Frankreich/B/USA 2018 · 93 min. · FSK: ab 16 Regie: Gaspar Noé Drehbuch: Gaspar Noé Kamera: Benoît Debie Darsteller: Sofia Boutella, Romain Guillermic, Souheila Yacoub, Kiddy Smile, Claude-Emmanuelle Gajan-Maull u.a. |
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Filmästhetisch hochinteressant |
Der in Frankreich lebende gebürtige Argentinier Gaspar Noé ist neben dem depressiven Dänen Lars von Trier das bekannteste Enfant terrible des zeitgenössischen europäischen Kinos. Bereits der Kurzfilm Carne (1991) und sein erster Langfilm Menschenfeind (1998) – beide mit einem namenlosen psychopathischen Pferdeschlachter als Hauptperson – verstörten zahlreiche Zuschauer. 2002 legte Noé mit dem nihilistischen Vergewaltigungsdrama Irreversibel noch eine kräftige Skandal-Schippe oben drauf. 2009 schuf er mit dem halluzinatorischen Bewusstseinstrip Enter the Void sein bis dato bestes Werk. Doch nach der postmortalen Seelenreise folgte 2015 mit Love der harte Aufschlag: Mit seinem unverhohlenen Skandalstreben kam Noé diesmal um schlappe 40 Jahre zu spät. Denn ein Cumshot-Close-up in 3D wirkt heutzutage nur noch lächerlich.
Nun präsentiert sich der umtriebige Skandalregisseur mit Climax erneut in Höchstform: Dieses Mal ist es Gaspar Noé hervorragend gelungen, seinen zwanghaften Drang zum unbedingten Skandal und zur ganz großen Geste so stimmig in die Handlung zu integrieren, dass dabei nicht wie zuletzt ein höchst peinliches Machwerk, sondern große Filmkunst herauskommt. Der Kniff dabei ist, dass Noé genau diese fragwürdigen zwanghaften Bestrebungen zum integralen Teil der Geschichte gemacht hat.
Und diese ist schnell erzählt: 1996 versammeln sich die 21 Mitglieder einer ehrgeizigen französischen Tanzgruppe am Vorabend ihrer Tournee durch die Heimat und in die USA in einem leeren Veranstaltungszentrum, um dem Anlass entsprechend ausgelassen zu feiern. Bei einer faszinierend choreografierten Probe zeigen alle, was sie in Sachen Voguing, Krumping, Waacking und Electro so drauf haben. Die ausgelassene Stimmung wird von Alkohol und Kokain noch zusätzlich befeuert. Doch unvermittelt weicht die Ekstase einer sich immer stärker ausbreitenden Paranoia. Irgendwer hat LSD (oder irgendein anderes starkes Halluzinogen) in die Bowle gemischt. Die Droge lässt unterschwellige Animositäten immer stärker hervortreten. Die Party wird zum Horrortrip.
Climax erhebt sich bereits inhaltlich über einen gewöhnlichen Horrorreißer, indem Noé zeigt, wie die gänzlich unterschiedlichen Charaktere der Tänzer und deren latente Konflikte untereinander in dieser Grenzsituation zu jeweils komplett voneinander abweichenden Reaktionen führen. Sprich: Climax bricht das Phänomen Massenpanik und allgemeine Eskalation auf die individuelle Ebene herunter.
Daneben ist Climax auch filmästhetisch hochinteressant. In dem Film zeigt Gaspar Noé auf eindrucksvolle Weise, was wahre Kreative aus einem nur einseitigen Drehbuchentwurf und einem geringen Budget herausholen können. Dies beginnt bei den verblüffenden tänzerischen Leistungen. Denn die meisten Darsteller sind keine ausgebildeten Schauspieler, sondern einfach die besten Tänzer, die Noé für den Dreh gewinnen konnte. Dementsprechend wird bei der anfänglichen Aufführung so herumgezappelt und mit Verrenkungen experimentiert, dass dem Zuschauer vor Staunen die Kinnlade herunterfällt.
Das wilde Treiben wird mit langen Plansequenzen und virtuosen Kameraschwenks von Noés Stammkameramann Benoît Debie adäquat ins Bild gesetzt. Der Belgier stand nicht nur seit Irreversibel bei jedem Film von Noé hinter der Kamera, sondern beispielsweise auch bei dem visuell ähnlich berauschenden Crime-Drama Spring Breakers von Harmony Korine. All diese Filme tragen sehr deutlich seine Handschrift.
In Climax tritt zudem ein unvermuteter künstlerischer Einfluss von Noé so deutlich zutage wie selten zuvor: Sehr viel verdankt der argentinische Skandalregisseur und Wahlfranzose dem gebürtigen Schweizer und einstigen Wahlfranzosen Jean-Luc Godard:
Den Anfang machen Videoaufzeichnungen von Tänzerinterviews. Zu sehen ist ein Fernseher, neben dem links wichtige Werke der Weltliteratur und rechts Videokassetten berüchtigter Skandalfilme liegen. Eine ähnlich aufdringliche Darstellung seiner intellektuellen Referenzen zeigt auch Godard in Filmen wie Die Chinesin. Allerdings wirkt die Auswahl an Literatur in Climax weit weniger passend als die der Filme. Damit entlarvt sich Noé ungewollt selbst als ein zutiefst narzisstischer Selbstdarsteller.
An Godard erinnert ebenfalls deutlich die aufdringliche Zurschaustellung der französischen Flagge sowie die offensive Kampfansage an die USA: »Dieser Film ist stolz darauf, ein französischer Film zu sein.« Hinzu kommt auf inhaltlicher Ebene die Tatsache, dass die Tänzer in den Vereinigten Staaten unbedingt beweisen wollen, dass sie mehr als die Amis draufhaben. Die Farben der Trikolore ziehen sich bei Godard beispielsweise durch den gesamten Film Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß. Dort gibt es zudem eine Szene, in der ein Amerikaner auf unverblümte Weise lächerlich gemacht wird. Auch die aufdringliche Einblendung prägnanter Mottos in Form poppiger Zwischentitel geht auf Godard zurück. Sogar die Eskalation einer gewöhnlichen Alltagssituation hin zu einem infernalischen Exzess findet sich in Godards Weekend. Alle diese drei sehr unterschiedlichen Nouvelle-Vague-Filme stammen übrigens aus dem Jahr 1967.
Dies verdeutlicht, über was für eine überbordende Kreativität Godard auf dem Höhepunkt seines Schaffens verfügte. Wenn man bedenkt, dass sich Gaspar Noé nur alle Jubeljahre einen neuen Spielfilm abringt, ist ganz klar, wer von beiden der größere Filmemacher ist. Aber dieser Vergleich ist wahrscheinlich auch etwas ungerecht, obwohl Noé ihn ganz bewusst provoziert. Für sich genommen ist Climax ein ausgezeichnetes Werk der Filmkunst, in dem der Argentinier alle seine Stärken voll ausspielt.
»What would you do if you couldn’t dance?« – »Umh... Suicide?«
Aus: Climax
Relativ früh in diesem Film sieht man die französische Flagge. Bleu Blanc Rouge, Blau Weiß Rot – auf dem Rot bleibt die Kamera haften, vielleicht weil das Rot für Brüderlichkeit steht, und lässt es übergehen in das Rot des Bodens eines Dancefloors.
Hier übt eine Tanz-Compagnie eine Aufführung, und wir erleben die Generalprobe, eine glänzende Choreographie. Das Bild zeigt die Schönheit des Zusammenspiels, des Miteinander des Ineinanderübergehens vieler Einzelheiten zu einem Ganzen.
Es ist, könnte man sagen, die Schönheit der Gesellschaft, die hier aufgeführt wird.
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Dies geschieht mit Hilfe einer großartigen Kamera. Sie ist ein Akteur unter anderen, selbst wenn sie manchmal von der Decke herunter blickt, wie ein Geist. Fast nie wird geschnitten, fast nie der ununterbrochene Fluss der Bewegung gestört.
Hier wird Kino als Bewegungskunst verstanden. Nicht als Meditation, sondern als transgressiver Maelstrom, der einen verführerischen Sog entfaltet.
Dazu die Musik. Climax könnte man auch als einen einzigen, 90-minütigen Musik-Video-Clip beschreiben.
Der Soundtrack ist eine Musikbibliothek für die Gebildeten unter den Jüngern der Pop- und Dancefloor Musik der letzten drei Jahrzehnte.
Die Musik, die hier zu hören ist, ist manchmal stupide. Und manchmal ist sie großartig. Dies ist also einerseits ein hochunterhaltsamer Musikfilm; La La Land für Erwachsene...
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Es ist aber noch viel mehr. Wer genau hinschaut, der erkennt die Richtung schon in den Verweisen der ersten Minuten. En pasent hatte man da Bücher sehen können und Videokasetten. Sie haben oft mit Filmen der 70er Jahre zu tun, die Filmkunst mit Genres, mit Horror und Psychothriller mischen: Andrzej Żuławskis »Possession«, Argento, Friedkin, DePalma, Bunuel, Pasolini, Fritz Lang, Murnau... Aber auch Nietzsche, Schizophrennie und Selbstmord. Und dann das Blut auf dem Schnee.
Diese Verweise sind subtil, aber deutlich genug.
Klar: Der französische Regisseur Gaspard Noe ist ein Provokateur. Seine Filme wollen irritieren, erschüttern. Und spätestens seit seinem Schocker Irreversibel vor bald 20 Jahren ist Noé das Enfant Terrible ganz sicher des französischen und vermutlich sogar internationalen Kinos. Der Regisseur weiß das auch. Und er spielt damit. Gerade
darum ist Climax auch ein sehr spezielles Hochamt des Autorenkinos geworden.
Das geht schon los mit dem Anfang. Der wirkt wie eine ironische Volte auf Noes berühmtesten Film, und zeigt, dass diesmal alles reversibel ist. Der Film wird zurückgedreht. Es läuft der Abspann des Films, den man erst mit der Zeit als solchen begreift, den er scheint den Film im Jahr 1996 zu situieren, in dem die folgende Handlung tatsächlich spielen wird. Dominiert werden die Sinne von den Bildern unter den in Schwarz gehaltenen Namenslisten, auf denen aber einzelne Namen in Rot
hervorgehoben sind, so als wolle man die benennen, die in den letzten 22 Jahren gestorben sind. Rätselhaft. Oder meine Fehlwahrnehmung?
Jedenfalls liegen die Credits über Bildern einer weißen Schneelandschaft. Die Kamera, von oben, gottgleich auf die Welt blickend, dreht sich in sich, wie sie es noch öfters tun wird. Langsam tritt, eher kriecht eine Frau ins Bild. Blutet sie? Sie bricht klagend zusammen, kriecht weiter. Todestanz oder Drogenrausch oder Delirium. Dazu eine
Elektro-Version von Erik-Saties »Trois Gymnopédies«.
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Es folgt ein zweiter Vorspann: Ein Röhrenfernseher, eine Videokassette wird eingelegt. Wer sieht das? Das Band zeigt Casting-Videos, die die Charaktere des Films präsentieren. Es werden 21 sein. Sie beantworten dieselben Fragen auf ähnliche Weise. Das Ergebnis: Tanz ist ihr Leben, sie würden »alles« tun, um zu tanzen. Sie preisen die befreiende Macht des Tanzens, den produktiven, ekstatischen Selbstverlust in der Aufhebung des Massenkörpers. »Reichsparteitagsgefühle« hätten manche formuliert. Heute nennt man das »Grenzerfahrung« und findet es wieder gut.
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Es folgt die oben beschriebene Generalprobe. Danach wollen die Tänzer den Abschluss ihrer Arbeit mit einer großen Party feiern, die die ganze Nacht dauern soll. Stunde für Stunde eskaliert sie, gerät aus dem Ruder, Drogen und Alkohol sind im Spiel, und aus der schönen Tanzshow wird ein Inferno, ein Totentanz, der auch wieder der der ganzen Gesellschaft ist.
Gaspard Noe versteht sich als Linksliberaler, trotzdem ist dies auch eine, hart am politischen Tabubruch vorbeischrammende
Attacke auf naive Multikulti-Verehrung.
Wer Noé übel will, könnte viele Szenen angreifen: Gibt es hier nicht rassistische, homophobe, sexistische Untertöne?
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Solche Fragen sind sinnlos, wenn es um diesen Film geht, sie dienen nur als Beschäftigungstherapie für Leute, denen hierzu nichts Besseres einfällt.
Gaspard Noe will mit diesem Reigen etwas von Gesellschaft erzählen, aber er will nicht werten, sondern hingucken, aus der lustvollen Distanz des Voyeurs, er will die Schönheit feiern, auch die des Schreckens, aber ohne den Schrecken zu ignorieren. En passent beweist der Film, dass man kein Drehbuch braucht, keine Dialoge, um
herausragendes Kino zu machen, sondern nur Schwung und den Mut zur reinen Bewegung.
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Climax hat bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes viele internationale Journalisten und Profis begeistert. Aber nicht ein einziger deutscher Kritiker der sogenannten Qualitätszeitschriften hat diesen Film in Cannes gesehen. Sie haben damit einen der besten und jedenfalls spannendsten Filme des Jahres verpasst.
Es ist die Ästhetik des Schreckens von der Climax handelt. Und so ist dieser Film ziemlich schrecklich und zugleich ist er wunderschön.
Jede Vorstellung, dass Tanz so etwas wie Befreiung, Utopie, die Rettung der Welt befördern könnte, wird hier ad absurdum geführt. Ein apokalyptischer Abgesang auf eine Ära, auf eine Hoffnung, auf ein ganzes Land. Viel zu gut passt er auch auf die Ereignisse des vergangenen Wochenendes, einer Art realem Vorschein von Climax.
Bleu Blanc Rouge – Rot, das ist nicht nur die Brüderlichkeit, es ist die Revolution, die Liebe, das Blut.