Frankreich/D/Ö 2012 · 127 min. · FSK: ab 12 Regie: Michael Haneke Drehbuch: Michael Haneke Kamera: Darius Khondji Darsteller: Jean-Louis Trintignant, Emmanuelle Riva, Isabelle Huppert, Alexandre Tharaud, William Shimell u.a. |
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Sich der Angst vor dem Alter stellen |
Das erste Bild zeigt eine Haustür, Altbau, von innen. »Fire Department!« Ein paar kräftige Schläge, die Tür ist aufgebrochen. Draußen wird geredet, über »sie«, die man lang schon nicht mehr gesehen habe. Mit einem Beamten treten wir ein, werfen einen Blick in ein Wohnzimmer, Fenster werden geöffnet, eine mit Klebeband versiegelte Tür aufgehebelt. Darin, auf dem Bett, festlich angezogen und mit Blumen geschmückt, die Leiche einer alten Frau, deren Tod offenkundig schon eine Weile her ist – ihr Gesicht ist eingefallen. Wir glauben also zu wissen, worauf der Film zuläuft. Aber eigentlich wissen wir nichts.
Schnitt. Ein Zeitsprung, ein paar Monate früher: Der Blick auf einen Konzertsaal von der Bühne aus, aufs Publikum. Ein Wimmelbild, viele Leute, alles bewegt sich. Ein bisschen wie der Anfang von Caché. Langsam wird es ruhig, und mit unglaublich sicherer Hand gelingt es Michael Haneke, unseren Blick trotzdem auf ein altes Paar zu lenken, das einigermaßen zentral sitzt. Womöglich erkennen wir die greisen Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva. Sie spielen das Paar, um das es hier geht, Georges und Anne. Ganz leicht blickt er sie an, von der Seite. Man spürt Vertrautheit; Liebe. Dann beginnt das Konzert, eine Schubert-Sonate.
Mit der Straßenbahn fahren sie nach Haus, in die Wohnung des ersten Bildes. Am (vermutlich) nächsten Morgen sitzen sie in der Küche beim Frühstück, reden über Beiläufiges. Plötzlich stimmt etwas nicht. Anne antwortet nicht, starrt reglos. Ein paar Minuten später scheint alles wieder normal, sie kann sich an ihr Schweigen gar nicht erinnern, dann gießt sie sich noch einen Tee ein – Zentimeter neben die Tasse.
Es geht schnell in diesem Film: Aus einem Gespräch mit der von Isabelle Huppert gespielten Tochter, der einzigen weiteren Person in diesem Film, die einigermaßen zentral ist, erfahren wir von einem Schlaganfall, einer Operation. Dann kommt Anne nach Hause, im Rollstuhl sitzend. Jetzt erst lernt man beide näher kennen: Musik spielt in beider Leben eine große Rolle. Sie war Klavierlehrerin auf höchstem Niveau, vielleicht einst selbst Pianistin. Er war Autor, womöglich Schriftsteller, oder Musikwissenschaftler. Er spielt auch Klavier. Man liest ein Buch über Harnoncourt, die Le Monde. Lebt in einer tollen Riesenwohnung, die hochangenehm und entspannt wirkt. Es gibt ein Klavier, viele Bücher, eine alte Schreibmaschine, keinen Fernseher, aber eine CD-Anlage, keinen PC, aber ein Mobiltelefon, und auch wenn das Dekors zeitlos ist und ein bisschen altmodisch, das Leben der beiden eher durch die 50er-Jahre, als von später dominiert scheint, ist absolut klar, dass dies alles heute geschieht.
Aber der Ernst des Lebens hat brutal zugeschlagen, nichts wird wieder wirklich so zufrieden sein, wie am ersten Abend des Films. Als sie nach Hause kommen, will sie nur eines von ihm: »Versprich mir: nie wieder zurück ins Hospital.« Die Gesichter erzählen alles, was hier geschieht, Haneke beobachtet. Voller Anteilnahme, sehr neugierig, ruhig und genau, nicht zu schnell oder zu langsam.
Wir sehen Intimität: Georges hilft beim Aufstehen, bei der Toilette, bei der Gymnastik. Wenn sie ins
Bett gemacht hat. Noch haben sie schöne Momente, noch kann sie reden. Einmal sagt sie ihm »You are a monster. But very gentle.« Und wie genau das zutrifft, wird man noch besser verstehen. Einmal sagt sie »Je ne veut plus. Je suis fatiguée« (»Ich kann nicht mehr. Ich bin müde«). Einmal blättert sie in einem Fotoalbum, passiert Stationen ihres Lebens: »C'est bon la vie. Si longue.«
Es wird hässlicher. Wobei dies schöne Menschen sind. Beide sind in aller Vertrautheit unglaublich freundlich und achtsam zueinander, voller Respekt. Und beiden geht es noch vergleichsweise gut: Ihre Verhältnisse sind bürgerlich, sie finden Trost in der Kunst, sie kennen keine Langeweile, hatten ein offenkundig erfülltes Leben. Und Geld ist nicht das Problem. Auch zwei Pflegerinnen kann man zahlen. Trotzdem wird alles immer hässlicher. Haneke stellt nichts aus. Aber die Krankheit stellt aus und bloss; sie beutet aus.
Man möchte nicht so hinfällig werden. Man möchte sich mit alldem ganz und gar nicht konfrontieren, ist aber doch froh, dass und wie Haneke es tut. Immer wieder ist dies ein erschütternder Film, mit schönen Momenten. Dazu gehört auch eine lange Einstellung, in der Georges eine Geschichte aus seiner Jugend erzählt, von seiner Dyphterie. Und dann, plötzlich, erstickt er Anne mit dem Kopfkissen. Der Todeskampf ist lang und hart – trotzdem: eine Liebeshandlung. Der Film heißt »Liebe«.
Dies ist Kino mit einer existentiellen Dimension, packend, ungemein präzis erzählt, ganz und gar Haneke, dabei unaufdringlich. Haneke ist vor allem neugierig. Auf die Menschen, auf die Zustände, die er zeigt. Haneke stellt sich der Angst vor dem Alter, vor der Krankheit. Haneke erzählt von einer Abwärtsspirale. Von einem Weg zum Tode. Er stellt zwei Menschen vor und beschreibt diesen letzten Weg und den Umgang mit ihm. Liebe handelt nicht von Sterbehilfe, nicht vom Freitod. Vielleicht handelt er nicht einmal vom Tod. Sondern vom Sterben.
Wir sind alle des Todes. Wir wissen das, aber wir machen uns das nicht klar. Und es ist ja auch nicht wirklich angemessen, nicht richtig, wenn der Tod seinen Schatten schon auf unser Leben wirft. Er, der Tod, ist der absolute Feind, er wird siegen, wir werden trotzdem gegen ihn kämpfen mit all unserer Macht, wissend um die Aussichtslosigkeit dieses Kampfes, aber voller Stolz, denn in ihm liegt unsere Würde. Genau darum müssen wir ihn, den Tod nicht verehren und würdigen, müssen ihm kein Recht und keinen Platz geben in unserem Leben. Im Gegenteil.
Haneke stellt sich der Angst vor dem Alter, vor der Krankheit. Die wir alle kennen. Man denkt während des Films an sich selbst, an die, mit denen man zusammenlebt, an die eigenen Eltern. Dies ist Kino mit einer existentiellen Dimension, packend, ungemein präzis erzählt, ganz und gar Haneke, dabei unaufdringlich. Haneke ist vor allem neugierig. Auf die Menschen, auf die Zustände, die er zeigt. Das ist ja immer ein Punkt im Kino: Man muss die Neugier eines Filmemachers spüren. Dann ist man als Zuschauer auch selbst neugierig. Und das unterscheidet Haneke von seinem Landsmann Ulrich Seidl: Er hat Fragen, will wissen. Seidl weiß schon alles vorher, und breitet das dann im Film nur noch vor uns aus.
Wenn ich schreibe »ganz und gar Haneke«, dann meine ich, dass gelegentlich pädagogische Sätze fallen, wie einmal: »Imagination und Realität stimmen nicht immer überein.« Dass es gegen Ende zu einer Szene kommt, in der Georges die eine Schwester entlässt, und beschimpft. Und sie dann zurück: »Old prick!« Dieser stille kalte zwischenmenschliche Hass mit Klassenkampfdimension…, das kann so nur Haneke. Typisch Haneke ist auch jene Szene, in der Georges einen Tagtraum hat: Ann spielt Klavier, sitzt am Flügel. Schnitt. Georges hört ihr zu. Macht den CD-Player aus, die Musik verstummt – alles nur Täuschung, liebe Zuschauer, glaubt’s net, was ihr seht! Schließlich eine Reihung von Gemälden. Schön. Aber wie kommt er da jetzt wieder raus? fragt man sich, dann, über dem fünften Bild, hört man eine Türklingel, und es folgt ein Schnitt.
Liebe wurde im Mai mit der Goldenen Palme ausgezeichnet – vollkommen verdient, denn dieser Film ist hervorragend; ein Meisterwerk. So ein trauriger Film, aber auch ein so schöner! In den letzten Szenen sehen wir Georges, der seine Frau erstickt hat, allein in der Wohnung. Er fängt eine Taube ein, die sich in den Flur verirrt hat. Minutenlang. Super. Und natürlich kann man die Taube auch symbolisch interpretieren…
Das Ende gehört Huppert, der Tochter im leeren Appartement. Es bleibt offen, wie sie vom Geschehen erfahren hat. Georges hat zuvor Briefe geschrieben. Er erzählt darin von der Taube. Aber wem? Seiner Frau? Seiner Tochter? Eine letzte Halluzination: Anne steht in der Küche. Georges soll seine Schuhe anziehen. Die Sehnsucht nach Alltag, nach Ritual. Was Georges dann genau tut, bleibt auch im Offenen.
Aber wie Huppert da herumläuft, wie der Raum plötzlich ohne Leben ist, und sie wie eine Fremde, das ist auch noch einmal großartig.