Distanz

Deutschland 2007-09 · 82 min. · FSK: ab 16
Regie: Thomas Sieben
Drehbuch: ,
Kamera: René Dame
Darsteller: Ken Duken, Franziska Weisz, Josef Heynert, Jan Uplegger u.a.
Gar nicht distanziert: Franziska Weisz

Das Normale im Bösen

Nur die Sonne war schuld. Man kennt diesen Satz, der auch ein Befund ist, aus Albert Camus' Jahr­hun­der­troman »Der Fremde«. An dessen Haupt­figur, den Einzel­gänger Meursault, der aus nichtigem Anlass ein Mörder wird, erinnert Daniel Bauer sehr stark. Die Haupt­figur des Debüt­films Distanz vom Berliner Regisseur Thomas Sieben ist ein Gärtner im Berliner Bota­ni­schen Garten. Sein Leben ist von exis­ten­ti­eller Leere durch­zogen. Irgend­wann steht Daniel auf einer Auto­bahn­brücke. In der Hand hat er einen schweren Stein. Irgend­wann lässt er ihn fallen. Zwei Menschen sterben.

Im Folgenden sieht man ihn immer wieder in seiner Freizeit Menschen töten, mit Gewehr und Ziel­fern­rohr. Er tut das kalt und gefühllos. Der Regisseur bietet keine Erklärung dafür an, keine Entschul­di­gung. Daniel ist unver­s­tänd­lich, und – auch ganz abgesehen von seinen Taten – ein unsym­pa­thi­scher Mensch.

Distanz ist eine Mord­ge­schichte. In ihrem Zentrum steht ein unbarm­her­ziger Mörder. Und manchmal fühlt man sich an Vorbilder aus der Film­ge­schichte erinnert, an Martin Scorseses Taxi Driver oder an Henry – Portrait of a Serial Killer von John McNaughton. Auch dies ist damit ein Versuch des deutschen Auto­ren­kinos, sich durch die Öffnung zum Genre- und Krimi­nal­kino aus dem Sumpf der Wieder­ho­lungs­ge­fahr zu ziehen.

Distanz ist aber auch eine Liebes­ge­schichte, und eine Einsied­ler­ge­schichte. Parallel zu den Morden entspinnt sich eine zarte Liebelei mit Jana, einem etwas unbe­darften Mädchen, dass sich gerade von Daniels spröder, distan­zierter Art, von seiner Zurück­hal­tung, angezogen fühlt. Die Öster­rei­cherin Franziska spielt diese Jana – wieder möchte man sagen, denn diese Rolle ähnelt sehr stark ihrem großar­tigem Auftritt in Benjamin Heisen­bergs Der Räuber vor wenigen Monaten. Wieder spielt Franziska Weisz, die mit ihren großen Augen und breiten Schultern, dem langen Haar ein Geheimnis mit Boden­s­tän­dig­keit verbindet, eine Frau als Rettungs­anker. Die Liebe eines Krimi­nellen, dessen Verbre­chen eine obsessive, exis­ten­ti­elle Dimension haben. Diese Jana ist seine letzte Verbin­dung mit der Welt. Sie glaubt, dass sie den Mörder in die Welt zurück­holen kann.

Aber immer wieder zieht sich Daniel zurück: Sehr oft ist dieser gesichts­lose Daniel Bauer, den Ken Duken angenehm reduziert spielt, einfach nur genau das, was die anderen in ihm sehen wollen: ein Mann ohne Eigen­schaften, eine Projek­ti­ons­fläche, auf die sich alle anderen bereit­willig beziehen. Auch Jana.

Distanz – der Titel ist Programm. Abstand hält der Film auch zu den gängigen Schub­laden, in die man gewohnt ist, Kino zu verorten: Er ist zu wenig enter­tai­ning um die Massen zu begeis­tern, zu wenig auf intel­lek­tuell chic gestylt, um als Auto­ren­film durch­zu­gehen, und zu wenig senti­mental für die kunst­se­ligen Bildungs­bürger, die das Publikum des soge­nannten Arthouse-Films bilden – ein Film, so heimatlos wie seine Haupt­figur.

Streng reduziert, wenig Kompro­misse mit den Erzähl­kon­ven­tionen schließend, verzichtet Distanz auf jede Erklärung und Psycho­lo­gi­sie­rung seines Charak­ters. Er zeigt, was passiert, und das ist im Grunde nicht viel, jeden­falls banal. »Bedeutung« bleibt offen, entschei­dend ist die Beiläu­fig­keit allen Gesche­hens. Splatter-Hoff­nungen von Gewalt­voy­euren werden somit ebenso enttäuscht, wie jede eingeübten Thriller-Erwar­tungs­hal­tung. Was an Distanz fesselt, ist seine dichte Atmo­s­phäre.

Daniel bleibt ein Neutrum, aus dem Nichts kommend, im Dunkel lebend. Schon Kier­ke­gaard spricht vom »Schweigen des Bösen«. In Daniels innerem, verbor­genen Drama, seinem nicht-aus-sich-heraus-können erzählt sein Regisseur nicht allein etwas über die Psycho­logie von Mördern, sondern auch etwas über die Tragödie tradi­tio­neller Männ­lich­keit, zeigt den dekon­stru­ierten Mann der west­li­chen Länder: Das alte Heldentum, dessen hyste­risch-starre Kämpfe um Ehre, jene Duelle, die das klas­si­sche Kino ganz uniro­nisch beherrschten, sind heute unmöglich geworden – weil die Bedin­gungen für sie fehlen. Übrig bleibt in diesem heraus­ra­genden, unge­wöhn­li­chen, kleinen bösen Film die nun nach innen gewendete, zur Erstar­rung gewordene Angst. Einen Ausweg hieraus bietet nur noch der Ausbruch, das Töten.