Frankreich/Belgien 2016 · 104 min. · FSK: ab 12 Regie: Katell Quillévéré Drehbuch: Katell Quillévéré, Gilles Taurand Kamera: Tom Harari Darsteller: Tahar Rahim, Emmanuelle Seigner, Anne Dorval, Bouli Lanners, Kool Shen u.a. |
»Die Lebenden reparieren«: Was diesen trocken-technischen Titel trägt, ist, um es kurz und deutlich zu sagen, ein Film über eine Organ- bzw. Herztransplantation. Das macht erst einmal Angst, in vielerlei Hinsicht. Angst vor großen Leinwand-Emotionen, vor einem engagierten Drehbuch mit dem Anliegen, uns zur Organspende zu bewegen. Dies alles aber ist nicht der Fall. Die Lebenden reparieren verzichtet auf die emotionale Exploitation seines Themas und setzt statt dessen auf Natürlichkeit und Normalität: auf die natürliche Traurigkeit, die man empfindet, wenn ein Mensch viel zu früh, viel zu jung sterben muss, auf einfache, normale Gesten, wie das Schließen der Augenlider des Verstorbenen, was viel Symbolkraft hat, ohne für sich genommen symbolisch zu sein, auf die präzise Darstellung von Vorgängen, die die Technizität des letzten Moments zeigt, ist dieser erst einmal in die Hände von Ärzten und der Krankenhausverwaltung gelangt.
Die 37-jährige Katell Quillévéré hat diesen erstaunlichen Film gemacht. Es ist erst ihr dritter, und er zeugt von einer erzählerischen Kraft, protokolliert Vorgänge nahezu dokumentarisch und weiß, Vorgeschichten und Seitenstränge derart geschickt zusammenzuführen, dass ein großes Ensemble von Figuren mühelos zusammengehalten wird. Allesamt sind sie hochkarätig besetzt, allein schon der Cast ist eine einzige Filmempfehlung: Simons Mutter wird gespielt von Emmanuelle Seigner (In ihrem Haus), Claire, die Empfängerin des Spender-Herzens, spielt Anne Dorval, die man aus den Filmen von Xavier Dolan kennt. Tahar Rahim schließlich (er ist uns aus Jacques Audiards Ein Prophet oder Asgar Farhadis Le passé – Das Vergangene bekannt), ist der verantwortliche Pfleger, der die Organspende koordiniert.
Der figurale Knoten, an dem die Stränge zusammentreffen, das, wenn man so will, personale »Herz« der Erzählung, ist der 19-jährige Simon (gespielt von Gabin Verdet, der 2015 Surf-Champion von Aquitaine wurde). Simon ist die Hauptfigur, die im Koma liegt und um die sich alles dreht. Zentrales Sinnbild für die Vergeblichkeit des Lebens ist das Krankenhausbett, auf dem der jugendliche, durchtrainierte und offensichtlich gesunde, aber trotzdem tote Körper liegt, in seinen Funktionsweisen nur aufrecht erhalten durch die Maschinen, die neben dem Bett geparkt sind.
Quillévéré hat mit Die Lebenden reparieren den gleichnamigen Roman (der wiederum nach einem Tschechow-Zitat betitelt ist, nach dem man »die Toten begraben, die Lebenden reparieren« solle) von Maylis de Kerangal als Vorlage genommen und ihn fürs Kino bildmächtig adaptiert, Erzählstränge ausgebaut und ihn ins Präsens geholt, um die im Kino immer etwas unbeholfenen Rückblenden zu vermeiden, wie sie im Interview mit dem »film comment« darlegt. Sie kommt dabei weg von der Erzählung über das junge Leben des Simon, das viel zu schnell enden musste, nimmt dadurch dem Zuschauer aber auch das falsche, identifikatorische Mittrauern, da wir ihn kaum kennengelernt haben. Verbunden mit seinem Tod bleibt eine etwas rationalere, philosophische Ebene: Hat sein Leben womöglich dennoch einen Sinn gefunden, indem er anderes Leben mit seinen Organen, seiner Leber, seiner Niere, seinem Herzen, retten konnte?
Wie der Film schildert auch das Buch in weiten Passagen Administration und Mechanik der Transplantation, erzählt von Listen mit Spendern und Empfängern, von Kühltaschen und schnellen Wegen, wenn es soweit ist. Kerangal hat den Jargon erfasst, den die Jugendlichen und das Krankenhauspersonal sprechen, um in den Dialogen authentisch, realistisch zu sein. Ähnlich ist auch Quillévéré vorgegangen, die in OPs die heikle Situation der Organentnahme recherchiert, mit Angehörigen und Betroffenen gesprochen hat und so einen dokumentarischen Boden für die Fiktion fand.
Der Film beginnt mit einem Blick zurück, ähnlich dem Blick von Orpheus auf Eurydike, der eine Todesfahrt einleitet. Kurz hat sich Simon noch umgedreht, ein letzter Blick auf das Bett, das er frühmorgens verlassen hat, und in dem seine Freundin noch schläft, bevor er mit einem Sprung aus dem Fenster das Haus verlässt, in der Plansequenz zeigt sich die sichere Landung im Vorgarten, mit einem Satz ist er auf dem Skateboard, schnell die Fahrt bergab zu seinen Freunden, das Auto wartet schon. Der Auftakt ist ganz Teenager-Movie, voll von Eskapade und Eskapismus, man trifft sich zum Surfen in einem rauen, ungestümen Point-Break-Atlantik.
Ein rasantes Intro, an dessen Ende eine gewaltige, soghafte Bild-Welle auf den Zuschauer zukommt. Hier wird das halluzinierende Bewusstsein von Simon, der einen tödlichen Autounfall hat, mit der Wahrnehmung des Zuschauers ineinsgesetzt, es ist der Moment der Unentrinnbarkeit und Ausweglosigkeit, in dem das Kommende bereits enthalten ist.
Danach wird nichts mehr so sein, wie es war, auch atmosphärisch. Es wird um eine große emotionale wie ethische Entscheidung gehen, die sich aber auch technisch-administrativ und unter chirurgisch-physiologischen Gesichtspunkten stellt. Alles in allem geht es um Dringlichkeit, ums Geben, Nehmen, um Verlust, Abschied, die Familie, das Leben.
Quillévéré inszeniert ein Nachdenken und Abwägen, wird dabei jedoch niemals thesenhaft. Immer bleibt sie in den Szenen drin, nie lässt sie ihre Figuren sprechen, damit diese eine bestimmte Botschaft aussenden. Einfache Symmetrien genügen ihr, um deutlich zu machen, dass es in der geschilderten Geschichte um eine Abstraktion, eine Andeutung des Möglichen geht. Der Familie um Simon stellt sie die Empfängerin des jungen Herzens gegenüber, Claire, die sie im Gegensatz zum Roman mit mehr Leben und mehr Geschichte ausstattet, um die Erzählung im Zuge der Herztransplantation gewissermaßen von Simon wegzunehmen und auf Claire weitergeben, eine narrative Transplantation durchführen zu können. Auch der Zuschauer muss von der Hoffnung auf Happy End Abschied nehmen, sich von den Überlegungen der Eltern lösen und sich auf die Erwägungen der ihnen gegenübergestellten Figur, Claire, einlassen. Das ist auch ein Abschied vom Kino der Identifikation, wenn sich diese auf unterschiedliche Positionen verteilen muss.
Der Film macht wieder Hoffnung auf eine neues junges französisches Kino abseits der französischen Export-Märchen über »Savoir vivre« und unzähliger, bodenloser Charakter-Komödien. Katell Quillévéré zeigt gleichermaßen eine ästhetische, erzählerische, thematische wie emotionale Sicherheit in dem, wie und was sie erzählt, und erinnert darin an die Erneuerung des französischen Kinos Mitte der 1990er Jahren, als neue Autoren und Regisseure ein Erzählkino machten, das
sich vom Erbe der Nouvelle Vague emanzipiert hatte. Es waren Jugenderzählungen, Geschichten aus der Provinz oder über bis dato noch nicht erzählte soziale Räume, wie Gaël Morels Debüt A toute vitesse (mit der von der Bildfläche verschwundenen Élodie Bouchez), Jacques Audiards Regarde les hommes tomber, Catherine Breillats Meine Schwester, Cédric Klapischs Le péril jeune oder Mathieu Kassovitz' La haine.
Verpflanzen wir doch das Herz des französischen Kinos dorthin, wo wir es wieder schlagen hören.