31.05.2012
65. Filmfestspiele Cannes 2012

Auf der Insel des Kinos

Holy Motors
Leos Caraxs Holy Motors: nicht zu verstehen, aber sympathisch
(Foto: Arsenal Filmverleih GmbH)

Auch zwischen Bestien gibt es Solidarität: Bling, bling, das Licht der Filme und das Dunkel der Welt – Cannes-Tagebuch, 3. Folge: Dienstag bis Donnerstag

Von Rüdiger Suchsland

Da war er endlich, der erste dieser Filme, wegen denen man nach Cannes fährt. Sieben Tage hat es gedauert, wenn man den Eröff­nungs­mit­t­woch mitzählt, und erstmals gingen die Leute nicht wie üblich still, und mit gesenkten Häuptern schnell raus aus dem Kino, sondern standen da, bildeten Trauben, und disku­tierten. Zuvor hatte es laute Bravo-Rufe, viel Applaus, aber auch unüber­hör­bare Buhs gegeben. Die Rede ist von Leos Carax, der dreizehn Jahre nach seinem letzten Film Pola X zurück ist an der Croisette. Sein neuer Film Holy Motors ist ein Film, den ich nicht verstehe, von dem ich mir noch nicht einmal sicher bin, ob ich ihn gut finde. Der mir aber sehr sympa­thisch ist, weil er in einem arbeitet und lebt. Ich bin heilfroh, ihn gesehen zu haben und freue mich schon darauf, ihn mir noch einmal anzusehen, viel­leicht schon hier in Cannes. Und ich bin nach der Vorstel­lung sicher: Ich habe die Goldene Palme gesehen.

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Holy Motors ist also das bisher ohne Frage heraus­for­derndste Werk im Wett­be­werb. Dabei ist auch dies wieder einer unter mehreren Filmen in diesem Cannes-Jahr die einen das Werk eines Filme­ma­chers mit neuen Augen sehen lassen, die unter Umständen zu einer Art Konver­sion führen. Wes Anderson mochte ich vor Moonrise Kingdom nicht, von Haneke hätte ich Amour nicht erwartet. Und »Wer mag eigent­lich Carax?« hatten wir noch kurz vor dem Screening gelästert. Denn jeder sagt zwar gern schnell dahin: »Oh toll dieser Die Liebenden von Pont-Neuf«, aber das sagen eigent­lich nur Leute, die nicht viel ins Kino gehen, oder noch in ihrer filmi­schen Hermann-Hesse-Phase stecken. Denn das genau ist Die Liebenden von Pont-Neuf: Schlimmste Senti­men­ta­lität, unter­füt­tert mit Lebens­weis­heiten für die Volks­hoch­schule. Wenn man unter Kriti­ker­kol­legen dann mal genauer nachfragt, stellt sich schnell heraus: Den Film mag eigent­lich keiner. Auch Pola X hat alles andere, als einen guten Leumund. Doch immerhin einen besseren. Ich hab den Film als sehr gut in Erin­ne­rung – verspon­nene, aber sehr roman­ti­sche (Geister-)Geschichte, tolle Bilder, inhalt­lich eher Quatsch.

Auf dem Empfang des Inter­na­tio­nale Film­fes­ti­vals Istanbul hatten wir, was wir sonst um diese frühe Zeit vermeiden, zwei Efes-Bier getrunken, das war gar keine schlechte Voraus­set­zung für diesen Film.

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Es beginnt wie bei David Lynch: Wir sehen im Dunkeln eines Kinosaals, auf dessen Leinwand (noch) kein Film läuft, das Publikum. Schwei­gend. In Erwartung. Dann Nacht, ein Mann in einem Hotel­zimmer, schlaflos, oder schlafend in jenem Zwischen­reich zwischen Schlaf und Wachen, von Draußen hört man Schiffs­si­renen, Hafen­geräu­sche, der Mann geht im Zimmer herum. Dann sehen wir die eine Wand des Zimmers, sie ist ein Wald. Der Mann, der übrigens vom Regisseur selbst gespielt wird, und nur in dieser Auftakt­se­quenz auftaucht, öffnet eine Tür, mit einem metal­li­schen Vier­kant­schlüssel, der aus seiner rechten Hand anstelle des Mittel­fin­gers heraus­wächst. Ein Albtraum­bild, spätes­tens jetzt wissen wir, wo wir uns befinden. Der Mann tritt ein in einen Kinosaal. Von oben. Von dort ist auch ein kleines Kind zu sehen, dass im Mittel­gang auf die Leinwand zuläuft. Stille. Wieder das Publikum. Die Kamera ist jetzt unten, filmt auf den Mittel­gang zu. Aus dessen Dunkel löst sich jetzt kaum sichtbar ein großer, schwerer Hund. Schnitt.

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Natürlich kann man jetzt sagen: Er spielt sich selbst, er geht ins Kino, das ist kein Alptraum, sondern ein Allmachts­traum. »Carax, génie ou imposteur?« steht in einer Zeitung.

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In diesem asso­zia­tiven, anar­chis­ti­schen Stil des Anfangs geht es weit­ge­hend weiter, wenn auch mit kleineren narra­tiven Passagen. Holy Motors bietet keine Handlung, die sich einfach nach­er­zählen ließe, sondern solche Bilder. Er verbindet um eine Rahmenbgschichte neun Episoden, die wiederum auch für sich eher aus losen Skizzen bestehen. Ein Film wie ein langes roman­ti­sches Gedicht in mehreren Strophen, mit starken Bildern und groß­ar­tigen Augen­bli­cken, weit weg vom Main­stream und auch vom gewöhn­li­chen Kunstkino.

Ein Film, der der Traum­logik folgt – manche würden also sagen, gar keiner Logik; aber das sehe ich anders – der darin wieder stark David Lynch ähnelt und ein wenig manchen Filmen von Hitchcock. Aber den man nicht als Illus­tra­tion freu­dia­ni­scher Thesen miss­ver­stehen kann.

Wie bei Lynch werden Realität und Phantasie hier neben­ein­ander posi­tio­niert: Hori­zontal, unhier­ar­chisch, gleich­be­rech­tigt, zunehmend unun­ter­scheidbar. Und wie bei Lynch gibt es daneben noch eine dritte Ebene, die viel­leicht die eigent­liche Refe­renz­ebene von Holy Motors ist: Das Universum des Kinos und der Literatur, der Kunst überhaupt.

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»Jeder Film handelt auch von der Film­ge­schichte« sagt Carax am nächsten Morgen auf der Pres­se­kon­fe­renz: »Wenn man einen Film macht, macht man auch einen Film über das Kino.« Und weiter: »Ich habe das Wort Referenz immer gehasst. Das Kino (›Le Cinema‹) ist für mich eine wunder­schöne Insel, die einen großen Friedhof hat. Manchmal lebt man auf dieser Insel, manchmal geht man hin auf einen Drink.«

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Die erwähnte Rahmen­hand­lung beginnt mit einem groß­ar­tigen Archi­tek­tur­mo­nu­ment der klas­si­schen Moderne, aus der Hüfte geschossen würde ich sagen: Von Corbusier. Dort wohnt ein Mann, gespielt von Denis Lavant. Er sieht aus wie ca. 60, und steigt, begleitet von Abschieds­rufen seiner jungen Kinder »bonsoir papa ... travaille bien« und einem sonderbar höhni­schen Kinder­la­chen, sowie von Fahrer und Body­guards in eine weiße Stretch­li­mou­sine. Mit der fährt er wie sich heraus­stellt, den ganzen Tag durch Paris, um insgesamt neun Verab­re­dungen zu erfüllen, zu denen ihm seine Fahrerin, die offen­kundig auch Assis­tentin ist, jeweils eine Mappe mit Vorab­in­for­ma­tionen über­reicht – Cronen­bergs Cosmo­polis wirft seinen Schatten voraus, denn auch in diesem Film, den wir am Wochen­ende zu sehen bekommen, fährt ja ein Mann den ganzen Tag in einer Stretch­li­mous­eine, offen­sicht­lich einem neuen reprä­sen­ta­tiven Ort unseres Zeital­ters, durch eine Metropole.

Bald aller­dings wird klar: Der Mann ist namens- und alterslos. Wie ein perfekter Schau­spieler schlüpft er jeweils in Iden­ti­täten. Der Titel ist übrigens der Name der Firma, wo die Limou­sinen am Abend parken. Irgend­wann bekommen wir auch mit, dass es noch viele andere solcher herum­fah­renden Wesen gibt, die ihre Iden­ti­täten wechseln. In den neuen Iden­ti­täten dringt der Mann ins Leben anderer Menschen ein, bringt ihnen Glück wie Unglück, kluge Ratschläge und Weis­heiten, aber einen tötet er auch, ein anderer bringt sich nach beider Treffen um. Es könnte sich also um einen Engel handeln, oder um einen Sendboten der Unterwelt.

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Meine Tendenz geht zu Letzerem. Ein Sendbote der Unterwelt also, oder ein gefal­lener Engel ist »Monsieur Oscar« die von Leos Carax' Lieb­lings­schau­spieler Denis Lavant gespielte, Haupt­figur von Carax' neuem Film, der auch einen Tag nach seiner Premiere viele Zuschauer ratlos, aber auch faszi­niert zurück­lässt.

Wie soll man sich dies bloß erklären, was will Carax uns sagen oder zeigen oder vermit­teln? Einmal ist dieser Oscar ein »Monsieur Merde« der unglaub­lich hässlich ist, mit wildem, roten Bart und langen kralligen Fingernä­geln. Wie ein Satyr. Oder auch wie das Monster aus La belle et la bête. Ein fleisch­li­cher Ausdruck unseres Unter­be­wussten, von Angst und Phobie. Er steigt auf einen großen Friedhof heraus aus einem Grab, er kommu­ni­ziert nicht, es sei denn durch Sabbern und Gurgeln, sondern tut schreck­liche hässliche Dinge, die alle entsetzen. Er verschreckt die Menschen, denen er über den Weg läuft, frisst Blumen, Haare, beißt Finger ab, und hält erst inne, als er eine Frau sieht, ein Model bei einem Foto­shoo­ting – und wenn man so will als Ausdruck absoluter Schönheit das voll­kom­mene Gegen­s­tück zu ihm, dem Symbol absoluter Häss­lich­keit. Eva Mendez spielt sie, mit leisen Anklängen an die junge Brigitte Bardot.

Oscar ist auch ein Banker, ein Killer, eine bettelnde Zigeu­nerin, ein ster­bender Mann, ein Vater. Am Schluss kommt Oscar über Nacht zu einer anderen Familie. Ehefrau und Kinder werden von Schim­pansen gespielt – nein, das kann Carax doch nicht machen? Doch, er kann.
Ganz am Schluß reden in einer großen Garage dann auch die Luxus­autos selber mitein­ander: »Men don’t want visible maschines any more... no more technics«

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Zumindest dieses letzte Bild erklärt der sich sonst eher maulfaul gebende Carax später bei der Pres­se­kon­fe­renz: Er fände diese Autos »tres beau, tres attachant«, sie seien »Bestien«, »tres bling bling«, aber auch zwischen Bestien gebe es Soli­da­rität. »Ich mag Maschinen und Motoren. In digitalen Kameras aber gibt es keine Motoren mehr.«

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Die wohl aller­beste, zumindest aller­schönste Szene des Films, in der dieser auch endgültig seine Richtung findet, ist jene Episode, in der Oscar auf eine Frau mit kurzen blonden Haaren und Trench­coat trifft, die von Kylie Minogue gespielt wird. Die beiden gehen in das tradi­ti­ons­reiche Jugend­stil-Kaufhaus »Sama­ri­taine«, das direkt an der Seine liegt, neben der Pont Neuf. Heute steht das volls­tändig denk­mal­ge­schützte Kaufhaus leer, wird in ein Luxus­hotel umge­wan­delt. In den leeren Hallen dieses Relikts der alten Moderne, zwischen den alten Stahl­trä­gern, Treppen und Jugenstil­gelän­dern singt Mynogue ein melan­cho­li­sches Lied: »Who are we? Who are we? Where were we, when we were who we are? I was a child«. Auch die Dialoge kreisen um Vergäng­lich­keit und die zweite Chance, die es nicht gibt.
Immer wieder gibt es wunder­schöne, im guten Sinne kitschige Szenen, wie diese, die in ihrem unver­hohlen roman­ti­schen Charakter am ehesten an Wenders Der Himmel über Berlin erinnern. Dann aber ist es wieder die pure Geschmack­lo­sig­keit.

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Das Problem ist ja nicht, das Carax keine gute Ideen hätte, oder keine Phantasie. Das Problem ist, dass er keinen Geschmack hat. Und darum immer wieder Häss­lich­keit, Ekel und Kitsch abfeiert. Und auf der Tonebene trifft sich Sympho­nie­musik mit dem Sound­track von Godzilla.

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Wie schon erwähnt: Es ist gar nicht so leicht, über diesen Film zu schreiben, wenn man ihm gerecht werden will. Viel­leicht muss man auch noch erzählen, wie es war, ihn zu sehen. Denn nach der sehr schönen rätsel­haften oben beschrie­benen Auftakt­se­quenz ist man erstmal sehr irritiert. Holy Motors ist offen­kundig unglaub­lich präten­tiös, auch wenn er kaum weniger offen­kundig viel Humor hat, auch Selbst­ironie und Charme. Man kann ihm das gar nicht vorwerfen, denn Carax weiß es und will es. Und man darf ja alles im Kino, auch präten­tiös sein.

Das hat vorletztes Jahr auch Godard bewiesen, an den Carax Film öfters erinnert. Auch bei Godard paart sich ganz schöner Quatsch mit genialen Einfällen. Und auch Carax spielt mit Zitaten aus der Kino­ge­schichte, und wer sucht, wird auch sonst zahl­reiche weitere Verweise auf anderes finden: Auf »Hoffman’s Erzäh­lungen«, Kafka, Borges. Wie Borges Texte funk­tio­niert auch dieser Film über Koin­zi­denzen und Korre­spon­denzen. Im Pres­se­heft steht ein längeres Zitat aus Jorge Luis Borges' Buch »Everthing or Nothing« über Shake­speare.

Carax selbst markierte seine Position als kompro­miss­loser Autoren­filmer so eindeutig wie möglich: »Ich weiß nicht, wer mein Publikum ist. Ein Haufen Leute, die tot sind (›bunch of people, who are dead‹). Ich mache keine öffent­li­chen Filme, ich mache private Filme, aber jeder ist einge­laden, sie zu sehen. (›I dont make public films, i make private ones. I invite people to see it.‹).«

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Dabei sollte man sich nicht täuschen lassen: Carax ist kapriziös, aber kein Idiot. Er weiß, was er tut. Er pflatscht dieses Ding so hin, und wir können damit machen, was wir wollen. Schon dieser Gestus ist großartig. Jetzt rattert die Inter­pre­ta­ti­ons­ma­schine. Darum hier mal unse­rer­seits ein erstes kleines Angebot zum Vers­tändnis: Man muss diesen Film nehmen, wie ein Gedicht, wie einen Traum, bzw. einen Traumfilm a la Lynch. Man sollte an die Romantik denken, an Novalis und Schlegel, an Hoffmann, an Baude­laire und Poe. An roman­ti­sche Ironie. Man sollte auch surrea­lis­ti­sche Kunst im Hinter­kopf behalten, Filme von Bunuel und Cocteau, Bilder von Ernst und Dali, Texte von Queneau und vor allem Bataille. Kafka und Borges hatte ich bereits genannt, die kann man auch als Surrea­listen eigener Art verstehen. An Celine musste ich auch denken.

Carax ist welt­an­schau­lich ein Anarchist und konser­va­tiver Revo­lu­ti­onär, ein Pessimist und Menschen­hasser – viel­leicht kein sympa­thi­scher Mensch. Viel­leicht doch. Aber das ist auch egal. Viele Künstler waren bekann­ter­maßen unsym­pa­thi­sche Menschen, und viele sympa­thi­sche Künstler machen leider schlechte Kunst.

Thema­tisch geht es offen­kundig um das Verhältnis zwischen Menschen, Monstern und Maschinen. Das bedeutet aber, dass es hier natürlich grund­sätz­li­cher auch um die Beziehung zwischen Realität und Phantasie geht. Oscar ist nicht nur eine Figur der Phan­tastik, sondern auch ein Bote der Phantasie. In der Beziehung zwischen beiden Ebenen dient die Phantasie in der Regel dazu, uns von der Realität zu erlösen. Bei Carax ist das Verhältnis ausge­gli­chener. Realität und Phantasie stehen gleich­be­rech­tigt neben­ein­ander.

Viel­leicht ist das alles nur der Albtraum eines Film­re­gis­seurs – namens Carax – der von seinen Ideen verfolgt wird. Viel­leicht auch die Kino­ge­schichte, die sich selber träumt. Die Realität bleibt dann für die, die nicht stark genug sind, um diese Träume auszu­halten.

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Holy Motors ist ein heraus­for­dernder Film, eine urbane Poetik mit Vision, insgesamt unge­heu­er­lich und ungeheuer faszi­nie­rend. Um mich zu wieder­holen: Man weiß nicht genau, was es alles bedeutet, aber es ist großartig.

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Noch ein Gedanke, lose, so wie es dieser Film provo­ziert (immerhin provo­ziert er Gedanken): Wir leben im senti­men­ta­li­schen Zeitalter. Was heute fehlt ist das Naive. Das was uns am ehesten im Stummfilm begegnet, und wonach sich zu sehnen, es gute Gründe gibt. Carax' Film ist wie ein Mario­net­ten­theater. Das Puppen leben­diger und echter sind, als Menschen – in der Kunst wohl­ge­merkt – ist eigent­lich ganz leicht zu verstehen, aber es wider­spricht der unmit­tel­baren Erfahrung.
Wer diesen Gedanken teilt, schätzt Carax, wer ihn ablehnt, kriti­siert den Film.

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Wer Carax nicht mag, mag Salles – und umgekehrt, das ist schon mal eine Faust­regel.

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»Zu uns sind Leute gekommen, und haben gesagt: Wir hassen diesen Film, hassen Sie den auch.« erzählt später Erika Gregor, die mit ihrem Mann, dem Grün­dungs­di­rektor des Berlinale-Forums auch 2012 Dauergast in Cannes ist. Wer Filme liebt, geht nicht in den Ruhestand, das man an den Gregors gut beob­achten – und offen­kundig hält Kino auch jung.
»Aber er wird nichts kriegen, nicht in dieser Jury.« meinte Gregor dann noch.
Und der Direktor eines großen öster­rei­chi­schen Film­fes­ti­vals, der gerade bei uns stand, und schon seine ganz eigenen Erfah­rungen mit dem Jury­prä­si­denten Nanni Moretti hat, meinte noch: »Der Moretti ist ein totaler Egomane, der hat in diese Jury sogar zwei Stimmen, und das sind zwei Stimmen zuviel. Und die Diane Kruger, die ist so dumm… das wird nix.« Bei Kruger bin ich mir da gar nicht so sicher. Bei Moretti schon.

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Zeit einmal über die dies­jäh­rige Jury zu reden. In allen Gesprächen der letzten Woche war das Urteil unisono: Von denen ist nichts Gutes zu erwarten, mehr oder weniger alles Deppen ohne Geschmack oder die typischen Liebhaber des Gutmen­schen­kinos. Aber viel­leicht täuschen wir alle uns ja in den Regis­seuren Andrea Arnold, Alexander Payne und Raoul Peck, in den Schau­spie­le­rinnen Hiam Abbass, Emma­nu­elle Devos und Diane Kruger, ihrem Kollegen Ewan McGregor, sowie dem Mode­schöpfer Jean-Paul Gaultier.

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Über Moretti traue ich mir aber ein gewisses Urteil zu. Was allemal klar ist, und keine öster­rei­chi­sche Verschwörungs­theorie ist, dass Moretti Haneke und Seidl verab­scheut. Es gibt dazu zwei schöne böse Anekdoten: Als 1996 Hanekes Funny Games in Cannes lief, war Moretti schon mal in der Jury (aber nicht Präsident) und soll zu den Jury-Kollegen gesagt haben, jeden, der für diesen Film stimme, den schlage er zusammen. Verbürgt ist, dass Moretti in Venedig 2001, als Seidls Hundstage lief, mit dem Austritt aus der Jury gedroht hat, als die Mehrheit den Film mit dem Goldenen Löwen auszeichnen wollte.
Woher das alles kommt? Keine Ahnung. Viel­leicht der Hass der Italiener gegen ihre ehema­ligen Kolo­ni­al­herren?
Auch Diego aus Argen­ti­nien kalku­liert mit Morettis persön­li­chem Egotrip: »Haneke und Seidl fallen aus. Auch Garrone, denn er wird keinen Italiener neben sich dulden. Auch keinen Regisseur, der schon eine Goldene Palme hat, denn dann hätte der mehr als er selbst.«
Was bliebe dann? Kiaros­tami.

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»Ich habe meine Identität als Popstar abge­streift« sagte Kylie Minogue zu ihrem Auftritt auf der Pres­se­kon­fe­renz zu Holy Motors, die weniger voll war, als erwartet, und durch die undis­zi­pli­nierten Foto­gra­phen gestört wurde, die sich partout nicht hinsetzen wollten, »mich an meine Anfangs­jahre als Schau­spie­lerin erinnert, und versucht, so basic wie möglich zu sein. Es war ein magisches Erlebnis.«

Auf der gleichen Konferenz liefert die fran­zö­si­sche Produ­zentin von Carax gleich noch eine gute Defi­ni­tion von Autoren­kino, die man gern mal von einem deutschen Produ­zenten hören würde: »Filme, die weit weg sind vom Ordinären, vom Massen-Geschmack, die nicht das Fernsehen inter­es­sieren, die keine Komödien sind.«

Sie erzählt dann auch, der Film sei bereits fertig finan­ziert gewesen, dann hätten die Banken plötzlich die Verträge nicht unter­zeichnen wollen, und es dauerte weitere zwei Jahre. Da zeigte sich dann das deutsche Fernsehen, genauer: Der deutsche Teil des Kultur­ka­nals ARTE von seiner besten Seite: gleich drei deutsche Redak­teure stehen jetzt auf dem Abspann, und können sich womöglich am Sonntag freuen.

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Das neueste Gerücht, dass deshalb glaub­würdig ist, weil es aus sehr gut infor­mierten Kreisen kommt: Der Film sei dann am Ende nur deshalb möglich gemacht worden, weil ein Anruf aus dem Elysee-Palast bei der ARTE-Chefetage die Finan­zie­rung klar gemacht habe. Denn Leos Carax, der mit seiner hellen braunen speckigen Leder­jacke und seiner Sonnen­brille ein bisschen so aussieht wie ein Hongkong-Regisseur, war ja auch mal der Lover von Präsi­den­ten­gattin Carla Bruni.

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Das können sie auch wegen Carlos Reygadas. Zu dessen Film Post Tenebras Lux schreiben wir im nächsten Blog noch mehr. Nur soviel: Eine faus­ti­sche Schuld und Sühne-Geschichte im Murnau 5:4-Bild­format mit verzerrten unscharfen Rändern, wie Sukurov. Und der zweite Katholo-Schlocker in wenigen Tagen, aber ganz anders, polymorph-pervers halt, wie immer bei Reygadas: Sodom und Gomorra in Mexiko. Zwei­fellos ein toller, irrer, stel­len­weise sehr schöner Film, stel­len­weise auch wieder einfach unver­s­tänd­lich. Und er tut ein bisschen kunst­voller, als er ist, erzählt eine ganz straighte Story mit Zeitsprüngen vor und zurück, weil’s dann besser aussieht. Ein toller Film und ein Preis­kan­didat.

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Was denn Katholo-Schlocker bedeutet, werde ich aus Deutsch­land gefragt. Meine Antwort: Katholo-Schlocker – tja, das war eine persön­liche Wort­schöp­fung: Schlocker ist eine Mischung aus Schocker und Schlock, dem jiddi­schen Wort für billig, Schund, schäbig, kitschig, trashig und Katholo ist klar, oder? Zum Beispiel der Exorzist wäre auch ein Katholo-Schlocker – inter­es­sant, aber irgendwie geht’s so trotzdem nicht... Dazu noch zwei Links: http://www.wired.com/underwire/2010/12/syfy-ice-quake/ und http://www.youtube.com/watch?v=_eLBQLUyfhg

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»Will Mexico ever win the World Cup?« – viel­leicht ist das überhaupt die wich­tigste Frage in Post Tenebras Lux. Wir haben hier noch gar nicht die Bilanz des Champions-League-Finales gezogen, dass hier am letzten Samstag alle geguckt haben, statt Tomas Vinter­bergs dänischem Jagten, den wir jetzt am Sonntag nachholen werden. So richtig, wie es diesem Ereignis gebührte, werden wir das, fürchte ich, auch nicht nachholen können. Dabei hätte es alle Aufmerk­sam­keit verdient. Denn so wie dieses Fußball­spiel war, möchte man auch das Kino: Spektakel, großes Drama, Spannung bis zur letzten Sekunde und Schick­sal­ge­schichten – wie jene von Frank­reichs Didier Drogba, der im blauen Trickot des FC Chelsea erst kurz vor Schluss das rettende Ausgleichtor schoss, dann in der Verlän­ge­rung einen Elfmeter verschul­dete, und damit quasi das Schicksal seiner Mann­schaft besie­gelte, und dann, als es doch noch zum Elfme­ter­schießen kam, den letzten, alles entschei­denden Elfmeter verwan­delte. Oder jene von FC Bayern-Spieler Arjen Robben, der quasi mit Ansage den Drogba-Elfer verschoss und damit die beste Chance des Spiels und die Vorent­schei­dung für seine Mann­schaft persön­lich versiebte. Und damit den zweiten Titel, weil er ja bereits im vorge­zo­genen Finale gegen Borussia Dortmund den möglichen Ausgleich per Elfmeter nicht verwan­deln konnte. Mit ihm würde man sich dieser Tage gern mal über das Schicksal und die Macht des Teufels unter­halten.

Oder mit Bayern-Trainer Jupp Heynckes, der bei all seiner Erfahrung das Offen­kun­dige nicht sehen konnte, das was jeder Fußballfan, der das Spiel verfolgte, sofort begriff, und wie von den Göttern mit Blindheit geschlagen, den Abwehr­spieler Van Buyten für den Torschützen Thomas Müller einwech­selte – und damit seiner Mann­schaft signa­li­sierte: Wir sind durch Jungs, wir haben’s geschafft, ihr könnt nach­lassen. Jeder, der sah, ahnte: Hybris, die sofort bestraft werden wird. Und sie wurde. Heynckes verstieß gegen alle Regeln des Fußball-Karmas, gegen das, was Hundert­tau­sende intuitiv wissen. So wie Fürths Trainer Michael Büskens am 20.März, als er im DFB-Halb­fi­nale gegen Dortmund den angeb­li­chen Elfme­ter­killer Jasmin Fejzic für Max Grün einwech­selte – zwei Minuten vor dem Elfme­ter­schießen. Und in dem Moment wusste man: Es würde nicht dazu kommen.

Fußball ist ein Schick­sals­er­eignis, und das kann man vom Kino leider so nicht sagen. Besser wär’s aber. Kaum ein Film, den wir hier gesehen haben, fesselte die Gemüter ähnlich, hatte ähnliches Aufre­gungs- und Emoti­ons­po­ten­tial wie Fußball. Noch Tage später redete man hier über das Finale. Der britische Kollege Nick James (»Sight & Sound«), selbst Manchester United-Fan, freute sich zum Beispiel, dass erstmals ein briti­sches Team gegen ein deutsches ein Elfme­ter­schießen gewinnen konnte. Aber es geht hier nicht nur um dieses eine Spiel. Dem britische Wahl­ham­burger Andrew Bird, Cutter von unter anderem Fatih Akin, konnte man gratu­lieren, weil sein Lieb­lings­club West Ham United den direkten Wieder­auf­stieg in die Premier League geschafft hatte. Und mit den gebeu­telten FC Barcelona-Fans aus Spanien werden wir nachher das spanische Cubfinale zwischen Barca und Athletic Bilbao angucken.

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Ansonsten glüht die Sonne wieder heiß über Cannes, dafür verdüs­tern sich die Seelen der Film­fi­guren zusehends. Immerhin Nicole Kidman, nicht mehr ganz so schön wie früher, aber immer noch strahlend wie eh und je und im roten Kleid, das sich prächtig zu ihrem blonden Haar und vor der sonnig-blauen Kulisse des Mittel­meeres machte, brachte Licht an die Croisette – einer der letzten Weltstars, die das dies­jäh­rige Festival von Cannes besuchen, zur Premiere des im Übrigen hunds­mi­se­ra­blen US-Films »The Paperboy« – bevor am Samstag dann die letzten zwei Wett­be­werbs­filme laufen und am Sonn­tag­abend die Goldene und die silbernen Palmen verliehen werden – die begehr­testen Preise des Weltkinos, noch vor den Oscars, die ja nur Hollywood-Filme gewinnen können.

In der zweiten Hälfte werden die Filme des Wett­be­werbs stärker und stärker und die mit einem italie­ni­schen Präsi­denten, zwei Briten, zwei Franzoen, einer fran­co­philen Deutschen und einem in Paris lebenden Haitianer mit afri­ka­ni­schen Wurzeln, aber nur einem Nordame­ri­kaner, gar keinem Latein­ame­ri­kaner oder Asiaten überaus einseitig euro­pa­lastig besetzte Jury wird es nicht leicht haben mit ihrer Entschei­dung.

Zwei schwie­rige, intel­lek­tuell wie stilis­tisch heraus­for­dernde Filme drängten sich zuletzt in den Favo­ri­ten­kreis: Post Tenebras Lux vom Mexikaner Carlos Reygadas und V tumane vom Russen Sergei Loznitsa.

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Post Tenebras Lux besticht zunächst durch sein unge­wöhn­li­ches Bild­format: 5:4 sieht fast quadra­tisch aus, man kennt es vor allem aus dem Stummfilm. Und wie beim deutschen Expres­sio­nisten F.W. Murnau (Faust, Nosferatu) ist auch hier der Bildrand bewusst etwas unscharf, also dem Blick des mensch­li­chen Auges nach­emp­funden. Fish-eye. Zunächst fängt alles ganz harmlos an, mit einem Mädchen, das an einem Spät­nach­mittag auf einem grünen, regen­fri­schen Feld mit Kühen und Hunden spielt. Im Hinter­grund sieht man auch Maulesel. Die Kamera zeigt alles auf Augenhöhe des Mädchens. Dann beginnt ein heftiges Gewitter, und es wird dunkel…

Schon im nächsten Bild ist es vorbei mit der Idylle, wenn es denn eine war, denn des Nachts schleicht sich ein glühendrotes Wesen ins Haus und ins elter­liche Schlaf­ge­mach. Der Teufel persön­lich!

Er ist leuch­tendrot, mit Hufen und Ringel­schwanz, eine Animation, die im ersten Moment fast lächer­lich wirkt, durch ihre langsamen kontrol­lierten Bewe­gungen und die totale Stille, die mit ihr einher­geht, aber schnell zu einem Horror­bild wird. Dieser Teufel trägt überdies, bizar­rer­weise einen Werk­zeug­kasten mit sich. Dann ist es Morgen.

Schnell versteht man, dass man es hier mit einer Familie zu tun hat – Vater, Mutter, zwei Kinder. Sie kommen aus der Stadt, und haben sich auf dem Hochland eine Farm gekauft. Man ist wohl­ha­bend bis reich, hat helle Hautfarbe und indigene Arbeiter und Bedi­ens­tete, die sich ums Vieh kümmern. Der Alltag Mexikos, Rassen- und Klas­sen­fragen, sind sehr präsent. Im Folgenden wird aber Post Tenebras Lux nun zu einer Höllen­fahrt. Der Titel spielt nicht etwa auf die Bibel­stelle an, nach der Gott das Licht schuf, sondern auf eine Hiob-Stelle. Was gut passt, denn der Fami­li­en­vater hat hier einiges zu erleiden: Er wird zum Sadisten, drang­sa­liert Hunde und Familie. Er wird über­fallen, ange­schossen, stirbt. Vor dem Tod bekennt der Vater noch die Liebe zu allen Dingen. Die schreck­lichsten Dinge werden mit der Stimme der Kinder erzählt. Post Tenebras Lux ist auch das Motto der protes­tan­ti­schen Refor­ma­tion.

Wichtiger als die schwer vers­tänd­liche Story sind starke Bilder (und eine sehr schöne Kamera) und schräge Einfälle: In einem Swin­ger­club heißt ein Raum »Duchamps«, ein anderer »Hegel«. Am Ende werden im Wald Bäume gefällt, warum wissen die Götter. Und der Sünder reißt sich selbst auf dem Acker den Kopf ab! Dann regnet es roten Regen. Zuerst Stöhnen im Saal, dann verle­genes Kichern. Auch eine Szene gibt es, in der etwa zehn­jäh­rige Jungens Rugby spielen – und leider weiß ich auch nicht, was das mit dem Rest zu tun hat. Aber ich hab’s gern gesehen.

Keine Frage also: Reygadas' Film ist zwei­fellos spannend, stel­len­weise sehr schön, nervt aber auch in seiner Form mitunter stark. Am Ende der Vorstel­lung rief einer »Viva Bunuel!« Das war wohl eher spöttisch gemeint.

Man könnte auch sagen, dass es Reygadas mit seinem Ehrgeiz ein bisschen über­treibt: Er möchte gleich­zeitig Terrence Malick sein, und Bruno Dumont und Alexandr Sokurov und ein Skan­dal­re­gis­seur vom Schlage Lars von Triers. Das ist viel­leicht etwas viel. Immerhin den ersten Preis hat er schon gewonnen: Er bekam gerade den Preis »Les Artisans« der unab­hän­gigen Film­kritik um den Direktor des Kurz­fim­fes­ti­vals von Verona Ugo Brus­a­porco verliehen.

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Mitteln im Dunkeln blitzt es auf einmal. Ein Eingriff Gottes in den Wett­be­werb von Cannes? Post tenebrum lux? Nein, nur der Blitz einer Kamera – es muss wohl ein russi­scher Film sein, der gerade läuft. Die letzten Natio­na­listen Europa, falls Russland denn überhaupt zu Europa gehört, sind ja die Russen, und ihr patrio­ti­sches Fantum führt dazu, dass sogar Kino­lein­wände während der Vorstel­lung aufge­nommen werden.

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Auch V tumane vom Russen Sergei Loznitsa ist ein Schuld und Sühne-Drama, diesmal ange­sie­delt in der deutsch besetzten Ukraine um 1942/43. Eine Gruppe von Bauern entzweit sich, als einer von ihnen, ein Partisan, einen anderen, seinen unter Kolla­bo­ra­ti­ons­ver­dacht stehenden Kind­heits­freund, hinrichten soll. Von Anfang an erscheinen die drei Haupt­fi­guren als Verdammte, am Ende sind sie alle tot. Ein quälender, schwer­blü­tiger, bedeu­tungs­schwan­gerer Männer­la­ber­scheiß, völlig unnötig in die Länge gezogen. Aber gerade weil Loznitsa deutlich visuell beschei­dener erzählt, als Reygadas, ist sein Film konsens­fähiger, weil leichter vers­tänd­lich und vermeint­lich inhalt­lich »wichtiger«. Genau das könnte hier am Ende gewinnen, es ist medioker genug. Loznitsa und Mungiu haben übrigens den gleichen Kame­ra­mann.

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Loznitsa selbst beschreibt im Interview seine drei Figuren über­ra­schend wertend und partei­isch: »The Saint, the man who doubts and the villain«, der Heilige, der Mann, der zweifelt und der Schurke. Das ist großer Unsinn, und man möchte seinen doch diffe­ren­zier­teren Film gegen solche Simpli­fi­zie­rungen vertei­digen.

Warum soll der dumme Bauer Soshena, der nichts will, als sich aus allem raus­halten, ein »Heiliger« sein? Er ist ein Oppor­tu­nist, der einfach immer tut, was ihm gesagt wird. Der sich nie wehrt. Der verdammt ist, und sich mit diesem Zustand iden­ti­fi­ziert. Warum soll der Partisan Voitech böse sein? Weil er einen vermeint­li­chen Verräter hinrichten will? Come on.
Man muss sich nicht mit den deutschen Besatzern iden­ti­fi­zieren, um ihr Verhalten vers­tänd­lich zu finden. Man muss sich auch nicht mit den sowje­ti­schen Parti­sanen iden­ti­fi­zieren, um für ihr Verhalten die Bezeich­nung »böse« unan­ge­messen zu finden.

Loznitsa sagt auch: »Soshena ist eines Verbre­chens angeklagt, das er nicht beging.« Nun, er ist einer von vier Bahn­ar­bei­tern. Drei zerstörten Schienen, und brachten einen Zug der deutschen Wehrmacht zum Entgleisen. Er wusste davon, er hätte die Besatzer infor­mieren können, oder die Kameraden abhalten. Oder er hätte mitmachen können. Aber er beschloss, sich heraus­zu­halten; er entschied sich, sich nicht zu entscheiden, und den Dingen ihren Lauf zu lassen.
Natürlich steckt er in einer Zwick­mühle, weil er durch das Verhalten der anderen in ein mora­li­sches Dilemma gezwungen wurde, das er lieber vermieden hätte. Aber damit ist er noch lange nicht schuldlos.

Genau diese miese­pe­trige Vertei­di­gung des Heraus­hal­tens erscheint mir als typische Post-89-Ideologie. Und als auch typisch für die Haltung vieler Menschen des Ostblock-Kultur­kreises – die diesem noch verhaftet sind, jeden­falls. Der Älteren.
Angst auch hier. Viel Angst. Aus Angst vor Ideologie entwi­ckelt diese Gene­ra­tion die Anti-Ideologie zum neuen Glau­bens­kanon.
»Art has not the right to preach« predigt Loznitsa, »nobody can teach anybody, nobody has the right to.« Das ist die Dialektik des Nihi­lismus, dass er das dann predigen muss.
Und warum ist das alles eigent­lich alles verboten?
»Art does not improve people, nor does it make them more noble.«
Für Loznitzsas Film gilt das bestimmt.

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Ich finde Loznitsa eigent­lich einen inter­es­santen Regisseur. Er hat richtig gute Doku­men­tar­filme gemacht. Schade.

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Im Pres­se­raum: Ein Kollege wischt sorg­fältig die zuvor von anderen benutzten Tasten ab. Fehlt nur noch, dass er wie die öster­rei­chi­schen Touris­tinnen in Seidls Afrika mit Desin­fi­zier­spray nach­sprüht und -wischt »It’s symbolic« meint er auf meine amüsierte Frage.