Frankreich 2019 · 85 min. · FSK: ab 0 Regie: Damien Manivel Drehbuch: Damien Manivel, Julien Dieudonné Kamera: Noé Bach Schnitt: Dounia Sichov Protagonisten: Agathe Bonitzer, Manon Carpentier, Julien Dieudonné u.a. |
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Anleitung sich zu spüren | ||
(Foto: Eksystent / Shellac) |
»Ich habe mein Tanzen nicht erfunden. Das existierte lange vor mir. Seit Jahrhunderten schlief er, und mein Kummer hat ihn wieder geweckt.« (Isadora Duncan)
In drei Teilen erzählt der ehemalige Tänzer Damien Manivel in Isadoras Kinder von der legendären amerikanischen Tanzpionierin Isadora Duncan, die als eine der Erfinderinnen des modernen Tanzes gilt. In Paris Calligrammes von Ulrike Ottinger sah man zuletzt in Archivbildern ihren Bruder Raymond in selbstgefertigter Toga durch die Straßen von Paris laufen, eine Hommage an seine früh bei einem Autounfall verstorbene Schwester. Isadora hatte mit ihrer modernen, neuartigen Tanzsprache die religiösen Darbietungen der Antike wiederentdeckt, und mit Organik und Intuition der Bewegungen dem Körper einen natürlichen Platz eingeräumt. Das war um die Jahrhundertwende, als das klassische Ballett noch unangefochten seine Formelhaftigkeit auf die Bühnen tragen konnte, eine echte Provokation.
Isadoras Kinder, denen der Film gewidmet ist, starben im Kleinkindalter, als der Chauffeur das Auto in die Pariser Seine lenkte, weil er die Bremse nicht fand. Das war 1913, Isadora war gerade mal Mitte dreißig und hat sich von dem Verlust ihrer Kinder nie wieder erholt.
Im Film sieht man eine Studentin in einem Café in Paris sitzen. Sie ist Tanzstudentin – was sich aber erst später erschließt – und bereitet das Stück »Mother« von Isadora Duncan vor, in dem diese den Tod ihrer Kinder zu verarbeiten sucht. Zunächst sieht man jedoch nur, wie die Studentin Duncans Autobiographie »Ma vie« (»Mein Leben«) liest. Der Film fängt so zwar sehr enigmatisch an, weil die Zusammenhänge der Szenen und die Bilder, die einem gezeigt werden – aus dem Fenster oder aus Büchern – unklar bleiben. Auf der anderen Seite ist das aber auch sehr faktisch. Die biographischen Daten werden vorausgeschickt, die Fotos von Duncan sind leicht zuordenbar. Wir vertrauen ganz auf Agathe Bonitzer, die sich hier als Tänzerin, die einen Akt der Kreation durchläuft, auf gewisse Weise selbst spielt. Es ist ein in sich versunkener, nach innen gekehrter Prozess. Agathe ist konzentriert, auf sich gestellt.
Filme über das Suchen und Finden, das sich ohne viel Dialog vollzieht, sind eine Spezialität von Manivel. Mit seinem Debüt Un jeune poète hat er 2014 in Locarno für andächtige Furore gesorgt. Darin hat er von einem jungen Orientierungslosen, Möchtegern-Poeten erzählt, der seinen Tag mit Herumschlendern und Beobachtungen in einem Städtchen am Mittelmeer verbringt. Das war voll lakonischem Witz und voll Präzision. Manivel ist ein unkonventioneller Dichter des Kinos, der sich als Film-Lyriker auch nicht um die Narrativik scheren muss. Manivels Werke sind frei schwebende, leichte Studien, auf die man sich bedingungslos einlassen muss – und kann. Wie in seinem zweiten Film Le parc (2016), in dem er von einem Rendez-vous zwischen einem Mädchen und einem Jungen erzählt. Es ist ein vorsichtiges Sich-Herantasten, das nicht aufgelöst wird. Später geht das Mädchen dann nur noch rückwärts. Das ist verstörend und poetisch zugleich und steckt voll tiefer Metaphorik.
Ähnlich enigmatisch lässt sich Isadoras Kinder an. Im zweiten Teil des Films studiert Manon Carpentier, Schauspielerin mit Downsyndrom, ebenfalls »Mother« ein. Jetzt befinden wir uns ganz im Prozess der Proben: nach der Inspiration im ersten Teil folgt jetzt die Transpiration. Im dritten Teil schließlich verschwinden wie zuvor bereits die Figuren, um einer dritten Protagonistin Platz zu machen: der beeindruckenden Elsa Wolliaston, die der Aufführung
von »Mother« mit Manon Carpentier beigewohnt hat.
Die über siebzigjährige jamaikanische Tänzerin erfüllt den Film schließlich mit Präsenz und bringt mit ihrem fülligen Körper und den geschundenen Füßen Authentizität herein.
Isadoras Kinder ist ein Film über Performance und die Wahrheit des Körpers. Des tanzenden, des behinderten, des alten Körpers. Zwischen den Bildern ergibt sich diese Wahrheit, schwebend und langsam. Am Ende dieser Suche und Reise durch die Körper hat man selbst nicht weniger als eine Initiation durchlebt.
Isadoras Kinder startet am 20.03.2020 wegen der Corona-Virus-Pandemie vorerst nur online. Sie können das Kino auswählen, dem ein Teil der Einnahmen zugute kommt. Support your local cinema!