USA 2023 · 206 min. · FSK: ab 12 Regie: Martin Scorsese Drehbuch: Martin Scorsese, Eric Roth Kamera: Rodrigo Prieto Darsteller: Leonardo DiCaprio, Robert De Niro, Lily Gladstone, Jesse Plemons, Tantoo Cardinal u.a. |
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Der Wahrheit ins Angesicht sehen und dennoch weitermachen... | ||
(Foto: Paramount) |
»The greed will be the thing that kills us all.« – 1923, Folge 3
»No use of you running or screaming and crying
'Cause you've got a home, man
Long as I've got mine« – Going up the country, Alan Wilson/Canned Heat
Liest man Zach Barons Ende September im GQ Magazine erschienenes und sehr lesenswertes, episches Interview-Porträt über Martin Scorsese, könnte man glauben, dass Scorsese so wie in seinem letzten Film The Irishman, altersmilde Rückblickssentenzen zunehmend wichtiger in Alltag und Werk werden, scheint es doch immer einsamer um ihn zu werden. Doch Scorsese sagte auch, dass er sich weiterhin frage, wer er eigentlich sei, weder die Neugierde auf sich noch auf das Leben an sich nachgelassen hätte.
Es ist wohl diese auch mit 80 Jahren nicht nachlassende Neugierde und von den immer wieder abstrusen Geschmacksregeln Hollywoods ungetrübte Kreativität, der wir Scorseses neuen Film Killers of the Flower Moon zu verdanken haben, der Verfilmung des so wütenden wie nüchternen Sachbuchs von David Grann, das sich der Morde an mehreren reichen Angehörigen des Indianerstammes der Osage im Reservat Osage County in Oklahoma annimmt, nachdem in den frühen 1920er Jahren große Ölvorkommen unter ihrem Land entdeckt worden waren.
Konzentriert sich Granns Buch auf das gerade neu formierte FBI und dessen Suche nach den Mördern und den darauf folgenden Gerichtsprozess, setzt Scorsese mit Drehbuchlegende Eric Roth (Forrest Gump, The Insider, House of Cards, Dune) weitere Akzente, ohne dabei jedoch Granns Schwerpunkte auszulassen.
In epischer und fast schon klassischer Spätwestern-Art – ein Zug kommt an – führt Scorsese seine Helden ein und überrascht den Zuschauer gleich am Anfang mit einer Perspektive auf das indigene Nordamerika, wie sie nur ganz selten im amerikanischen Kino zu sehen ist, wie sie in den letzten Jahren vielleicht nur Tony Sheridan in seinem exzellenten Wind River und später in seinen aufeinander referenzierenden Serien 1883 und 1923 umgesetzt hat.
Denn anfangs ist alles so, wie es wohl kein Zuschauer erwartet: Indianer vom Stamm der Osage sind durch den Erdölfund in ihrem Reservat die Gewinner und die meisten Weißen vor Ort die Verlierer; niedere Dienstleister, die auf den Ölfeldern, als Angestellte oder Taxifahrer arbeiten. Erst nach einer Stunde löst sich dieses ungewohnte Bild auf, als immer deutlicher wird, dass William King Hale (Robert de Niro) und sein gerade aus dem 1. Weltkrieg heimgekehrter Neffe Ernest Burghart (Leonardo DiCaprio) nicht die sind, als die sie sich ausgeben.
In komplexen, barocken Dialogsequenzen gelingt es Scorsese und Roth Beziehungen zu entwickeln und Charaktere zu formen, die von einer derart psychologischen Dichte und Akkuratesse, Ironie, Witz und Tragik, aber auch der notwendigen Banalität durchwirkt sind, dass bis zum Ende der dreieineinhalb Stunden allein schon die Spannung dieser dann auch noch fantastisch gespielten Beziehungsdyade nicht nachlässt. Mehr noch, als Scorsese mit jeder weiteren Stunde weitere Großschauspieler in sein Drama integriert, die von Lily Gladstone verkörperte Frau an DiCaprios Seite ebenso schillert wie DiCaprio selbst und schließlich mit Jesse Plemmons, der bereits in The Irishman sein Scorsese-Debüt gab und The Whale-Brendan Fraser weitere Rollen in dieses dichte Schauspiel geworfen werden, die wie Schachfiguren ein Spiel und den Charakter des Films, aber auch das Genre verändern.
So wird aus dem Western schnell ein ambivalenter Liebesfilm mit einer der ungewöhnlichsten Liebesgeschichten der letzten Jahre, wird ein gesellschaftskritisches Drama immer mehr zum Gangsterdrama und FBI-Thriller mit wissenschaftshistorischer Tiefe und dann auch noch ein fast schon klassischer Gerichtsfilm, bevor Scorsese am Ende mit einem großartigen brechtschen Verfremdungseffekt, einer Radio-Show und einem seiner vielleicht längsten Cameo-Auftritte an der Seite von The White Stripes-Jack White ein letztes Mal überrascht.
Ist allein das schon großes, packendes, sogartiges Kino, dessen thematisches und personelles Kaleidoskop durch Thelma Schoonmaker – die seit Scorseses erstem Film Wer klopft denn da an meine Tür? (1967) kontinuierlich mit Scorsese zusammengearbeitet hat – und ihren souveränen Schnitt immer wieder rhythmisch miteinander verzahnt und amalgamiert wird, werden diese dreieinhalb Stunden dann auch noch durch ein Score getragen, das gleich am Anfang durch die Einspielung eines altes Blues-Titels ein so kluges wie überraschendes Zeichen setzt. Denn Going Up the Country ist eigentlich als großer Woodstock-Hit und Gegenkultur-Hymne durch Canned Heat bekannt geworden und nicht in der ursprünglichen Version des Songsters Henry Thomas. Doch Robbie Robertson, mit dem Scorsese seit seinem bahnbrechenden Musikfilm The Last Waltz, der das Abschiedskonzert von Robertson und seiner Folk-Rockgruppe The Band erzählte, regelmäßig zusammengearbeitet hat, irritiert in Killers of the Flower Moon nicht nur, sondern er fügt dem Film neben weißem Folk auch indianisches Songmaterial hinzu, das Robertson, dessen Mutter eine Mohawk-Cayuga-Indianerin war, so dezent wie markant in den Fluss des Films mit einfließen lässt und Killers of the Flower Moon damit eine weitere Erzählebene hinzufügt, die spannender nicht sein könnte. Es sollte übrigens Robertsons letzte filmmusikalische Arbeit sein; am 9. August, drei Monate nach der Premiere von Killers of the Flower Moon in Cannes, verstarb Robertson.
Am Ende ist es dann aber weder die Musik, noch die Tragik und das Tragikomische (!) der hier erzählten Lebenslinien, ist es auch nicht das FBI, sondern das Amerika und seine Doppelmoral, das wie ein dämonisches Gespenst, ein ewig Untoter im Raum steht. Ein Amerika, das in sehr ähnlicher thematischer auf historischen Fakten basierender Konstellation und ebenfalls mit einer finanziellen Carte Blanche ja schon in Michael Ciminos Heaven’s Gate als das vorgeführt wurde, was es eben nicht ist, kein Land der Freiheit und der Gerechtigkeit und keines des großen amerikanischen Traums, der für alle gilt.
Auch Scorsese nimmt sich dieser Doppelmoral und Lüge an und das so konsequent wie es einst Cimino tat. Damals zerbrach Ciminos Karriere daran und das ausführende Studio United Artists ebenfalls.
In Scorseses Fall dürfte alles gut gehen, hat nicht Hollywood allein die Gelder gegeben, sondern Apple sich an den notwendigen 200 Millionen Dollar beteiligt, die Paramount zu viel waren, um das Risiko allein zu tragen. Ein Risiko, das sich nicht erst durch die Doppelauswertung in Kino und Stream, sondern sicherlich auch bei der nächsten Oscar-Verleihung auszahlen dürfte.