Deutschland 2022 · 103 min. · FSK: ab 0 Regie: Mike Marzuk Drehbuch: Gesa Scheibner, Mike Marzuk Kamera: Alexander Fischerkoesen Darsteller: Mika Ullritz, Milo Haaf, Lola Linnea Padotzke, Mehmet Kurtulus, Anatole Taubman u.a. |
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Zwei Welten, ein Ziel... | ||
(Foto: Leonine) |
Bei einer Titelvorgabe wie Der junge Häuptling Winnetou entstehen zweifellos große Erwartungshaltungen. Ausgeschlossen ist von vorneherein ein sensibler und ernster Coming-of-Age Film wie ihn der junge Hark Bohm in seinem meisterlichen Debüt Tschetan, der Indianerjunge 1972 in den bayerischen Bergen drehte. Denn Winnetou ist Klassikerstoff. Nicht nur weil Karl May, einer der größten Hochstapler der deutschen Literaturgeschichte, der in diesem Jahr 180 Jahre alt geworden wäre, neben erfundenen Reiseberichten auch Romangestalten wie Winnetou und Old Shatterhand geschaffen hat. Sondern auch, weil vor genau 60 Jahre, also 1962, mit dem Schatz im Silbersee das erfolgreichste deutsche Kino-Franchise seinen Anfang nahm, eine Serie von Karl-May-Verfilmungen, die zum deutschen Sehnsuchts- und Fluchtort par excellence wurden, eine Utopie, in der es sich auch im spürbaren Schatten des Dritten Reiches und einer durch den Kalten Krieg und den zunehmenden Aufwind weltweiter Gegenkulturen verunsicherten Gesellschaft auch als Familie gemeinsam und ganz unbefangen noch lachen, weinen und träumen ließ.
Die Wirkung dieser perfekten Familienfamilie ließ auch noch lange nach ihrem Entstehen nicht nach – sei es durch die Wiederholungen im deutschen Fernsehen, die Karl May-Spiele in Bad Segeberg oder die dann fast ebenfalls so erfolgreiche Parodie Der Schuh des Manitu (2001) von Bully Herbig.
Dennoch gehört schon einiges an Mut dazu, 60 Jahre nach dem ersten Leinwandauftritt Winnetous ein Prequel zu inszenieren, die die Kindheit eben jenes Winnetous zum Thema hat. Denn nicht nur der Erfolg der Parodie liegt ja schon zwanzig Jahre zurück, sondern der Western mit seinen Cowboys und Indianern hat sich durch zahlreiche Spätwesternwerke stark von seinen Wurzeln emanzipiert und hat in den letzten Jahren durch Filme wie etwa Taylor Sheridans Wind River (2017) Facetten erhalten, die selbst den Spätwestern alt aussehen lassen. Und in Familienfilmen? Da tauchen eigentlich nur dann noch Indianer auf, wenn sie wie in Yakari einen eindeutig pädagogischen Duktus haben.
Und dann tobt seit einiger Zeit auch eine sehr emotionale Debatte um das geforderte Tabu der kulturellen Aneignung, über die David Signer am 4. August in der NZZ einen kritischen Überblick gab, und dabei u.a. auch die bislang vor allem in den USA geführte Diskussion erwähnt, welche Rollen Schauspieler noch spielen dürfen, ob also etwa Indianerrollen noch durch Schauspieler dargestellt werden sollten, die keine indianischen Wurzeln haben.
Von all dem scheint Der junge Häuptling Winnetou noch nichts gehört zu haben, denn hier wird dort weitergemacht, wo 2001 mit Bully Herbig aufgehört wurde. Einer derben Komödie mit Slapstick-Elementen, die sich dann und wann auch des melodramatischen Ernstes ihrer ganz frühen Vorlagen erinnert und die sich nicht ganz entscheiden kann, für welches Zielpublikum sie eigentlich gemacht wurde.
Mit Anspielungen auf Figuren, die in den frühen Filmen der 1960er vorkommen, wie etwa Sam Hawkens (Marwin Haas), der hier schon als Kind seine berühmten Ticks auslebt, Intschu-tschuna (Mehmet Kurtuluş), Nscho-tschi (Lola Linnéa Padotzke) und natürlich Winnetou (Mika Ullritz) soll sicherlich die heutige Eltern- oder mehr noch Großelterngeneration ins Boot geholt werden. Mit einer neuen Figur wie dem Blutsbruder-Old-Shatterhand-Ersatz Tom Silver (Milo Haaf), der mit Winnetou ein ähnlich wissbegieriges, lernfähiges und ungleiches Paar abgibt wie das Paar in Norbert Lechners bayerischer Tom Sawyer-Adaption Tom und Hacke, bewegt sich der Film dann sehr eindeutig auf dem Boden des guten, soliden deutschen Kinderfilms.
Die Story führt diese beiden Marketing-Initiativen ein wenig holprig zusammen, und gerade zu Anfang wirken viele Dialogpassagen wie aufgesagt. Aber im Lauf des Films gelingt es Mike Marzuk mit seiner Erfahrung aus fünf Fünf Freunde-Filmen nicht nur das Kinder-Ensemble immer souveräner in eine zunehmend interessantere Handlung zu überführen. In der sind zwar die Bösen die üblichen Verdächtigen und wird das im gegenwärtigen Kinderfilm fast schon mantraartig durchdeklinierte »zusammen sind wir stärker als allein« auch hier sehr betont paraphrasiert, doch macht es Spaß und berührt sogar, wie hier die Bösen zur Rechenschaft gestellt werden und trotz kultureller Unterschiede eine (Kinder-)Freundschaft entsteht. Hier unterscheidet sich Winnetou zwar in nichts von Yakari, dafür bietet Der junge Häuptling Winnetou aber eine weiter gefächerte Personaldecke aus Menschen (und immerhin auch einem »sprechenden« Tier), die vor allem dann Spaß machen, wenn sie nicht ganz und gar verblödelt inszeniert werden, sondern auch mal ein wenig Lebensernst beweisen dürfen.
Andrerseits deutet gerade das hier genüsslich ausgespielte tantentunten-artige Spiel des oberbösen Todd Crow (Anatole Taubman) an, dass Mike Marzuk und seine Drehbuchautorin Gesa Scheibner möglicherweise einen Blick in Arno Schmidts Karl May-Studie Sitara und der Weg dorthin – Eine Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl Mays geworfen haben, in dem Schmidt das Werk Karl Mays aus Sicht der Psychoanalyse Sigmund Freuds untersucht und analysiert und auf dessen (homo-)sexualisierte Verklausulierungen hingewiesen hat. Und damit hat Der junge Häuptling Winnetou zumindest für ein paar wundervolle Momente schon fast wieder etwas sehr erfrischend Modernes.