Österreich 2001 · 127 min. · FSK: ab 16 Regie: Ulrich Seidl Drehbuch: Ulrich Seidl, Veronika Franz Kamera: Wolfgang Thaler Darsteller: Maria Hofstätter, Alfred Mrva, Erich Finsches, Gerti Lehner u.a. |
Ein älteres Paar brät regungslos auf Klappstühlen gleich neben dem Betonmischer. Ein Mann liegt wie ein gestrandeter Wal auf einer Liege. Ein Sicherheitsanlagenvertreter schwitzt in seinem Wagen. Hundstage nennt man jene Zeit von Mitte Juli bis Anfang August, in denen der Sommer noch einmal so richtig aufdreht und in der Hitze die Gemüter überkochen.
Da ist Anna, die rastlos per Autostopp durch die sterile Landschaft zwischen Supermarkt und Reihenhaussiedlung tourt. Dabei nervt sie ihre Chauffeure mit der penetranten Aufzählung diverser Top Tens von den beliebtesten Haustieren bis hin zu den erotischsten Fernsehmoderatorinnen. Sie durchwühlt Handtaschen und fragt nach sexuellen Gewohntheiten, so dass sie meist innerhalb kürzester Zeit wieder am Straßenrand steht.
Da ist das geschiedene Paar mit dem toten Kind, das sich im geleckten Reihenhaus gegenseitig belauert, provoziert, verletzt und zerfleischt.
Da ist Erwin, der jedes Packerl Mehl und jede Dose Hundefutter mit der Präzisionswaage überprüft und gegebenenfalls im Supermarkt reklamiert.
Seidel, der zuvor mehrere preisgekrönte Dokumentarfilme gedreht hat, erzählt sechs lose verknüpfte Geschichten über Männer und Frauen, ihre Einsamkeit, ihre Verletzungen, ihre Gewalttätigkeit und ihre Sprachlosigkeit. Und es ist sein dokumentarisch-sezierender Blick, der diesem Film seine Intensität verleiht. Die Authentizität verstärkt, dass der Großteil der Darsteller Laien sind: »Ich habe gehofft, dass ich als Schauspielerin nicht negativ auffalle«, sagt Maria Hofstätter, alias Anna.
Der Film mutet dem Zuschauer allerhand zu: den Anblick welken Fleisches und verschwitzter Körper, subtile Grausamkeit und eskalierender Gewalt. Bilder, die an den Nerven zerren, häusliche Brutalität, bei deren Anblick man sich immer tiefer in den Kinosessel verkriechen möchte. Dies ist nicht Afghanistan, dies ist nicht der Terminator, was hier passiert, passiert täglich, bei uns daheim oder gleich nebenan. Das Böse ist nicht nur banal, das Böse ist vor allem alltäglich und seine Quellen heißen Isolation und Angst. Erlösung von der Einsamkeit, nach der alle streben, gibt es nur für einen kurzen Moment. Wenn Anna bei Ihrer Autoodyssee auf einen Fahrer trifft, der bereitwillig mit ihr ein Werbeliedchen trällert, dann ist er plötzlich da. Und dann ist er schon wieder vorbei.
Annas Top Ten der häufigsten Krankeiten: 1. Allergien, 2. Migräne 3. Gastritis 4. Polyathritis 5. Diabetes 6. Asthma 7. Krebserkrankungen, 8. Herzinfarkt, 9. Leberzirrhose, 10. Gehirnschlag
Der Striptease ist noch das Harmloseste. Zweieinhalb Stunden lang sieht man einen grauen Alptraum aus Verrücktheit, Wut, Spießertum, rohem Sex und nackter Gewalt – und möchte am liebsten gleich wieder wegsehen. Aber Filme in denen es Zuschauern so ergeht, sind nicht notwendig die schlechtesten.
Wie selten dominieren in Hundstage Irritation und Beunruhigung, die auch den Zuschauer berühren. So oder so ist dieser Film einer der Höhepunkte des in dieser Hinsicht nicht auffallend reich ausgestatteten Kinosommers – in seiner Direktheit eines der intensivsten Kinoerlebnisse seit langem. Der österreichische Regisseur Ulrich Seidel, bisher durch Dokumentationen (Tierische Liebe, Models) vor allem einem Festivalpublikum bekannt geworden, bewegt sich in seinem ersten Spielfilm in den Abgründen des privaten Österreich.
Ein Film, dem es um nicht weniger geht, als ums Ganze. Wo manche ältere Filmemacher – Ken Loach, Eric Rohmer – dort wo die aktuelle Condition Humaine zum Kinothema werden soll, noch bis heute
von den Kategorien des europäischen Humanismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt sind, versucht es Seidel hier mit dem Gegenteil. Statt sie neu und aktuell auszubuchstabieren, blendet er sie völlig aus, nimmt die antihumanistische Perspektive ein, die in der Literatur von einem Michel Houellebecq, Brat Easton Ellis und wenigen anderen in den letzten Jahren salonfähig gemacht geworden ist, und zeigt, wo deren Blick produktiv, also erkenntnisfördernd wird.
Überwiegend mit Laien gedreht, streift Seidel wie ein Ethnologe der europäischen Suburbia durch Häuser und Straßen eines namenlosen Vororts, zeigt Menschen, die sich lieben und sich schlagen, die zuviel und zuwenig reden, im Supermarkt und im Swingerclub – Ficken und Shoppen als Essenz des modernen Lebens. Seidels auf Anklagen verzichtende Vivisektionen der Spießerseele bewegen sich an der Grenze der Zumutung. Hart und kompromisslos sind sie zugleich dort am stärksten, wo
sie sich auf Alltäglichkeit ganz einlassen, diese mit der strukturalistischen Kühle reiner Beobachtung offenlegen, ohne sie bloßzustellen oder zu denunzieren. Da kann sich dann auch der Betrachter nicht mehr wohlgefällig ausschließen. Wo Hundstage hingegen ins Extrem abgleitet, auf der Frotteecouch gefoltert wird, oder einer mit anal eingeführter brennender Kerze die
österreichische Nationalhymne zu singen hat, nähert sich der Film dem zynischen
Blick und einer Effekthascherei, die er im Übrigen vermeidet, und die seine Wirkung eher verwässert.
Ansonsten belegt Hundstage, dass Objektivierung nicht notwendig zur Teilnahmslosigkeit führen muss. Zu spürbar ist in allem Ekel und der Neugier für das Ekelhafte, für die minderen Abgründe des Alltags das Leiden des Regisseurs an dem, was er beschreibt, das Leiden auch an Verhältnissen, die das Erzählen von Geschichten – zumindest diesem Regisseur – unmöglich machen. Hundstage, der beim Venedig-Festival das Publikum
spaltete, von der Jury unter Nanni Moretti aber mit dem (zweitwichtigsten) Spezialpreis prämiert wurde, balanciert auf der Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion, immer dem Absturz in subjektiven Hass oder in die Banalität der reinen Abbildung nahe – die der Film doch immer vermeidet.
Liebe freilich trifft man in diesem wichtigen, herausragenden Film nur in fratzenhafter Verzerrung – eine ferne Erinnerung, das da noch etwas war.