Bullet Train

USA/J 2022 · 127 min. · FSK: ab 16
Regie: David Leitch
Drehbuch:
Kamera: Jonathan Sela
Darsteller: Brad Pitt, Sandra Bullock, Joey King, Aaron Taylor-Johnson, Brian Tyree Henry u.a.
Filmszene »Bullet Train«
Mit dem Koffer auf der Suche nach sich selbst: Brad Pitt als »Marienkäfer«
(Foto: Sony)

Marienkäfer schießen nicht

David Leitch boostert Kōtarō Isakas skurrile Thrillervorlage zu einer grellen, tarantinoesken Action-Groteske, die nicht nur wegen Brad Pitt in der Hauptrolle überzeugt

Well, I followed her to the station
With a suitcase in my hand
Yeah, I followed her to the station
With a suitcase in my hand
Whoa, it’s hard to tell, it’s hard to tell
When all your love’s in vain

– The Rolling Stones, Love in Vain (Live in Texas, 1972)

Täter und ihre Toten in dahin­ra­senden Zügen sind seit Buster Keatons Meis­ter­werk Der General und erst recht seit Agatha Christis Romanen und ihren Verfil­mungen schon fast Klas­si­ker­ma­te­rial, sei es so drollig verschroben wie im Miss Marple-Klassiker 16 Uhr 50 ab Paddington (1961) oder so sexy und slick wie in Kenneth Branaghs Neuver­fil­mung des Hercule-Poirot-Dauer­bren­ners Mord im Orient Express (2017). Aber das Genre hat inzwi­schen natürlich weit mehr zu bieten, kann geil und schmutzig wie in Andrej Koncha­l­ovskys Runaway Train (1985) sein, gesell­schafts­kri­tisch und apoka­lyp­tisch wie in Bong Joon-hos Snow­piercer (2013) oder einfach nur blut­rünstig wie in Yeon Sang-hos Zombie-Vision Train to Busan (2016).

David Leitchs Adaption von Kōtarō Isakas Roman hat von all diesen Filmen etwas zu bieten. Das liegt vor allem daran, dass Leitch und sein Dreh­buch­autor Zak Olkewicz die Vorlage stark erweitert bzw. modi­fi­ziert haben. Ist Isakas Thriller tatsäch­lich ein rein japa­ni­sches Konstrukt, in dem fünf japa­ni­sche Auftrags­mörder in einem japa­ni­schen Hoch­ge­schwin­dig­keitszug – dem legen­dären Shink­ansen, umgangs­sprach­lich und hier titel­ge­bend „Bullet Train“ genannt – Rache­ge­fühlen, einem Koffer voll Geld und einem Entfüh­rungs­opfer hinter­her­jagen und sich dabei dementspre­chenden, lebens­ge­fähr­li­chen Gefahren aussetzen, haben Leitch und Olkewicz den zugrunde liegenden Thriller „globa­li­siert“. Das hat Bullet Train den Vorwurf von „White­wa­shing“ einge­bracht, findet die Handlung doch weiterhin in einem japa­ni­schen Zug statt, ist aber nicht nur der japa­ni­sche Mafia-Pate Minegeshi durch einen Russen namens The White Death (Michael Shannon) „ersetzt“ worden, sondern ist auch ein japa­ni­scher Schul­junge nun ein junges russisch-briti­sches Mädchen (Joey King) und ein Mörder-Duo (Aaron Taylor-Johnson, Brian Tyree Henry), das in seinen Dialogen in nichts dem schwarzen Humor des Killer-Paares von In Bruges (2008) nachsteht (und gleich­zeitig an die briti­schen Trot­te­leien von „Miss Marpel“ Margaret Ruther­ford und Stringer Davis in 16 Uhr 50 erinnert), hat ebenfalls britische bzw. ameri­ka­ni­sche Wurzeln, so wie bis auf ein paar am Ende zunehmend ins Rampen­licht tretende japa­ni­sche Charak­tere, eigent­lich auch der übrige Cast. Es sind gewis­ser­maßen Touristen bzw. ganz normale, inter­na­tio­nale Auftrags­killer, die auch gerne mal den Zug nehmen, um ihrer Arbeit nach­zu­gehen.

Diese Arbeit ist bei einer derartig ausufernden Anhäufung von Auftrags­mör­dern dementspre­chend blutig, wird aber durch den schwarzen Humor und die comiceske Trans­for­ma­tion von Gewalt, wie wir sie aus Taran­tinos Filmen kennen, stark verdünnt. Mehr noch als der im absoluten Zentrum stehende, von Brad Pitt über­ra­gend verkör­perte Atten­täter Ladybug (dt. Mari­en­käfer) einen philo­so­phisch-esote­ri­schen Überbau verpasst bekommen hat, der ihn mal zu einem Wieder­gänger von Christoph Waltz' SS-Stan­dar­ten­führer Hans Landa in Taran­tinos Inglou­rious Basterds macht, dann zum bemit­lei­dens­werten, liebens­werten, vom Pech verfolgten Grübler-Killer im bereits erwähnten Brügge sehen... und sterben? und der dann am Ende sein Hadern gerade so in den Griff kriegt, wie es Brad Pitt auch in Once Upon a Time... in Hollywood so kongenial gelungen ist.

Diese Asso­zia­tionen und so viele andere, mit denen der Film spielt, treten im Laufe des Films jedoch mehr und mehr in den Hinter­grund, entwi­ckelt Bullet Train zunehmend eine sehr eigene, immer wieder über­ra­schende, chamäleon-artige Identität, die gerade damit beein­druckt, dass hier fluide Iden­ti­täten darge­stellt werden, die, wie über­zeu­gend sie auch sein mögen, immer von neuem hinter­fragt werden (müssen) – und sei es auch mit so grotesken Mitteln wie einem Thomas – die kleine Loko­mo­tive-Charak­ter­ab­gleich oder den klas­si­schen Buddy-Movie-Motiven.

So wie übrigens auch das ursprüng­liche Ende des Romans gnadenlos hinter­fragt wird, das hier nicht in einem Bahnhof verortet wird, so wie sich das eigent­lich für eine texttreue Lite­ra­tur­ver­fil­mung gehört hätte, sondern sich durch eine letzte, so über­ra­schende wie spek­ta­ku­läre Action-Sequenz völlig eman­zi­piert, das Roman­kon­strukt verlässt und sowohl der zentrale Mari­en­käfer als auch der Film ganz und gar zu sich selbst finden.