65. Filmfestspiele Cannes 2012
»Ich habe keine Phantasie!« |
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Michael Haneke beim Dreh zu Amour |
Der 1942 in München geborene Österreicher Michael Haneke gehört zu den spannendsten Filmregisseuren der Gegenwart. Mehrfach war er mit seinen Filmen – u.a. Code inconnu, Die Klavierspielerin, Caché – im Wettbewerb von Cannes vertreten, und gewann jeweils wichtige Preise – zuletzt zweimal die „Goldene Palme“, 2009 mit Das weiße Band und am Sonntag mit Amour.
Das Interview unserer Wiener Kollegin Alexandra Zawia wurde während der Filmfestspiele in Cannes geführt.
artechock: Warum dieser Film zu diesem Zeitpunkt in Ihrem Leben?
Michael Haneke: Weil ich, fast wie jeder heutzutage, natürlich auch in meiner Familie mit dem Leiden von jemandem konfrontiert war, dem ich hilflos zusehen musste. Das war eine sehr schmerzvolle Erfahrung, und das hat mich dazu gebracht, mich damit filmisch auseinanderzusetzen. Es gibt niemanden, der nicht von diesem Thema in seinem Leben betroffen ist. Alt wird jeder, der Verfall im Alter ist ein Thema, das wirklich jeden einmal betrifft. Und trotzdem verbannt die Gesellschaft alles, das mit „alt“ zu tun hat aus dem Gesichtskreis, es findet alles hinter verschlossenen Türen statt, das ist schrecklich, darum muss sich Kunst kümmern. Aber es ist wie es ist, auch dieser Film wird das nicht ändern. Die Verhältnisse sind, wie sie sind, die Frage ist: Wie gehe ich als Individuum damit um?
artechock: Bitte erzählen Sie uns etwas über die Wohnung, in der die Geschichte spielt, auch über die Bilder, die dort hängen – all dem schreiben Sie im Film beinahe eine eigene Rolle zu.
Haneke: Der Grundriss des Appartments ist die Wohnung meiner Eltern in Wien, den wir nach Paris transferiert haben und entsprechend französisch eingerichtet haben, weil es mir beim Schreiben leichter fällt, einen konkreten Ort vor Augen zu haben. Was aber nicht bedeutet, dass die Geschichte, die ich in Amour erzähle, irgendetwas mit meinen Eltern zu tun hat. Aber mir half die bekannte Geografie beim Erfinden der Details zu diesem Film, dadurch fallen mir bestimmte Dinge ein. Wenn ich zum Beispiel weiß, wie lang der Weg von der Küche ins Schlafzimmer dauert, ergeben sich daraus bestimmte Gegebenheiten und damit Ideen, das ist sehr praktisch. Ich arbeite mit Prävisualisierung, das heißt, ich plane jede Einstellung bereits zuhause in einem Modell, und weiß daher, wann wo welche Kamera steht am Set. Der Erfolg eines Films liegt einzig und allein in seiner genauen Vorbereitung, das versuche ich auch meinen Studenten klarzumachen. Dass man als Regisseur ans Set kommt und denkt, man lässt sich dort einfach inspirieren, daran glaube ich nicht.
Was die Bilder betrifft, hatte ich eine spezielle Vorstellung, es sollten Bilder aus dem 18., 19. Jahrhundert sein, Landschaftsbilder, möglichst menschenleer, die einen gewissen Frieden suggerieren. Mein Architekt hatte mir einige skandinavische Maler vorgeschlagen, aber die haben wir alle nicht bekommen, weil sie schlichtweg zu teuer waren oder in den Museen hängen. Also haben wir eben billigere und verfügbare gesucht, und das sind die, die in der Wohnung im Film hängen.
artechock: Sie drehen manchmal auf Deutsch, manchmal auf Französisch, je nach Koproduktions-Lage. Schreiben Sie dann auch das Drehbuch in der jeweiligen Sprache?
Haneke: Nein, niemals, ich schreibe immer auf Deutsch und habe meinen langjährigen Übersetzer, mit dem ich das Skript Satz für Satz durchgehe. Soviel Französisch kann ich, dass ich beurteilen kann, ob die Übersetzung auch genau das ausdrückt, was ich sagen wollte, auch weil meine Dialoge ja immer einem bestimmten Milieu entstammen, das ebenso in die andere Sprache transportiert werden soll, aber ich bin nicht in der Lage, einen französischen Dialog zu schreiben.
artechock: Wie wichtig war die Besetzung in diesem Film? Hatten Sie die beiden Hauptdarsteller von Anfang an im Kopf?
Haneke: Ich habe das Buch für Jean-Louis Trintignant geschrieben. Ohne ihn hätte ich diesen Film nicht gemacht. Genauso wie ich Caché damals für Daniel Auteuil geschrieben hatte oder Die Klavierspielerin für Isabelle Huppert. Das ist immer am besten, weil man dann speziell für die Vorteile des jeweiligen Schauspielers schreiben und diese besonders herausarbeiten kann. Für die Figur von Jean-Louis ist es ja ganz wichtig, dass er diese menschliche Wärme verstrahlt, und ich kenne kaum einen Schauspieler, der das in diesem Maße tut. Emmanuelle Riva kannte ich aus Hiroshima, mon amour, das ist aber schon fünfzig Jahre her, ich hatte sie also ein wenig aus den Augen verloren. Sie kam zum regulären Casting und es war dann sofort klar, dass die beiden perfekt zusammenpassen.
artechock: Bei der Pressekonferenz zum Film hat Jean-Louis Trintignant Sie als sehr fordernden Regisseur bezeichnet – was meint er damit?
Haneke: Nun, weil ich der Autor des Drehbuchs bin, weiß ich auch genau, was ich vor der Kamera sehen will. Es stimmt schon, dass ich stur sein kann, aber ich weiß, dass es wichtig ist, dass sie sich geborgen fühlen am Set. Wenn man diese Atmosphäre herstellen kann, tun Schauspieler alles. Ich bin niemand, der gerne lange redet oder ewig probt, ich bin sehr technisch. Ich sage meinen Schauspielern: Du kommst herein, du setzt dich hin, du nimmst eine Tasse Kaffee, du siehst dort hinüber, du sagst deinen Satz. Wir versuchen das vor laufender Kamera und wenn es nicht klappt, so lange, bis es passt. Es ist sehr einfach.
artechock: Beide Hauptfiguren in diesem Film sind ehemalige Musiklehrer – welche Rolle spielt Musik in Ihren Filmen?
Haneke: Ich habe drei Lieblingskomponisten – Bach, Mozart und Schubert, die kommen in meinen Filmen einfach immer wieder vor, das ist das musikalische Universum, in dem ich mich bewege. Schubert zum Beispiel ist ja eine wunderschöne, sehr traurige Musik, und das dritte Impromptu passte dementsprechend hervorragend für diesen Film. Der Bach Choral „Ich ruf zu dir Herr Jesu Christ“ ist natürlich schon eine Zitierung und kein Zufall..
artechock: In einer Szene hört George jenen Choral und bricht ihn ab...
Haneke: Richtig.
artechock: Spielt Musik in diesem Fall dieselbe Rolle wie Religion?
Haneke: Wenn Sie es so lesen wollen, ...
artechock: Glauben Ihre Figuren an etwas?
Haneke: Das weiß ich nicht. Obwohl meine Figuren nie offensichtlich religiös sind, gibt es inzwischen Dutzende Bücher theologischer Fakultäten über mich. Ich glaube schon, dass meine Filme immer auch eine über den puren Realismus hinausgehende Dimension ansprechen. Ob Georges im Film religiös ist oder nicht, weiß ich also gar nicht genau, denn ich war ja nicht immer dabei, wenn er alleine war, ich begleitete ihn ja nur in den Szenen, die im Film zu sehen sind. Aber, ja, der Bach Choral ist bestimmt interpretierbar als ein Gebet. Ein Gebet, das er abbricht.
artechock: Warum ist das Bürgerum Ihr typisches Setting?
Haneke: Weil ich selbst daher komme und dieses Milieu am besten kenne; man soll ja über das schreiben, das man am besten kennt. In diesem Film allerdings war es auch eine sehr bewusste Entscheidung, die Figuren in diesem Milieu anzusiedeln, denn ich wollte auf keinen Fall ein Sozialdrama machen. Spielte der Film in einer Familie mit mehr Geld, würden manche vielleicht sagen: »Hätten die mehr Geld, wäre das Problem nicht so groß.« Es ist aber egal, ob sie stinkreich sind oder mausarm, das Problem bleibt das gleiche und gleich groß. Diese Pseudo-Erklärungen wollte ich sofort eliminieren.
artechock: Auch unwichtig scheint zu sein, wie hochgebildet die Figuren sind.
Haneke: Natürlich, denn es nutzt ja die höchste Intelligenz und Bildung nichts angesichts bestimmter grundsätzlicher Problematiken. Deswegen versuche ich die Figuren in den meisten meiner Filme auf einem möglichst hohen sozialen Level anzusetzen, weil damit alle offensichtlichen Erklärungen, die man finden könnte, wegfallen.
artechock: Ihre Filme werden gerne als kalt, trocken, klinisch beschrieben – sehen Sie selbst das auch so?
Haneke: (lacht) Es ist leider Gottes eine allgemeine Eigenschaft, dass man alles klassifizieren muss. Die Journalisten haben aber natürlich auch die Aufgabe, die Dinge zu benennen, also bekommt jeder Regisseur, jeder Autor ein Etikett auf die Stirn, er sei jetzt der Spezialist für das oder das. Und wehe, er macht dann einmal etwas anderes, dann sind alle furchtbar enttäuscht, weil sie etwas anderes erwartet hatten. Das ist furchtbar, und ich hoffe, dass ich immer etwas anderes mache als die Leute erwartet hatten, denn sie sollen ja überrascht sein.
artechock: Ein anderer Stempel, den ihre Filme haben, ist der des „Zumutungskinos“
Haneke: Dagegen habe ich gar nichts, weil ich glaube, dass Kunst eine Zumutung sein sollte. Kunst versucht, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen – und die Wirklichkeit ist ja eine Zumutung, das tägliche Leben ist auch eine Zumutung. Wenn Kunst den Namen verdient, muss sie eine Zumutung sein. Das heißt ja nicht, dass ich jemandem ununterbrochen auf die Zehen steigen soll, aber wenn ich etwas sagen will, das jemand hören soll, aber bemerke, dass niemand zuhört, muss ich eben Mittel finden, dass die Leute zuh ören.
artechock: Inwieweit machen Sie das Thema Sterbehilfe in Ihrem Film gar nicht zum Thema?
Haneke: Sie werden mich nicht erwischen, meine persönliche Meinung dazu zu sagen (lacht). Aber besonders mein amerikanischer Verleiher hat mir gesagt, dass es sein könnte, dass dies zu Debatten führen könnte. Darüber freue ich mich natürlich sehr, denn wenn etwas zu Debatten führt, heißt das, die Leute denken über etwas nach. Aber ich werde mich sicher nicht in diese Debatte einmischen.
artechock: Was bedeutet Liebe für Sie?
Haneke: Das bleibt mein Geheimnis. Es ist ein Unsinn, solche Dinge definieren zu wollen, da kann man nur scheitern. Mein Philosophie-Professor hat immer gesagt: »Wenn du jemanden verbal ruinieren willst, lass ihn definieren, schon ist er mundtot.« Alle großen Themen lassen sich leider nicht definieren. Die Idee für den Filmtitel stammt übrigens von Jean-Louis Trintignant. Er meinte nach Lesen des Drehbuchs, die Geschichte sei so voller Liebe, warum der Film nicht gleich diesen Titel trage. Damit war eine lange Suche erfolgreich beendet.
Apropos Erfolg: Sie haben erst 2009 mit Das weiße Band die Goldene Palme gewonnen. Wie wichtig sind Ihnen solche Auszeichnungen?
Haneke: Es wäre verlogen, zu sagen, Preise sind mir wurscht. Sie sind schon wichtig, denn der Erfolg deines letzten Films bestimmt immer die Arbeitsbedingungen des nächsten, also muss man dieses Spiel mitspielen. Natürlich ist es aber auch angenehm, wenn die Leute etwas gut finden, man arbeitet ja auch für die Anerkennung. Sonst könnte man ja zuhause bleiben und nichts tun. Die erste Palme jedenfalls steht bei mir zuhause, eingepackt, als Unterlage für einen Lautsprecher. Jetzt kann ich wohl auch den zweiten Lautsprecher stütze
artechock: Sie unterrichten Film auch – wie beurteilen Sie Ihr eigenes Werk aus der Sicht eines Lehrers?
Haneke: Ich zeige meinen Studenten alles, außer meine eigenen Filme. Lässt es sich nicht vermeiden, weil sie einen bestimmten Film unbedingt diskutieren wollen, dann tue ich dies eben so kurz gefasst wie möglich, dann ist das Thema gegessen. Weil es mir unangenehm ist, meine Filme vor meinen Studenten als leuchtendes Beispiel hinzustellen, da nehme ich lieber Filme von anderen.
artechock: Gehen Sie selbst gern ins Kino?
Haneke: Wenn ich dafür Zeit hätte, schon. Als ich jünger war, habe ich mir drei Filme pro Tag angesehen. Heute schaue ich zuhause viel an, ich gehe nicht gern ins Kino, weil es mich stört, wenn die Leute während des Films Essgeräusche machen oder telefonieren, ich bin gerne konzentriert, wenn ich mir einen Film ansehe. Erst unlängst habe ich mir Dogtooth angesehen, ein grandioser Film.
artechock: Warum heißen die Hauptfiguren Ihrer Filme immer wieder Georges und Anne?
Haneke: Weil ich keine Fantasie habe.