Schweiz 2002 · 124 min. Regie: Erich Langjahr Drehbuch: Erich Langjahr Musik: Hans Kennel Kamera: Erich Langjahr |
||
»Jetzt komm ich wieder in den Hirtentrott« |
»Jetzt komm ich wieder in den Hirtentrott«, sagt Thomas Landis, Schäfer aus Passion. Nach ein paar Wochen mit Frau und Kindern ist er nun mehrere Monate unterwegs. Es ist Winter und seine Schafe sehen aus wie schmuddelige Flokatis. Schnee verkrustet den dichten Pelz und baumelt in großen Klumpen um die mümmelnden Mäuler. Drei Hunde und zwei Esel leisten Landis Gesellschaft und natürlich die Schafe. Wanderhirten gibt es nicht mehr viele in der Schweiz, und so besucht ihn ab und zu eine wissbegierige Schulklasse oder auch eine Radioreporterin, die ihn als lebendes Relikt einer verschwindenden Epoche interviewt. »Wird ihnen denn nie langweilig?«, fragt die Frau. Die Frage löst bei Thomas pures Unverständnis aus. In der Natur gibt’s schließlich immer was zu entdecken.
Mit Hirtenreise ins dritte Jahrtausend legt der Schweizer Dokumentarfilmer Erich Langjahr nach Sennen-Ballade (1996) und Bauernkrieg (1998) den letzten Teil seiner Trilogie über den Bauernstand vor. Während Sennen-Ballade dem bäuerlichen Alltag nachspürt und Bauernkrieg die Technisierung der Agrarwirtschaft beschreibt, zeigt Hirtenreise einen der ältesten Berufe der Menschheit als Kontrapunkt zur modernen Welt. Langjahr selbst wäre gerne Bauer geworden. Bis ihm klar wurde, dass zu diesem Beruf das Töten gehört. So ist er also Filmemacher geworden und nähert sich dem Objekt seiner Leidenschaft mit der Kamera. Ohne die gemeinschaftsstiftende Liebe zum Ursprünglichen hätte er seinen weltabgeschiedenen Protagonisten wohl auch nicht so nah auf die Pelle rücken können.
Diese tiefe Verbundenheit wird in den langen, ruhigen Einstellungen spürbar. Kontemplative Bilder von Tieren in der alpinen Landschaft und Menschen, die ganz urwüchsige Arbeiten verrichten. Trotz der stillen Bilder ist Hirtenreise sicher kein romantischer Film. Der Hirtenjob ist Knochenarbeit. Während der Sommermonate melken Landis und seine Frau täglich mehrere Stunden die Ziegen, »bis die Finger schmerzen und voller Blasen sind«. Auf seinen winterlichen Wanderungen muss er stundenlang in bitterer Kälte ausharren, bis die Schafe unter der Schneedecke genug zu fressen gefunden haben. Landis Ausrüstung ist auf das Nötigste reduziert. Statt eines modernen Hightechzelts genügt ihm eine schwere Plane zum Schutz vor der Witterung, statt auf einem Propangaskocher, köchelt er sein Süppchen in einem rußgeschwärzten Topf über offenem Feuer. Landis größter Traum ist es, mit seiner Familie nach Chile auszuwandern und dort das einfache Leben zu führen, das hierzulande immer mehr verschwindet. »Ich bin nicht sicher, ob ich dazu noch den Mut habe oder die Kraft«, sagt er.
Sein jüngerer Kollege Michel Cadenazzi hat sich etwas luxuriöser eingerichtet. Per Hubschrauber hat man ihm einen Wohnwagen auf die Sommeralm geschafft. »Hier bin ich mein eigener Boss« erklärt Cadenazzi seine Bereitschaft, monatelang in selbstgewählter Abgeschiedenheit zu hausen.
Neben der Nähe zur Natur ist es vor allem das Gefühl von Freiheit, das diese Menschen dazu bewegt, allerlei Entbehrungen auf sich zu nehmen. Weder Landis noch Cadenazzi stammen aus Bauernfamilien. Sie haben sich bewusst für einen Beruf entschieden, der sie an die Grenzen der Belastbarkeit führt. Doch wer die Erfahrung gemacht hat, dass er zum Leben nicht viel mehr braucht, als Schlafsack und wasserfeste Plane, bei dem haben die Alltagssorgen neurotischer Stadtbewohner keine Chance.