Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Deutschland 2022 · 133 min. · FSK: ab 16
Regie: Emily Atef
Drehbuch: ,
Kamera: Armin Dierolf
Darsteller: Marlene Burow, Felix Kramer, Cedric Eich, Silke Bodenbender, Jördis Triebel u.a.
Filmszene »Irgendwann werden wir uns alles erzählen«
Wir sind die Wandrer ohne Ziele...
(Foto: Pandora)

Ende ohne Ende

Emily Atefs Romanadaption ist großes Drama, hyperrealer Heimatfilm und Gesellschaftsanalyse in einem und zeigt, dass das deutsche Kino ungeahnte Potentiale hat

»Die Zeit zwischen dem Beginn der Wende im Herbst 1989 und der Wieder­ver­ei­ni­gung im Oktober 1990 war eine Phase der extremen Desta­bi­li­sie­rung und gestei­gerten Fluidität der gesell­schaft­li­chen Ordnung. Große Zäsuren wie die Öffnung der Mauer, die letzte Volks­kam­mer­wahl oder die Währungs­union waren prägend, zugleich weichten Routinen und Erwar­tungen bis in die feinsten gesell­schaft­li­chen Kapil­laren hinein auf.«
Lütten Klein, Steffen Mau

Es ist schon fast eine Stunde vergangen in Emily Atefs Nach­wen­de­film, der seine Premiere im Wett­be­werb der dies­jäh­rigen Berlinale feierte. Eine Stunde, in der Daniela Kriens immer wieder an die archai­sche Sprache in Hamsuns Segen der Erde erin­nernder Roman in Bilder überführt wurde (Kamera: Armin Dierolf), die so stark sind, dass man meint, sie riechen zu können. Es sind die Sommer­gerüche der Natur und es sind die Sommer­sehn­süchte der Menschen, das Ächzen einer ganzen Gesell­schaft, die in sparsamen Dialogen versucht, den Alltag mit seiner ernüch­ternden wirt­schaft­li­chen Realität nach der Wende in den Griff zu kriegen, hier im Osten, nicht weit von der ehema­ligen Grenze zur BRD. Doch Mensch denkt, Gott lenkt; ist es die Natur, die mehr weiß, ist es wie bei Fontanes poeti­schem Realismus. Denn über der Hitze des Sommers liegt gleich in den ersten Minuten ein Gewitter. Wir wissen also sofort, oder nein, wir ahnen: dass hier auch eine Tragödie erzählt werden wird, und nach einer Stunde wissen wir zumindest, dass es nicht nur eine Tragödie sein wird, sondern mehrere Tragödien sein werden. Dass es die des fast bibli­schen, einst verstoßenen, und nun aus der BRD auf Besuch heim­ge­kehrten Sohnes sein wird und dass es vor allem die der 18-jährigen Maria (Marlene Burow) und des viel älteren Henner (Felix Kramer) vom Nach­barshof sein wird, zu dem sich Maria hinge­zogen fühlt, obgleich die Gefahren offen­sicht­lich sind. Sie hat nicht nur ihren eigenen, gleich­alt­rigen Freund Johannes (Cedric Elch), bei dessen Eltern auf dem Bren­delhof sie fast schon einge­zogen ist, sondern sie hat auch eine lite­ra­ri­sche Sehnsucht, sie liest Dosto­jew­skis Brüder Karamasow.

Das ist wie alles in diesem Film von Bedeutung, auch wenn man ihn ganz und gar ohne seine Bedeutung sehen und in ihm schwelgen kann. Doch wer die »Kara­ma­sows« kennt, der weiß, dass schon der Titel des Films Dosto­jewski ist und dann auch, dass hier eine Über­tra­gung statt­findet, dass Maria auch der jüngste Karamasow-Bruder Aljoscha ist, der nur wenig älter als Maria ist, und in Dosto­jew­skis Roman ein russisch-ortho­doxes Chris­tentum vertritt, in dessen Zentrum Mitleid, gegen­sei­tiges Verzeihen und Vergebung der Schuld stehen. Und der stets versucht, zu vermit­teln, der ständig auf dem Weg von einer Person zur anderen ist, um sich die verschie­denen Geschichten anzuhören, um Botschaften weiter­zu­geben und um Verständnis fürein­ander zu werben. Was letzt­end­lich auch die Aufgabe, die Bestim­mung von Maria in Emily Atefs Verfil­mung von Kriens Roman ist, deren über­ra­gendes Drehbuch sie zusammen mit Krien verfasst hat und das der lite­ra­ri­schen Vorlage fast schon gespens­tisch nahekommt, auch wenn sich im Film alles ein wenig älter und reifer anfühlt, mehr Fontane als Hamsun ist.

In dieser ersten Stunde ist eigent­lich schon alles angelegt, was passieren wird, auch wenn wir es wie in Fontanes Effie Briest nur ahnen, und wir können uns beden­kenlos der Regis­seurin anver­trauen, die bereits mit ihrer Romy Schneider-Exegese 3 Tage in Quiberon ihre unge­wöhn­li­chen, asso­zia­tiven Quali­täten zeigte.

Und spätes­tens nach dieser ersten Stunde wird deutlich, dass der deutsche Film trotz aller Unkenrufe beileibe noch nicht verloren und kaputt­ge­för­dert ist, dass es auch hier tatsäch­lich Momente von wirklich großem Kino gibt. Das wird in Irgend­wann werden wir uns alles erzählen in der entschei­denden Wende des Films nach ungefähr einer Stunde deutlich, als der verlorene Sohn kurz nach der Währungs­union wieder am heimat­li­chen Tisch sitzt und die Heimat für ihn realer ist als für Maria und die anderen vom Hof, die zu Verlo­renen, Heimat­losen geworden zu sein scheinen.

So selbst­ver­ständ­lich wie plötzlich zise­lieren Atef und Krien aus dem gemein­samen ersten Essen nicht nur eine umwer­fende Gesell­schafts­ana­lyse, sondern auch eine Befreiung, indem sie Maria von ihrer DDR-Zeit in einem privi­le­gierten Jugend­lager erzählen lassen und zur Erklärung dieser Realität, dieses einstigen gesell­schaft­li­chen Traums mit Namen DDR, Maria das legendäre KZ-Lied Die Moor­sol­daten anstimmt. Erst zart, dann immer lauter, bis alle Ex- und immer noch DDR-Bürger einstimmen und die Grenze, die Mauer, der Keil zwischen diesen beiden Gesell­schafts­ent­würfen am Tisch leib­haftig wird. Dieser Moment ähnelt verblüf­fend dem Ende in Michael Ciminos The Deer Hunter (→ Schluss­szene von »Deer Hunter« auf Youtube), in dem das »God bless America« der Über­le­benden einen ähnlich großen iden­ti­täts­stif­tenden Moment auslöst und die verlorene Heimat über das gemein­same Singen wieder­ge­funden wird.

Auch Atef sucht in diesem Moment, im Großen wie im Kleinen und auch später, die verlorene Heimat, wie so viele deutsche Filme der letzten Zeit, und sie ist dabei in ihrer erzäh­le­ri­schen Grund­dis­po­si­tion verblüf­fend nah an Sabrina Sarabis Niemand ist bei den Kälbern. Doch hat man bei Sarabis Film das Gefühl, durch allzu stereo­type Coming-of-Age-Turbu­lenzen unter­for­dert zu sein, ist das bei Atef anders. Denn Atef wagt mehr, erzählt eben nicht nur das übliche Coming-of-Age-Drama, verwoben mit einer Amour Fou, sondern auch ein »Pays Fou«, einen Todestanz der Gesell­schafts­sys­teme, und macht das vor allem mit Dialogen, die weit von der üblichen Stan­gen­ware entfernt sind und mit Szenen, die wie die besagte Tisch­szene multi­la­teral verankert sind. Und die vor allem auch ambi­va­lent sind. Denn wie Atef hier Sex und endlich einmal wieder nackte Männer zeigt, das ist alles anderes als »einver­nehm­lich«. Ist neben Erotik immer auch Macht und Trauma und Krafft-Ebing anwesend, lässt sich auch der Sex als ein Clash der beiden poli­ti­schen System deuten und ist dann auch noch Georg Trakl mit dabei, was in dieser Kombi­na­tion eine fast schon irre und nicht nur expres­sive Wucht besitzt.

Zwar entgleitet Atef in der finalen halben Stunde ihr Film fast, als aus der komplexen Verschrän­kung dieser Ebenen Liebes­be­kenntnis-Dialoge von fast schon melo­dra­ma­ti­schem Pathos brechen, die statt zu bewegen eher ein Lachen evozieren. Doch zum Glück sind das nur Momente, fängt sich Irgend­wann werden wir uns alles erzählen mit einem großar­tigen Felix Kramer als Henner schnell wieder und ist das Ende dann auch der Anfang, dessen Gewit­ter­wolken die Handlung nun eingeholt haben. Aber auch dieses Ende im Anfang ist natürlich kein Ende, denn so wie die ganze Zeit ist Dosto­jewski mit uns und eine Aljoscha aka Maria, die durch eine über­ra­gend nuan­cierte Marlene Burow die ganze Tragik der Wende in einem letzten Blick noch einmal kanonisch kompri­miert.

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»Wir sind die Wandrer ohne Ziele,
Die Wolken, die der Wind verweht,
Die Blumen, zitternd in Todes­kühle,
Die warten, bis man sie nieder­mäht.«

Georg Trakl, Gesang zur Nacht