Iran/F 2021 · 128 min. · FSK: ab 12 Regie: Asghar Farhadi Drehbuch: Asghar Farhadi Kamera: Ali Ghazi Darsteller: Amir Jadidi, Mohsen Tanabandeh, Sahar Goldoust, Saleh Karimai, Sarina Farhadi u.a. |
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Platzhalter für die iranische Gesellschaft | ||
(Foto: Neue Visionen) |
Nachdem Asghar Farhadi mit seinem letzten, in Spanien spielenden und gedrehten Psycho-Thriller Offenes Geheimnis mal etwas ganz anderes versuchen wollte, damit aber nicht mehr an seine großen Oscar-Erfolge Nader und Simin – Eine Trennung und The Salesman anknüpfen konnte, ist Farhadi für seinen neuen Film wieder in den Iran zurückgekehrt. Dieses Mal allerdings nicht nach Teheran, sondern nach Shiraz. Und anders als in seiner spanischen Genre-Arbeit bewegt sich Farhadi wieder auf dem Terrain, das die westlichen Kinoblicke vom iranischen Kino-Export-Meister und vom modernen iranischen Kino an sich wohl erwarten und auch seit Jahren geliefert bekommen: Filme von großer moralischer Ambivalenz, die immer etwas von psychologischen Versuchsanordnungen haben und die zunehmend auch von einer neuen Generation von iranischen Filmemachern abgeliefert werden. Man denke etwa an die erst vor wenigen Wochen in die Kinos gekommene Ballade von der weißen Kuh von Behtash Sanaeeha und Maryam Moghaddam, ein souverän umgesetztes Kammerspiel über die komplexen Folgen der Todesstrafe für Opfer und Täter.
Auch bei Farhadi kommt das Thema Todesstrafe am Rande vor, doch im Zentrum steht die Geschichte von Rahim (Amir Jadidi), der eine Gefängnisstrafe ableisten muss, weil er die von seinem Schwager Braham (Mohsen Tanabandeh) aufgenommenen Schulden nicht begleichen kann, weshalb ihn Brahams Schwester verlassen hat. Doch auf einem zweitägigen Freigang will er seinen Gläubiger mit einer Teilrückzahlung besänftigen, die durch seine Geliebte Farkondeh (Sahar Goldoost) ermöglicht werden soll, die eine Handtasche mit Goldmünzen gefunden hat. Dass die Lösung des Problems sich ganz anders gestaltet, Rahim die Tasche an ihre Besitzerin zurückgibt und plötzlich zum selbstlosen Helden stilisiert wird, um in der Folge auch gleich wieder seinen Heldenstatus zu verlieren, deutet an, dass Farhadi nicht nur zu seinen alten Themen mit ihren moralischen Doppeldeutigkeiten zurückgefunden hat, sondern sie noch einmal potenziert.
Ihm genügt dieses Mal nicht eine zentrale Geschichte, in diesem Fall um Rahim und seine Freundin, um seine subtile Gesellschaftskritik anzubringen, sondern fast jede in diesem Film auftauchende Rolle darf eine moralische Transformation erleben, wird das Gute zum Bösen und umgekehrt, verstehen wir auch hier sehr schnell, dass jede Rolle für bestimmte Prozesse und Positionen der iranischen Gesellschaft steht, dass Ehrlichkeit natürlich nur deswegen so betont werden muss, weil Korruption an der Tagesordnung ist, und dass Ehrlichkeit wie Korruption gleichermaßen aus der Not einer instabilen Gesellschaft geboren werden. Das Parabelhafte wird von Farhadi über immer neue moralische Plot-Twists fast schon zum Exzess geführt, genügen nicht die intra-familiären Verwerfungen, wird das Gefängnispersonal ebenso mit einbezogen wie eine lokale NGO und Rahims stotternder Sohn.
Diese Ausweitung der Kampfzone scheint sich zumindest in Bezug auf die Filmpreisvergabe ausgezahlt zu haben, denn Farhadi hat mit A Hero neben zahlreichen kleineren Preisen zusammen mit Abteil Nr. 6 2021 auch den Großen Preis der internationalen Jury in Cannes gewinnen können. Im Vergleich zu seinen früheren Film, selbst seinem so großartigen Debütfilm Alles über Elly oder auch im Vergleich zur Ballade von der weißen Kuh, ist A Hero allerdings deutlich schwächer.
Denn durch das schwer dialoglastige Drehbuch, das dem ausufernden Personal schließlich gleichberechtigt jene Dialoge zuschreiben muss, die zumindest ihre moralische Uneindeutigkeit ermöglichen, bleibt kaum Zeit für eine wirkliche charakterliche Entwicklung, ist jede emotionale Regung eine behauptete, aber keine über die Handlung erspielte. Stattdessen sind die Personen in Farhadis Film Platzhalter, die thetisch an ihren doppelmoralischen Blockaden scheitern. Deshalb wirkt A Hero schon nach wenigen Minuten völlig überfrachtet und ist leider immer wieder auch langweilig. Er sieht sich tatsächlich eher wie ein wissenschaftlicher Aufsatz zu einer wissenschaftlichen Versuchsanleitung, der zwar mit der für das neue iranische Kino üblichen neo-realistischen, ethnografischen Dichte von Alltagsszenen aufwarten kann (die dem Betrachter vermitteln soll, Land und Kultur besser zu verstehen), doch bleibt am Ende eigentlich eher das schale Gefühl zurück, dass Farhadi sich hier in seinen eigenen moralischen Dilemmata verrannt hat.
Dazu passt irgendwie auch, dass Farhadi von einer seiner ehemaligen Studentinnen, Azadeh Masihzadeh, vorgeworfen wurde, mit A Hero ihren eigenen Dokumentarfilm All Winners, All Losers (hier der ganze Film mit Untertiteln auf Youtube) plagiiert zu haben und gerade rechtskräftig von einem iranischen Gericht schuldig gesprochen wurde – was immerhin den fast schon dokumentarischen Charakter von Farhadis Version erklären würde.
Aber mehr noch als diese unangenehme Nachwehe macht A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani durch die Potenzierung, ja fast schon Inflationierung der bekannten Stilmittel des neuen iranischen Films deutlich, dass vielleicht die Zeit für eine Erneuerung des alten Exportkonzepts gekommen ist und westliche Betrachter auch dem iranischen Kino eine Chance geben sollten, das in iranischen Überlandbussen, Zügen und iranischen Kinos gezeigt wird und das noch nicht durch die immergleiche Dekonstruktion moralischer Entitäten selbst schon etwas moralinsauer geworden ist.
Von Helden ist zur Zeit gerade viel die Rede. Helden – das sind angeblich ja vor allem jene, die bereit sind, ihr Leben zu opfern. Für ihr Vaterland zu sterben. Sie sehen gesellschaftlich gut aus, bekommen ehrenvolle Begräbnisse.
Wer dagegen das Vaterland nicht ganz so wichtig findet, wer vielleicht den Kampf aufs Blut scheut, wer um jeden Preis, auch den der sogenannten »Heimat« überleben möchte, der gilt als Feigling, das Gegenteil eines Helden. Obwohl er vielleicht andere
Dinge tut, die nicht weniger heldenhaft sind. Obwohl er vielleicht öffentliche Schande riskiert, was ja einigen Mut erfordert.
Aber stimmt eine derart oberflächliche äußerliche Sicht überhaupt? Was bedeutet es eigentlich genau, ein Held zu sein?
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Das ist die Frage, die der iranische Regisseur Asghar Farhadi in seinem neuen Film stellt. Dieser heißt A Hero, »ein Held«, und stellt deswegen diese Frage nach dem Heldentum ganz direkt.
Nader und Simin (A Separation) – sein Film über eine iranische Scheidung –
war nur der größte von mehreren Welterfolgen dieses Regisseurs. Heute ist Asghar Farhadi die wichtigste Stimme des iranischen Gegenwartskinos, obwohl und weil der Regisseur immer wieder Ärger mit der iranischen Zensurbehörde hat. Geschickt findet er trotzdem immer wieder Mittelwege, schafft es, im Iran zu drehen und dort Geschichten voller moralischer Ambivalenz zu erzählen.
So eine Geschichte ist jetzt auch Farhadis neuester Film: A Hero – eine
Reflexion über moralisch korrektes Verhalten und Heldentum des Alltags. Je länger der Film dauert, um so abgründiger wird diese moralische Fabel, mit der Farhadi zeigt, dass es auch in der Moral selten Schwarz-Weiß gibt, sondern viele viele Grautöne und dass solches Schwarz-Weiß, wo es jemand an den Tag legt, zumeist unmoralisch ist.
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Farhadis Hauptfigur heißt Rahim. In der Vergangenheit hat er Schulden gemacht, die er nicht zurückzahlen konnte; deswegen sitzt er jetzt im Gefängnis. Für ein paar Tage wird er entlassen (eine übliche Praxis im Iran) und besucht seine Familie.
Er trifft dort auch seine Freundin Farkhondeh: Sie liebt ihn, und beide wollen bald heiraten, aber bis dahin dürfen sie von ihren Verwandten nicht zusammen gesehen werden. Achtung Doppelmoral! Die Sittenstrenge der iranischen Gesellschaft,
die es aber auch anderenorts genauso gibt, erzwingt diese Doppelmoral geradezu. Wir verstehen sie, akzeptieren sie als schöne angemessene Lüge, während wir doch die Lügen in anderen Fragen verdammen. Warum? Geben wir uns darüber wirklich ehrliche Rechenschaft? Oder ist die grundsätzliche moralische Ambiguität der Figuren nicht letztendlich unsere eigene?
Der Film von Asghar Farhadi ist ein moralisches Drama. Wir kommen nicht darum herum, ständig solche Fragen nach der Moral der Handlung, der Figuren und nach unserer eigenen zu stellen. Nicht nur als Publikum des Films, sondern auch als potentiell Handelnde, die hier anderen Menschen aus Fleisch und Blut beim Handeln und das heißt beim Irren, beim Praktizieren von Amoral – und sei es aus moralischen Gründen – zuschauen.
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Für sein geschäftliches Missgeschick und die Schulden hat Rahim eine gute, aber auch für ihn schmeichelhafte Erklärung: »Ich habe einen Kredit aufgenommen, um eine Firma zu gründen. Mein Partner ist aber mit dem Geld abgehauen.«
Aber nicht alle glauben ihm das.
Dann geschieht etwas überaus Ungewöhnliches, für das der Deus Ex Machina aller Drehbuchschreiber verantwortlich ist: Rahims Freundin findet an einer Bushaltestelle zufällig eine Tasche mit 17 wertvollen Goldmünzen. Rahim gibt das Gold zurück und seine selbstlose Tat wird schnell öffentlich bekannt. Er wird für einen Fernseh-Beitrag gefilmt und interviewt und wird als ehrlicher Finder in den Nachrichten zum moralischen Vorbild erklärt. So wird er nicht nur in der unmittelbaren Nachbarschaft ein Held.
Doch in dem Bericht lügt dieser Held – wie wir Zuschauer sehr wohl wissen – und behauptet, er selbst habe die Tasche gefunden. Dieses kleine Detail entwirrt ein Geflecht von Beweisen und Gegenbeweisen, in das fast alle Figuren des Films verwickelt sind.
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Dramaturgisch unglaublich geschickt baut Farhadi, der auch der Drehbuchautor des Films ist, eine moralische Zwickmühle auf, aus der es kein echtes Entkommen gibt.
Es ist eine Rückkehr zu vertrautem Terrain: Der iranische »kleine Mann« (gelegentlich ist es auch eine »kleine Frau«), der ein oder mehrere Geheimnisse und Sorgen in sich trägt, sich mehr und mehr in moralische Dilemmata verstrickt, und zwar das Beste will, aber gerade damit vieles nur noch schlimmer macht. Farhadi stürzt seine unschuldigen, anständigen Kleinbürger immer wieder mit einer gewissen sadistischen Lust des Gottvater-Regisseurs und Weltenkonstrukteurs in Abgründe von Lug und Trug.
Man kann darüber verwundert den Kopf schütteln und sagen: Sachen gibt’s! Auch wenn es die eigentlich so nur im Baukasten des Drehbuchautors gibt, der jeder Figur, da wo sie »positiv« und »liebenswert« erscheint, noch eine Schattenseite anschnitzt und da, wo sie uns »unsympathisch« ist, doch irgendwelche hochsympathischen Beweg- und Hintergründe ankonstruiert. Der es sich in der Ambivalenz als grundsätzlicher Weltsituation sehr sehr gemütlich macht – auch wenn ich gern zugebe, dass ich glaube, dass diese Ambivalenz der Welt, so wie sie ist, tatsächlich am nächsten kommt.
Man kann darüber auch einfach traurig verzweifeln und feststellen, dass der Mensch eben aus so krummem Holz geschnitzt ist, dass er auf Erden nichts gerades schaffen kann. Man kann aber auch von einer mindestens leicht überlegenen bildungsbürgerlichen Position auf das kleinbürgerliche Gewimmel herabschauen, und ironisch lächeln über all diese tumben Toren, die noch ernsthaft an das Gerede von Moral und Sünde glauben, und denen es dann passiert dass sie sich in diesem Gerede ganz schön verheddern – und ich habe den Verdacht, dass genau dies Farhadis Haltung ist und dass er genau diese Haltung auch seinem Publikum, also den Menschen, für die er wirklich diese Filme macht, nahelegt.
Das grundsätzlich Lächerliche – Farhadis Filme sind sämtlich die »Tragödie eines lächerlichen Mannes« – Rahims liegt darin, dass der Mann fortwährend alles richtig machen will und gerade deshalb alles falsch macht. Schon dieser Wunsch ist der Fehler.
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Farhadis Filmsprache konterkariert zugleich solche zu einfachen Deutungsansätze. Denn manches Handlungselement und noch viel mehr die Bilder, in die Farhadi seine Handlung kleidet, zeigen zwar die Männer im Universum seiner Filme als rückgratlos und zu nichts fähig, in jedem Fall grundsätzlich lächerlich, während die Frauen das Sagen haben und zur treibenden Kraft der Handlung werden.
Den Frauen gilt Farhadis Sympathie. Sie sind nicht lächerlich, sondern schlimmstenfalls tragisch. Die Frauen stehen für das, was Hegel Sittlichkeit nennt, also pragmatische, nicht kantisch rigorose Moral; etwas Drittes, das zwischen moralischer Unerbittlichkeit und bürokratischer Legalität, also spießiger Gesetzestreue steht.
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Ist Rahim nun ein Held? Das ist nicht einfach zu beantworten. Aber eher nicht. Denn natürlich liegt in seiner Handlung etwas Selbstloses und Gutes. Doch diese Selbstlosigkeit wie erwähnte kleine Lüge enthüllen auch einen Anteil von Eitelkeit; es ist die moralische Eitelkeit, der Wunsch perfekt auszusehen.
Nachdem Rahim früher einen Fehler gemacht hat, will er jetzt allen anderen Mitmenschen und vor allem seiner Familie beweisen, dass er ein Anderer geworden ist. Dieser Wunsch ist verständlich, aber keineswegs selbstlos.
Und genau mit dieser Tat verstrickt sich Rahim in neue ungeahnte Konflikte. Dumm gelaufen.
Der Regisseur ironisiert und dekonstruiert damit den herkömmlichen Heldenbegriff und die Vorstellung von einer sauberen perfekten Moral.
»Wir sind alle kleine Sünderlein« hieß das mal und heißt es oft noch heute im christlichen Kulturkontext. Es ist die gleiche Einsicht in die moralische Unvollkommenheit des Menschen, die manche erschüttern mag, viele aber auch trösten, die Farhadi auf die gegenwärtigen Verhältnisse des Iran umbricht.
Denn natürlich können wir westeuropäischen Zuschauer diesen Film nicht sehen, ohne ihn auch als Kommentar eines Dissidenten zu den inneren iranischen Verhältnissen zu verstehen.
Wir Westeuropäer würden allerdings gut daran tun, wenn wir es vermeiden, uns innerlich auf ein zu hohes moralisches Ross zu setzen – Farhadis kluger, philosophischer und dabei bewegend erzählter Film präsentiert eine Handlung, die mit den Verhältnissen in seiner Heimat nicht mehr zu tun hat als mit unseren eigenen.