Leto

Russland/F 2018 · 129 min. · FSK: ab 12
Regie: Kirill Serebrennikow
Drehbuch: , , ,
Kamera: Wladislaw Opeljants
Darsteller: Roma Zver, Irina Starshenbaum, Teo Yoo, Philipp Awdejew, Alexander Gorchilin u.a.
Das gab es zu Sowjet­zeiten: Singen am See

Der Traum ist aus

Leningrad. Leto. Der soge­nannte Rock-Club in Leningrad irgendwo in einem herun­ter­ge­kom­menen Hinterhof. Drei junge Frauen, die Hinter­hof­leiter empor­stei­gend, um heimlich zu einem Rock­kon­zert zu schlei­chen. Der Rock-Musiker Mike Naumenko, gespielt vom Sänger Roman Bilyk/Roma Zver (eine wahre Entde­ckung des Regis­seurs für diese Rolle), steht auf der Bühne, singt ein Lied. »Du bist ein Miststück.« Das Publikum sitzt brav auf seinen Plätzen. Es sind die 1980er Jahre, russi­scher Under­ground. Jeder Ausfall, wie z.B. ein hoch­ge­ho­benes Plakat mit einem aufge­malten Herzen von seiner Frau Natascha (Irina Star­s­hen­baum), wird sofort von den Aufsehern unter­bunden. Hinter den Kulissen wird gekifft und Wein getrunken.

Bald geht es an den Finni­schen Meerbusen. Ein Picknick. Ein Lied wird gesungen: »Leto«. Viktor Zoi, gespielt von dem korea­ni­schen Schau­spieler Teo Yoo, taucht auf. Damals noch unbekannt, wurde Zoi später zur Sowjet-Rock-Legende. Das sind die ersten Szenen des Films.

Mit diesen ersten Szenen beginnt eine Freund­schaft zwischen dem melan­cho­li­schen Mike und dem schüch­tern wirkenden, charis­ma­ti­schen Viktor Zoi sowie eine roman­tisch-plato­ni­sche Beziehung zwischen Natascha Naumenko und Viktor. Eine rührende und gleich­zeitig spannende Drei­ecks­be­zie­hung, die von kaum merk­li­chen Schwin­gungen durch­drungen ist. Mike bemerkt eifer­süchtig das Interesse seiner Frau Natascha an Viktor Zoi, aber auch dessen unge­stümes Talent. Selbstlos und edel wie ein wahrer Aris­to­krat hilft er ihm, sein erstes Album aufzu­nehmen, gerät dabei selbst in eine künst­le­ri­sche Krise. Viktor, künftiger Held des sowje­ti­schen Rocks, ficht indes innere Kämpfe aus. Der unirdisch hübschen Ehefrau seines Freundes Mike zugeneigt, vergöt­tert er gleich­zeitig diesen. Am Ende entscheidet er sich für Mike, nimmt sich in Bezug auf Natascha zurück. Und dann Natascha, die mit Irina Star­s­hen­baum am besten besetzte Rolle des Films ist: In ihrer diskreten Weise ist sie unnahbar schön und allen anderen Frauen unähnlich in ihrer ruhigen und gleich­zeitig exqui­siten, fast aris­to­kra­ti­schen Würde; wie eine Heldin aus dem Jenseits, die über allen anderen zu schweben scheint.

Kein Wunder, dass die beiden Männer verrückt nach ihr sind. Auch die Kamera verliebt sich in sie – ähnlich wie in Die Geschichte der Nana S. in Anna Karina. Die wahre Natascha Naumenko war zu den Dreh­ar­beiten des Films als Beraterin einge­laden und erinnert sich in einem Interview sehr zärtlich an die Zeit und diese keusche »Schul­romanze« in Form von Händchen-Halten und Durch-Leningrad-Spazie­ren­gehen.

Erstaun­li­cher­weise jedoch hat der leichte, dennoch melan­cho­li­sche Film, der übersetzt »Sommer« heißt, bereits vor seinem Erscheinen für viel Aufsehen und Aufruhr in Russland gesorgt.
Im eigenen Land wurde dem Film die sozi­al­kri­ti­sche und demnach negativ konno­tierte Sicht des oft als Provo­ka­teur auftre­tenden Regis­seurs auf die damalige Zeit und Gene­ra­tion vorge­worfen – ohne dass man den Film gesehen hatte. Leto ist jedoch eher eine roman­ti­sie­rende, idea­li­sie­rende Version dessen, was man damals als Realität bezeichnen konnte.

Dann wurde ihm von den Augen­zeugen der damaligen Ereig­nisse doku­men­ta­ri­sche Untreue vorge­worfen. Als ob ein Spielfilm eine Verpflich­tung zu doku­men­ta­ri­scher Authen­ti­zität hätte! Die lebenden Augen­zeugen, wie z.B. der Rock-Musiker Boris Grebenstschikov (im Film unter dem Namen Bob) waren damit beschäf­tigt, den Film nach dem Prinzip »ähnlich – nicht ähnlich« und »es war so – es war nicht so« zu sezieren. Diesen Diskurs voraus­ah­nend, führt der Regisseur im Film eine ironische Figur namens »Skeptiker« ein, gespielt von Alexandr Kusnetsov, die ganz im Brecht'schen Verfrem­dungs­sinne arbeitet. Immer wieder sagt der Skeptiker in die Kamera, dieser und jener sähe dem und dem nicht ähnlich, oder hält ein Tableau mit roten Lettern hoch, »das war nicht so«, und durch­bricht somit die vierte Wand zwischen der Filmwelt und dem Zuschauer.

Die erfun­denen traumähn­li­chen Szenen, in denen etwa die Passa­giere eines Zugs im Chor »Psycho Killer« von Talking Heads oder »The Passenger« von Iggy Pop mitsingen, sind Wunsch­vor­stel­lungen sowohl der sowje­ti­schen Rock­mu­siker als auch des Regis­seurs selbst: ein nost­al­gi­scher Traum, ein »Wie-schön-es-wäre-wenn«: Wie schön es wäre, wenn die Fans beim Konzert wie bei einem üblichen Rock-Konzert aufspringen und mitsingen würden, statt starr und wie ange­wur­zelt auf ihren Plätzen zu sitzen! Wenn alle tole­ranter, mit weniger Angst erfüllt wären und sich somit freier gefühlt hätten. Diese Szenen sind auf jeden Fall die auffal­lendsten im Film – zumindest für dieje­nigen, die die sowje­ti­sche, zuge­knöpfte Realität kannten.

Im Grunde genommen könnte man diesen Film sogar als Film über das nicht Gesche­hene defi­nieren: über eine Liebes­ge­schichte, die nicht zustande gekommen ist; über das Singen der englisch­spra­chigen Rock­lieder rundherum, was es im sowje­ti­schen Lebens­raum nicht gab; über die nicht erschie­nenen Alben der Prot­ago­nisten; über die nicht vollen, mit Fans über­füllten Konzertsäle bzw. Stadien; über die früh gestor­benen Rockstars, die zu keinen geworden sind, wie z. B. Mike Naumenko, von dem sogar in Russland nur wenige Musik­in­ter­es­sierte etwas wissen.

Aber das gab es: das Sitzen und Singen in der Küche der Rock­mu­siker oder die Picknicks, das Abhängen und Baden am Finni­schen Meerbusen, begleitet von den Liedern von Mike Naumenko und Viktor Zoi. Auch hier der Wunsch nach der Freiheit. Sie wird in den »realen« Szenen trotz aller staat­li­chen Verbote gelebt. Zwar lokal und eska­pis­tisch und halb under­ground-mäßig betrieben, aber nichts­des­to­trotz bedeutete sie sehr viel für die damalige Gene­ra­tion und für die Verän­de­rungen, die kurz danach kamen.

Dieser Film von Kirill Sere­bren­nikov ist definitiv sein bislang filmischster und origi­nellster. Er gilt in Russland als der derzeit progres­sivste und inter­es­san­teste Thea­ter­re­gis­seur; seine vorhe­rigen Filme hatten so auch eine starke Tendenz zur Thea­tra­lität und Kammer­spie­lig­keit, die er in diesem Film fast über­wunden hat, auch wenn die Szenen auf und hinter der Bühne des Rock-Clubs noch thea­tra­li­sche Züge aufweisen. Inter­es­san­ter­weise gehören viele mitwir­kende Darsteller – wie Alexandr Gort­schilin in der Rolle von Punk oder Philip Avdejev als Ljonja und viele andere – zu den von Sere­bren­nikov ausge­bil­deten Thea­ter­schau­spie­lern des Moskauer Gogol-Zentrums. Sie sind viel­seitig und multi­funk­tional wie ihr Lehrer und wirken sowohl im Theater als auch im Film absolut adäquat. Außerdem sind sie als Schüler ihres Lehrers genauso wie dieser: angstlose Frei­denker.

Dennoch: Der Regisseur wurde während der Film­dreh­ar­beiten im August 2017 verhaftet und befindet sich seitdem unter Haus­ar­rest und brachte den Film unter erschwerten Bedin­gungen zu Ende. Angeklagt ist er wegen der angeb­li­chen Verun­treuung der staat­li­chen Förder­gelder für sein Projekt »Gogol-Zentrum«. Viele – wie z. B. die Schau­spie­lerin Lia Akhed­zha­kova u.a. – behaupten, dass es sich um eine kafkaeske, voll­kommen unbe­rech­tigte Anschul­di­gung handelt, um Frei­denker wie Kirill Sere­bren­nikov einzu­schüch­tern.

Kirill Sere­bren­nikov wollte »einen Film über Menschen machen, die glücklich sind und absolute künst­le­ri­sche Freiheit genießen, trotz der Unter­drü­ckung durch die Regierung. Sie machen Musik und können sich gar nichts anderes vorstellen.« Wer hätte das gedacht, dass Leto über die Sowjet­zeiten der 1980er Jahre so viel mit der heutigen russi­schen Realität gemeinsam haben könnte? Aufgrund des Haus­ar­restes scheint dieser mit Leich­tig­keit erfüllte Film am Ende doch wieder eine Aussage über über­flüs­sige, unan­ge­passte künst­le­ri­sche Persön­lich­keiten zu sein, zu welchen Sere­bren­nikov selbst gehört. Sein erklärtes Ziel war es, »den wahren Wert der Freiheit einzu­fangen und zu verdeut­li­chen«.

Vor der Eröffnung der 71. Inter­na­tio­nalen Film­fest­spiele von Cannes wandte sich Festi­val­leiter Thierry Frémaux in einem Brief an den russi­schen Präsi­denten Wladimir Putin und bat für den Auftritt Sere­bren­ni­kovs in Cannes. Ohne Erfolg, denn bei der Premiere war Sere­bren­nikov nicht anwesend. Statt­dessen ein riesiges Schild mit seinem Namen darauf, von den Produ­zenten und Schau­spie­lern des Films rührend gehalten.