Deutschland 2005 · 94 min. · FSK: ab 0 Regie: Alexandra Sell Drehbuch: Alexandra Sell Kamera: Justyna Feicht, Henning Drechsler Schnitt: Daniela Drescher |
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Rituale der Provinz |
»Typisch deutsch ist, dass bei den Deutschen die Frage, 'Was ist deutsch?' niemals ausstirbt.« treffend hat der Philosoph Friedrich Nietzsche die besondere Eigenschaft der Deutschen zur Selbstbefragung auf den Punkt gebracht. Gerade in unseren Wahl- und Krisenzeiten ist sie wieder groß in Mode. Wer Deutschland entdecken, seiner Seele auf den Grund gehen will, der muss die großen Städte verlassen, und in die Provinz fahren, in jene Orte, die auch nicht wie Osnabrück das Etikett der »glücklichsten Stadt Deutschlands« oder wie Ludwigshafen das der »Stadt mit der höchsten Selbstmordrate« hat. Man muss eintauchen ins Namenlose, diffus-Austauschbare – in Gegenden die zum Beispiel ein »Durchfahrtsland« sind.
Dies könnte wahrscheinlich überall und nirgends sein, im Fall von Alexandra Sells Film ist es die in jeder Hinsicht konturlose Landschaft zwischen Bonn und Köln, Orte wie Hemmerich, Walberberg und Rösberg. In nur zwanzig Minuten kann man mit der Straßenbahn vom Kölner Stadtzentrum dorthin fahren. Hier gibt es nichts – außer Petrochemie, Bau- und Möbelmärkten für die Bewohner der nahe gelegenen Städte und dazwischen ein paar Dörfer. Nicht einmal schön ist es in ihnen. Und niemand, auch nicht von den naturentwöhnten Stadtbewohnern käme auf den Gedanken, wenigstens einen Spaziergang zu wagen. Man fährt eben allenfalls durch – zur Eifel oder an den Rhein.
Nur die Kölner Regisseurin Alexandra Sell ist ausgestiegen und hat herumgefragt, begonnen sich für die Leute zu interessieren, die in dieser Provinz des Vorgebirges leben. Zu den Menschen, die Sell portraitiert, gehört zum Beispiel Hans Wilhelm Dümmer, ein Pfarrer, dem gleich zwei Gemeinden zugewiesen wurden, und der nun zwischen diesen zwei seit Jahrhunderten verfeindeten Nachbardörfern zu vermitteln versucht – vergeblich. Oder Guiseppe, der erste Vorsitzende des Spielmannszuges, der in den Vereinsintrigen alles findet was er braucht: großes Glück, tiefen Absturz und ein Come-back. Und Mark, das jüngste Mitglied im Junggesellenverein, der sich in den Kopf gesetzt hat, ausgerechnet in Mailand Modedesign zu studieren. Und hinter der Fassade lauert der Abgrund – zumindest in den überaus blutrünstigen Krimis, die Sophia in ihrer Freizeit schreibt, die sämtlich im Vorgebirge spielen. Sell zeigt das Leben dieser Menschen, und erzählt es parallel aus dem Off. Dieser Text hat hohe erzählerische Qualität, bricht zugleich mit ironischer Distanz, das, was zu sehen ist, enthebt es dem rein Abbildhaften und verwandelt es in eine imaginäre Wirklichkeit.
Was ist in Dokumentarfilm? Wer nicht zu jener glücklichen Species der empirischen Positivisten gehört, oder einfach ein Anhänger der schlichten Ansicht ist, man wüsste immer ganz genau, was wahr ist, und was nicht, der wird sich mit der Definition des Dokumentarfilms nicht leicht tun. Denn auch Spielfilme zeigen ja etwas, was »wirklich passiert«, jedenfalls vor der Kamera. Und auch Dokumentationen bilden nicht einfach ab, sondern sie gestalten ihr Material, schon indem sie Bildausschnitte wählen, und am Schnittplatz die Filmschnipsel ordnen – und selbst jene wenigen Dokufundamentalisten, die die Kamera einmal anstellen und dann einfach laufen lassen, müssten schon sicherstellen, dass sie auch niemand bemerkt, und selbst dann könnte man ihren Anspruch auf »reine Wirklichkeit« infrage stellen. Dass heute der Dokumentarfilm schwer in Mode ist, hat nun gar nicht so viel mit einem womöglich neu erwachten Hunger nach Wirklichkeit zu tun, und auch nicht so viel mit digitalen Techniken oder Michael Moore. Letzterer allerdings liegt mit seinen Dokupamphleten schon recht nahe dran an jenem neuen Typ Film, den man im Fernsehen Dokufiction nennt. Der Film weist schon auf das Dilemma hin, dass sich in dieser Form nicht mehr genau unterscheiden lässt, ob hier nun einfach »gezeigt« wird, oder die gezeigte Wirklichkeit vorher von Regisseur und Produzent überhaupt erst hergestellt wurde.
Zur Meisterschaft dieses Genres im Kino hat es der Österreicher Ulrich Sedl gebracht, dessen Film Hundstage vor wenigen Jahren internationale Preise gewann, und auch in Deutschland erfolgreich ins Kino kam. Gerade läuft sein neuer Film Jesus, du weißt im Kino. Seidls Filme liegen immer überaus knapp am Voyeurismus, an der Gefahr, ihre Figuren auszustellen und zum Objekt des Befremdens, Erschreckens, auch der Belustigung zu machen. Auch wenn der Regisseur noch so oft betont, wie sehr er seine Figuren liebt, wirkt alles doch auch wie ein Kuriositätenkabinett.
Bei Alexandra Sell ist dies umgekehrt. Der urban Sozialisierte, vom Projekt der Moderne noch immer Überzeugte kann sich die Haare raufen ob dieser alten Unübersichtlichkeit, dem Durcheinander der Rituale, Mythen und Geschichten zwischen Maifest und Karneval. Aber er wird sich auch begeistern von einer nicht nur exotisch reizvollen Fremdheit, die ganze nahe liegt, so nahe, dass sie die eigene ist. Mit ethnologischem Blick enthüllt sie die skurrilen Seiten der Normalität, die Abgründe der Provinz – dabei gelingen ihr auch mit der DV-Kamera ruhige Kinobilder, ein Road Movie, der den deutschen Middle-West umnkreist.
Durchfahrtsland überzeugt immer dann, wo er genau hinschaut. Wo er nicht – was aber gelegentlich geschieht – in Allerweltsweisheiten abgleitet, wie die, dass Komisches und Bitteres nebeneinander liegen, dass die Mitte der Welt dort ist, wo wir uns eingerichtet haben. Dass der Film nichts Neues zeigt, unser Bild der Provinz nicht infrage stellt, ohne umgekehrt sich in eine »bösartige« Pose zurückzuziehen, ist dabei gerade seine Tugend. Sells besondere Qualität ist: Sie kann unterkühlt erzählen, biedert sich nie an, behauptet nicht, sondern tastet. Und sie arbeitet mit Ellipsen, erzählt nicht alles aus, sondern lässt die Lücken offen klaffen. Und plötzlich liegt die deutsche Seele offen da.