Deutschland 2022 · 102 min. · FSK: ab 12 Regie: Doris Dörrie Drehbuch: Doris Dörrie, Karin Kaçi, Madeleine Fricke Kamera: Hanno Lentz Darsteller: Andrea Sawatzki, Maria Happel, Nilam Farooq, Lisa Wagner, Melodie Wakivuamina u.a. |
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Freibad heißt Freiheit heißt Menschen »aushalten«... | ||
(Foto: Constantin) |
Es klingt natürlich wie eine olle Kamelle, dass Doris Dörries neuer Film Freibad ausgerechnet zur Freibad-Saison Premiere auf dem Münchner Filmfest hatte und zeitgleich in der Samstags-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung darüber rumort wurde, dass das Schwimmbad und mehr noch das Freibad einer der wenigen sozialen Schmelztiegel ist, in dem sich alles trifft, was es körperlich und geistig so gibt in Deutschland. Gelebte Demokratie also. Wer den Text in der SZ am 24. Juni ein wenig zu essayistisch und aufgesetzt fand, der sollte sich Doris Dörrie kluge Komödie ansehen, um sich ganz von dieser Wahrheit überzeugen zu lassen.
Denn Dörrie benutzt das Soziotop Freibad, um über das zu erzählen, was uns in den letzten Jahren zunehmend verloren gegangen ist. Die Freiheit. Die Freiheit, miteinander reden zu können, vor allem: reden zu wollen. Anstatt sich in der Blase seines eigenen Soziotops zu verschanzen.
Klingt zu theoretisch? Ist es bei Dörrie, die bei dem diesjährigen Filmfest übrigens mit einer Retrospektive für ihr Lebenswerk geehrt wurde, natürlich nicht. Denn bis auf wenige Ausnahmen – etwa ihre hervorragende Gespenstergeschichte Kirschblüten & Dämonen – hat Dörrie immer die Komödie interessiert, eines der schwierigsten und gerade in Deutschland unterschätztesten und verachtetsten Genres überhaupt.
Die Entscheidung für die Kunst der Komödie wird in Freibad gleich zu Anfang deutlich, ja überdeutlich, als eine Horde Polizisten im einzigen Frauenfreibad Deutschlands für Ruhe und Ordnung sorgen soll und sich dabei so dämlich aufführt, wie wir das aus den ja auch existierenden Abgründen deutscher Gegenwartskomödienkultur kennen, passend zum Thema etwa in Marcus H. Rosenmüllers auf vielen Ebenen verschenktem Beckenrand Sheriff. Aber gleich danach wird deutlich, dass Dörrie mit diesen Genre-Auswüchsen nur spielt und im Grunde etwas ganz anderes im Sinn hat. Denn aus den boulevardesken Momenten entwickelt sich schon sehr schnell ein Diskursraum, der uns nicht nur in unserer politischen Realität längst abhanden gekommen ist, sondern inzwischen auch Familien und Zeitungsredaktionen zerreißt.
Dafür wirft Dörrie nicht nur Themen wir Alltagsrassismus, Post Gender, »Fridays for Future« ins Planschbecken, sondern liefert gleich den Schwimmunterricht im Wettkampfbecken mit dazu. Denn die gleich im einleitenden Teil demonstrierten Risse der Gesellschaft werden in tageweisen »Coachings« im Becken und am Beckenrand verhandelt. Dafür hat Dörrie mit ihren Co-Autorinnen Karin Kaçi und Madeleine Fricke eine assoziative Rahmenhandlung gestrickt, die ähnlich wie im politischen Kabarett vor allem die Angriffspunkte auf die neuralgischen Probleme unserer Gesellschaft setzt.
Und die werden dann über ein hervorragendes Ensemble (u.a. Andrea Sawatzki, Maria Happel, Nilam Farooq, Lisa Wagner und Melodie Wakivuamina) mit Schlägen in wirklich alle Richtungen überzeugend und lustvoll angegangen. Und ähnlich wie in Karoline Herfurths feministisch-feurigem Wunderschön hinterfragt auch Dörrie selbstkritisch feministisches Ethos genauso wie postfeministische Attitüden, kümmert sich um die Diskrepanzen, Widersprüche und Schnittmengen innerhalb der muslimischen Generationen in Deutschland und wird vor allem und immer wieder die Doppelmoral jeder sozialen Blase bloßgestellt.
Und so wie Herfurth interessiert sich auch Dörrie natürlich für die Darstellung des weiblichen Körpers jenseits Heidi Klum'scher GNT-Postulate, was im Freibad noch einmal expliziter geschieht und von Dörrie dementsprechend aufbereitet wird, indem Ü-50 Schauspielerinnen wie das großartige Duo Andrea Sawatzki und Maria Happel fast alle Hüllen fallen lassen, um damit aber auch ein Statement gegen die selbst gewählte Burkini-Verhüllung von Nilam Farooq zu setzen. Und natürlich auch um ein so dringend notwendiges Ü-50-Statement zu positionieren, so wie es vor kurzem auch die israelische Miniserie Hamishim getan hat.
Das Schöne an Dörries Film ist, dass jede Person in ihrem Freibad einen der gut und mit dem richtigen Timing gesetzten Schläge unter die Gürtellinie abbekommt und damit Dörrie auch darauf aufmerksam macht, was das Berliner Kabarett-Theater Distel in ihrem letztjährigen Programm »Deutschland in den Wechseljahren« fast schon verzweifelt betont hat: es geht nicht mehr darum, mit Humor allein gegen rechts oder einen irren Machismo vorzugehen, sondern in alle Richtungen zu schlagen, zu reden und zu diskutieren, anzugreifen und zu nerven, um deutlich zu machen, dass es im Moment nicht darum gehen kann und darf, weiter zu spalten, sondern das, was schon fast auseinandergefallen ist, mit universeller Kritik wieder zu einen und zu zeigen, dass im Becken Platz für alle ist.
Eine Einigung mag Dörrie damit vielleicht nicht gleich gelingen, aber das erwartet ja auch keiner. Doch es ist ein Anfang und vielleicht auch ein Anreiz, gleich morgen, wenn das Regentief sich wieder verzogen haben sollte, auch im Spätsommer noch einmal ins nächste noch offene Freibad zu gehen, das wunderbare Münchner Schyrenbad etwa oder das noch viel tollere Erfurter Nordbad oder das legendäre Prinzenbad in Berlin, auch wenn das bedeutet, mit Polizeipräsenz und zunehmender Gewalt (die ja auch in Freibad eine Rolle spielt) konfrontiert zu werden. Denn wo, wenn nicht dort, bietet sich die rare Chance, weiterzumachen, wo Dörrie mit ihrem Film aufgehört hat: Deutschland im Kleinen zu erleben und im Großen zu verändern.