet –, die die Ankunft des Hauptprotagonisten László Tóth (Adrien Brody) auf Ellis Island schildern. Er ist ein fiktiver jüdisch-ungarischer Bauhaus-Architekt, der den Holocaust überlebt hat und 1947 in die USA emigriert, in der Hoffnung, ein neues Leben zu beginnen. Der Rest seiner Familie (seine Frau und seine Nichte) steckt an der österreichischen Grenze fest.
Das dreieinhalbstündige Epos, unterbrochen von einer 15-minütigen, instrumentalen Musikpause, schildert in klassischer, linearer Manier das Leben des Architekten in den USA. Auch die Form des Films – Unterteilung in zwei Teile und einen Epilog sowie das 70mm-Format – deutet auf den Anspruch hin, das Epische auf die Leinwand zu bringen. Die Musik von Daniel Bloomberg, ausgezeichnet mit einem Golden Globe für die beste Filmmusik, basiert auf verstörenden, Unruhe verbreitenden und zugleich pathetischen Klavierimprovisationen und verstärkt das Gefühl von etwas Großem, Monumentalem und zugleich Fatalistischem.
Im ersten Teil, »The Enigma of Arrival«, erfährt der Zuschauer peu à peu über den Architekten, der im Vorkriegseuropa dank seiner Bauhauswerke eine Berühmtheit war. Direkt nach seiner Ankunft lässt er sich in Pennsylvania nieder, wo er im Möbelgeschäft seines Cousins Attila (Alessandro Nivola) arbeitet. Dabei begegnet er dem reichen, launischen Industriellen Harrison Lee Van Buren (Guy Pearce), für den er dessen Bibliothek in einen minimalistischen und lichtdurchfluteten Raum mit bodentiefen Bücherregalen, die von ausklappbaren Lamellen in hellem Holz verdeckt sind, und einem Lesesessel im Stil von Ludwig Mies van der Rohe umgestaltet – ein Auftrag von Van Burens Sohn Harry (Joe Alwyn) als Überraschung für seinen Vater. Auch wenn die Überraschung bei dem Vater nicht so gut ankommt, erkennt Harrison Lászlós Talent, beauftragt ihn mit einem ambitionierten architektonischen Projekt: Dem Bau eines Gemeindezentrums auf einem Hügel in Doylestown – als Andenken an seine verstorbene Mutter. Der Baukomplex, der eine Bibliothek, einen Gemeinderaum, einen Sportsaal und eine Kapelle beinhalten soll, scheint von monumentaler Dimension zu sein – genau das Richtige für den ungarischen Architekten, der endlich wieder seine Bauhaus-Visionen verwirklichen kann. Doch der unberechenbare, exzentrische Mäzen, der die Kunst vor allem als Prestigeobjekt für sein eigenes Ansehen begreift, macht es László nicht leicht.
Der erste Teil verläuft voller Hoffnung auf einen guten Ausgang. Die Kamerafahrten sind gemächlich, kontemplativ, aber stetig voranschreitend. Die Kamera streift genüsslich durch das feudale Anwesen Van Burens. Bei der Weihnachtsfeier gleitet sie verträumt durch die feine Gesellschaft, kostet jedes Detail aus. Einen herrlichen Anblick bietet der entspannte László auf dem Fahrrad oder im Grünen sitzend, während er an seine Frau Erzsébet schreibt.
Im zweiten Teil, »The Hard Core of Beauty«, ändert sich der Ton des Films, begleitet von Lászlós zunehmender Verzweiflung, die sich in Wutausbrüchen und wachsendem Opiumkonsum äußert, was auch visuell zum Ausdruck kommt: Die Bilder werden düsterer, schroffer. Auch die Ankunft seiner Familie bringt keine Erleichterung, denn seine Frau ist aufgrund von Osteoporose an den Rollstuhl gefesselt und seine Nichte Zsófia ist wegen der Gräueltaten aus der Vergangenheit verstummt. Die Spannung zwischen dem Mäzen und dem Künstler wächst. Harrison, gespielt von Guy Pearce, wirkt in seiner ganzen Exzentrik immer wieder recht karikaturenhaft. Überzeichnet. Besonders bei seiner ersten Begegnung mit László und seinem Cousin Attila, bei der er mit seinem Hang zum Theatralischen wie ein Gestörter herumbrüllt und die Architekten aus der Bibliothek rausschmeißt. Dann auf einmal erscheint er recht besinnlich und adäquat. Sein Charakter schwankt zwischen großspuriger Gönnerschaft und Pragmatismus, Arroganz und Bewunderung für Lászlós Talent. Er erscheint wie ein Chamäleon oder ein manipulativer Schizophreniker mit Größenwahn
Adrien Brody, der bereits in Der Pianist von Roman Polanski den polnisch-jüdischen Künstler im besetzten Polen spielte, brilliert erneut mit intensiver, verletzlicher Darstellung eines innerlich zerrissenen Mannes, dessen Verzweiflung sich in brutaler Wut entlädt. Eine fesselnde schauspielerische Leistung!
Trotz der Komplexität der Figuren wirken sie in ihrer Gegenüberstellung ziemlich stereotyp: Van Buren als wohlhabender Auftraggeber trinkt teuren Whiskey, raucht Zigarren und treibt mit einem selbstgefälligen Lächeln Machtspielchen mit seinem »Schützling«. László wiederum ist der leidende Künstler par excellence: missverstanden, emotional zerrissen, dem Alkohol und der Selbstzerstörung nahe.
Auf der formalen Ebene ist der Film perfekt gestaltet. Kunstvoll veranschaulicht die Kamera jede emotionale Regung der Hauptfiguren. Kameramann Lol Crawley variiert geschickt zwischen Panoramaeinstellungen, um das Bauprojekt festzuhalten, und den intimen Nahaufnahmen der Protagonisten. Die atemberaubenden Aufnahmen von Carrara-Marmor sind ein visueller Genuss. Selbst der Nachspann verläuft kunstvoll diagonal. Mit diesem Film schreibt sich der Regisseur in die Reihe der großen Regisseure ein. Allein der Vergleich mit solch einem hochheilig angesehenen Film wie Citizen Kane erscheint wie »cineastische Blasphemie«, wie Michael Haberlander einst in seiner Kritik zu Paul Thomas Andersons There Will Be Blood schrieb. Apropos, Anderson: Auch seine Einflüsse sind im Brutalist nicht zu übersehen, sowohl stilistisch als auch erzählerisch.
Auf narrativer Ebene unternimmt Corbet den kühnen Versuch, zahlreiche komplexe Themen wie Holocaust-Erfahrungen, und Traumabewältigung, Identität, Emigrationserfahrung und Fremdsein – insbesondere als jüdischer Emigrant sowie Künstlersein in einer pragmatischen Welt und insgesamt das Wesen der Kunst in einem Werk zu umreißen. Dies ist eine gewaltige Aufgabe selbst für einen überlangen Film. So bleibt die Holocaust-Erfahrung Lászlós kaum angetastet. Erst im Epilog des Films, der raffiniert auf die Architektur-Biennale in Venedig 1980 verlegt ist, werden seine Bauwerke mit der Erfahrung von Buchenwald von seiner Nichte Zsófia verglichen – ein geschickter narrativer Bogen, der den Film in sich geschlossen erscheinen lässt.
In diesem Film scheint Brady Corbet unter anderem nicht nur die Herausforderungen eines Architekten zu reflektieren, der in einer pragmatischen Welt für seine Visionen kämpft, sondern auch die eines Filmemachers, der seine Kunst gegen äußere Erwartungen behaupten muss. Wie die Architektur ist auch das Kino ein Balanceakt zwischen Ästhetik, Funktion und Ausdruck – und Corbets Film selbst wird zum Sinnbild dieses kreativen Ringens: Monumental und kompromisslos.