65. Filmfestspiele Cannes 2012
Auf der Insel des Kinos |
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Leos Caraxs Holy Motors: nicht zu verstehen, aber sympathisch | ||
(Foto: Arsenal Filmverleih GmbH) |
Da war er endlich, der erste dieser Filme, wegen denen man nach Cannes fährt. Sieben Tage hat es gedauert, wenn man den Eröffnungsmittwoch mitzählt, und erstmals gingen die Leute nicht wie üblich still, und mit gesenkten Häuptern schnell raus aus dem Kino, sondern standen da, bildeten Trauben, und diskutierten. Zuvor hatte es laute Bravo-Rufe, viel Applaus, aber auch unüberhörbare Buhs gegeben. Die Rede ist von Leos Carax, der dreizehn Jahre nach seinem letzten Film Pola X zurück ist an der Croisette. Sein neuer Film Holy Motors ist ein Film, den ich nicht verstehe, von dem ich mir noch nicht einmal sicher bin, ob ich ihn gut finde. Der mir aber sehr sympathisch ist, weil er in einem arbeitet und lebt. Ich bin heilfroh, ihn gesehen zu haben und freue mich schon darauf, ihn mir noch einmal anzusehen, vielleicht schon hier in Cannes. Und ich bin nach der Vorstellung sicher: Ich habe die Goldene Palme gesehen.
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Holy Motors ist also das bisher ohne Frage herausforderndste Werk im Wettbewerb. Dabei ist auch dies wieder einer unter mehreren Filmen in diesem Cannes-Jahr die einen das Werk eines Filmemachers mit neuen Augen sehen lassen, die unter Umständen zu einer Art Konversion führen. Wes Anderson mochte ich vor Moonrise Kingdom nicht, von Haneke hätte ich Amour nicht erwartet. Und »Wer mag eigentlich Carax?« hatten wir noch kurz vor dem Screening gelästert. Denn jeder sagt zwar gern schnell dahin: »Oh toll dieser Die Liebenden von Pont-Neuf«, aber das sagen eigentlich nur Leute, die nicht viel ins Kino gehen, oder noch in ihrer filmischen Hermann-Hesse-Phase stecken. Denn das genau ist Die Liebenden von Pont-Neuf: Schlimmste Sentimentalität, unterfüttert mit Lebensweisheiten für die Volkshochschule. Wenn man unter Kritikerkollegen dann mal genauer nachfragt, stellt sich schnell heraus: Den Film mag eigentlich keiner. Auch Pola X hat alles andere, als einen guten Leumund. Doch immerhin einen besseren. Ich hab den Film als sehr gut in Erinnerung – versponnene, aber sehr romantische (Geister-)Geschichte, tolle Bilder, inhaltlich eher Quatsch.
Auf dem Empfang des Internationale Filmfestivals Istanbul hatten wir, was wir sonst um diese frühe Zeit vermeiden, zwei Efes-Bier getrunken, das war gar keine schlechte Voraussetzung für diesen Film.
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Es beginnt wie bei David Lynch: Wir sehen im Dunkeln eines Kinosaals, auf dessen Leinwand (noch) kein Film läuft, das Publikum. Schweigend. In Erwartung. Dann Nacht, ein Mann in einem Hotelzimmer, schlaflos, oder schlafend in jenem Zwischenreich zwischen Schlaf und Wachen, von Draußen hört man Schiffssirenen, Hafengeräusche, der Mann geht im Zimmer herum. Dann sehen wir die eine Wand des Zimmers, sie ist ein Wald. Der Mann, der übrigens vom Regisseur selbst gespielt wird, und nur in dieser Auftaktsequenz auftaucht, öffnet eine Tür, mit einem metallischen Vierkantschlüssel, der aus seiner rechten Hand anstelle des Mittelfingers herauswächst. Ein Albtraumbild, spätestens jetzt wissen wir, wo wir uns befinden. Der Mann tritt ein in einen Kinosaal. Von oben. Von dort ist auch ein kleines Kind zu sehen, dass im Mittelgang auf die Leinwand zuläuft. Stille. Wieder das Publikum. Die Kamera ist jetzt unten, filmt auf den Mittelgang zu. Aus dessen Dunkel löst sich jetzt kaum sichtbar ein großer, schwerer Hund. Schnitt.
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Natürlich kann man jetzt sagen: Er spielt sich selbst, er geht ins Kino, das ist kein Alptraum, sondern ein Allmachtstraum. »Carax, génie ou imposteur?« steht in einer Zeitung.
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In diesem assoziativen, anarchistischen Stil des Anfangs geht es weitgehend weiter, wenn auch mit kleineren narrativen Passagen. Holy Motors bietet keine Handlung, die sich einfach nacherzählen ließe, sondern solche Bilder. Er verbindet um eine Rahmenbgschichte neun Episoden, die wiederum auch für sich eher aus losen Skizzen bestehen. Ein Film wie ein langes romantisches Gedicht in mehreren Strophen, mit starken Bildern und großartigen Augenblicken, weit weg vom Mainstream und auch vom gewöhnlichen Kunstkino.
Ein Film, der der Traumlogik folgt – manche würden also sagen, gar keiner Logik; aber das sehe ich anders – der darin wieder stark David Lynch ähnelt und ein wenig manchen Filmen von Hitchcock. Aber den man nicht als Illustration freudianischer Thesen missverstehen kann.
Wie bei Lynch werden Realität und Phantasie hier nebeneinander positioniert: Horizontal, unhierarchisch, gleichberechtigt, zunehmend ununterscheidbar. Und wie bei Lynch gibt es daneben noch eine dritte Ebene, die vielleicht die eigentliche Referenzebene von Holy Motors ist: Das Universum des Kinos und der Literatur, der Kunst überhaupt.
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»Jeder Film handelt auch von der Filmgeschichte« sagt Carax am nächsten Morgen auf der Pressekonferenz: »Wenn man einen Film macht, macht man auch einen Film über das Kino.« Und weiter: »Ich habe das Wort Referenz immer gehasst. Das Kino (›Le Cinema‹) ist für mich eine wunderschöne Insel, die einen großen Friedhof hat. Manchmal lebt man auf dieser Insel, manchmal geht man hin auf einen Drink.«
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Die erwähnte Rahmenhandlung beginnt mit einem großartigen Architekturmonument der klassischen Moderne, aus der Hüfte geschossen würde ich sagen: Von Corbusier. Dort wohnt ein Mann, gespielt von Denis Lavant. Er sieht aus wie ca. 60, und steigt, begleitet von Abschiedsrufen seiner jungen Kinder »bonsoir papa ... travaille bien« und einem sonderbar höhnischen Kinderlachen, sowie von Fahrer und Bodyguards in eine weiße Stretchlimousine. Mit der fährt er wie sich herausstellt, den ganzen Tag durch Paris, um insgesamt neun Verabredungen zu erfüllen, zu denen ihm seine Fahrerin, die offenkundig auch Assistentin ist, jeweils eine Mappe mit Vorabinformationen überreicht – Cronenbergs Cosmopolis wirft seinen Schatten voraus, denn auch in diesem Film, den wir am Wochenende zu sehen bekommen, fährt ja ein Mann den ganzen Tag in einer Stretchlimouseine, offensichtlich einem neuen repräsentativen Ort unseres Zeitalters, durch eine Metropole.
Bald allerdings wird klar: Der Mann ist namens- und alterslos. Wie ein perfekter Schauspieler schlüpft er jeweils in Identitäten. Der Titel ist übrigens der Name der Firma, wo die Limousinen am Abend parken. Irgendwann bekommen wir auch mit, dass es noch viele andere solcher herumfahrenden Wesen gibt, die ihre Identitäten wechseln. In den neuen Identitäten dringt der Mann ins Leben anderer Menschen ein, bringt ihnen Glück wie Unglück, kluge Ratschläge und Weisheiten, aber einen tötet er auch, ein anderer bringt sich nach beider Treffen um. Es könnte sich also um einen Engel handeln, oder um einen Sendboten der Unterwelt.
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Meine Tendenz geht zu Letzerem. Ein Sendbote der Unterwelt also, oder ein gefallener Engel ist »Monsieur Oscar« die von Leos Carax' Lieblingsschauspieler Denis Lavant gespielte, Hauptfigur von Carax' neuem Film, der auch einen Tag nach seiner Premiere viele Zuschauer ratlos, aber auch fasziniert zurücklässt.
Wie soll man sich dies bloß erklären, was will Carax uns sagen oder zeigen oder vermitteln? Einmal ist dieser Oscar ein »Monsieur Merde« der unglaublich hässlich ist, mit wildem, roten Bart und langen kralligen Fingernägeln. Wie ein Satyr. Oder auch wie das Monster aus La belle et la bête. Ein fleischlicher Ausdruck unseres Unterbewussten, von Angst und Phobie. Er steigt auf einen großen Friedhof heraus aus einem Grab, er kommuniziert nicht, es sei denn durch Sabbern und Gurgeln, sondern tut schreckliche hässliche Dinge, die alle entsetzen. Er verschreckt die Menschen, denen er über den Weg läuft, frisst Blumen, Haare, beißt Finger ab, und hält erst inne, als er eine Frau sieht, ein Model bei einem Fotoshooting – und wenn man so will als Ausdruck absoluter Schönheit das vollkommene Gegenstück zu ihm, dem Symbol absoluter Hässlichkeit. Eva Mendez spielt sie, mit leisen Anklängen an die junge Brigitte Bardot.
Oscar ist auch ein Banker, ein Killer, eine bettelnde Zigeunerin, ein sterbender Mann, ein Vater. Am Schluss kommt Oscar über Nacht zu einer anderen Familie. Ehefrau und Kinder werden von Schimpansen gespielt – nein, das kann Carax doch nicht machen? Doch, er kann.
Ganz am Schluß reden in einer großen Garage dann auch die Luxusautos selber miteinander: »Men don’t want visible maschines any more... no more technics«
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Zumindest dieses letzte Bild erklärt der sich sonst eher maulfaul gebende Carax später bei der Pressekonferenz: Er fände diese Autos »tres beau, tres attachant«, sie seien »Bestien«, »tres bling bling«, aber auch zwischen Bestien gebe es Solidarität. »Ich mag Maschinen und Motoren. In digitalen Kameras aber gibt es keine Motoren mehr.«
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Die wohl allerbeste, zumindest allerschönste Szene des Films, in der dieser auch endgültig seine Richtung findet, ist jene Episode, in der Oscar auf eine Frau mit kurzen blonden Haaren und Trenchcoat trifft, die von Kylie Minogue gespielt wird. Die beiden gehen in das traditionsreiche Jugendstil-Kaufhaus »Samaritaine«, das direkt an der Seine liegt, neben der Pont Neuf. Heute steht das vollständig denkmalgeschützte Kaufhaus leer, wird in ein Luxushotel umgewandelt. In den
leeren Hallen dieses Relikts der alten Moderne, zwischen den alten Stahlträgern, Treppen und Jugenstilgeländern singt Mynogue ein melancholisches Lied: »Who are we? Who are we? Where were we, when we were who we are? I was a child«. Auch die Dialoge kreisen um Vergänglichkeit und die zweite Chance, die es nicht gibt.
Immer wieder gibt es wunderschöne, im guten Sinne kitschige Szenen, wie diese, die in ihrem unverhohlen romantischen Charakter am ehesten an Wenders Der Himmel über Berlin erinnern. Dann aber ist es wieder die pure Geschmacklosigkeit.
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Das Problem ist ja nicht, das Carax keine gute Ideen hätte, oder keine Phantasie. Das Problem ist, dass er keinen Geschmack hat. Und darum immer wieder Hässlichkeit, Ekel und Kitsch abfeiert. Und auf der Tonebene trifft sich Symphoniemusik mit dem Soundtrack von Godzilla.
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Wie schon erwähnt: Es ist gar nicht so leicht, über diesen Film zu schreiben, wenn man ihm gerecht werden will. Vielleicht muss man auch noch erzählen, wie es war, ihn zu sehen. Denn nach der sehr schönen rätselhaften oben beschriebenen Auftaktsequenz ist man erstmal sehr irritiert. Holy Motors ist offenkundig unglaublich prätentiös, auch wenn er kaum weniger offenkundig viel Humor hat, auch Selbstironie und Charme. Man kann ihm das gar nicht vorwerfen, denn Carax weiß es und will es. Und man darf ja alles im Kino, auch prätentiös sein.
Das hat vorletztes Jahr auch Godard bewiesen, an den Carax Film öfters erinnert. Auch bei Godard paart sich ganz schöner Quatsch mit genialen Einfällen. Und auch Carax spielt mit Zitaten aus der Kinogeschichte, und wer sucht, wird auch sonst zahlreiche weitere Verweise auf anderes finden: Auf »Hoffman’s Erzählungen«, Kafka, Borges. Wie Borges Texte funktioniert auch dieser Film über Koinzidenzen und Korrespondenzen. Im Presseheft steht ein längeres Zitat aus Jorge Luis Borges' Buch »Everthing or Nothing« über Shakespeare.
Carax selbst markierte seine Position als kompromissloser Autorenfilmer so eindeutig wie möglich: »Ich weiß nicht, wer mein Publikum ist. Ein Haufen Leute, die tot sind (›bunch of people, who are dead‹). Ich mache keine öffentlichen Filme, ich mache private Filme, aber jeder ist eingeladen, sie zu sehen. (›I dont make public films, i make private ones. I invite people to see it.‹).«
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Dabei sollte man sich nicht täuschen lassen: Carax ist kapriziös, aber kein Idiot. Er weiß, was er tut. Er pflatscht dieses Ding so hin, und wir können damit machen, was wir wollen. Schon dieser Gestus ist großartig. Jetzt rattert die Interpretationsmaschine. Darum hier mal unsererseits ein erstes kleines Angebot zum Verständnis: Man muss diesen Film nehmen, wie ein Gedicht, wie einen Traum, bzw. einen Traumfilm a la Lynch. Man sollte an die Romantik denken, an Novalis und Schlegel, an Hoffmann, an Baudelaire und Poe. An romantische Ironie. Man sollte auch surrealistische Kunst im Hinterkopf behalten, Filme von Bunuel und Cocteau, Bilder von Ernst und Dali, Texte von Queneau und vor allem Bataille. Kafka und Borges hatte ich bereits genannt, die kann man auch als Surrealisten eigener Art verstehen. An Celine musste ich auch denken.
Carax ist weltanschaulich ein Anarchist und konservativer Revolutionär, ein Pessimist und Menschenhasser – vielleicht kein sympathischer Mensch. Vielleicht doch. Aber das ist auch egal. Viele Künstler waren bekanntermaßen unsympathische Menschen, und viele sympathische Künstler machen leider schlechte Kunst.
Thematisch geht es offenkundig um das Verhältnis zwischen Menschen, Monstern und Maschinen. Das bedeutet aber, dass es hier natürlich grundsätzlicher auch um die Beziehung zwischen Realität und Phantasie geht. Oscar ist nicht nur eine Figur der Phantastik, sondern auch ein Bote der Phantasie. In der Beziehung zwischen beiden Ebenen dient die Phantasie in der Regel dazu, uns von der Realität zu erlösen. Bei Carax ist das Verhältnis ausgeglichener. Realität und Phantasie stehen gleichberechtigt nebeneinander.
Vielleicht ist das alles nur der Albtraum eines Filmregisseurs – namens Carax – der von seinen Ideen verfolgt wird. Vielleicht auch die Kinogeschichte, die sich selber träumt. Die Realität bleibt dann für die, die nicht stark genug sind, um diese Träume auszuhalten.
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Holy Motors ist ein herausfordernder Film, eine urbane Poetik mit Vision, insgesamt ungeheuerlich und ungeheuer faszinierend. Um mich zu wiederholen: Man weiß nicht genau, was es alles bedeutet, aber es ist großartig.
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Noch ein Gedanke, lose, so wie es dieser Film provoziert (immerhin provoziert er Gedanken): Wir leben im sentimentalischen Zeitalter. Was heute fehlt ist das Naive. Das was uns am ehesten im Stummfilm begegnet, und wonach sich zu sehnen, es gute Gründe gibt. Carax' Film ist wie ein Marionettentheater. Das Puppen lebendiger und echter sind, als Menschen – in der Kunst wohlgemerkt – ist eigentlich ganz leicht zu verstehen, aber es widerspricht der unmittelbaren
Erfahrung.
Wer diesen Gedanken teilt, schätzt Carax, wer ihn ablehnt, kritisiert den Film.
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Wer Carax nicht mag, mag Salles – und umgekehrt, das ist schon mal eine Faustregel.
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»Zu uns sind Leute gekommen, und haben gesagt: Wir hassen diesen Film, hassen Sie den auch.« erzählt später Erika Gregor, die mit ihrem Mann, dem Gründungsdirektor des Berlinale-Forums auch 2012 Dauergast in Cannes ist. Wer Filme liebt, geht nicht in den Ruhestand, das man an den Gregors gut beobachten – und offenkundig hält Kino auch jung.
»Aber er wird nichts kriegen, nicht in dieser Jury.« meinte Gregor dann noch.
Und der Direktor eines großen österreichischen
Filmfestivals, der gerade bei uns stand, und schon seine ganz eigenen Erfahrungen mit dem Jurypräsidenten Nanni Moretti hat, meinte noch: »Der Moretti ist ein totaler Egomane, der hat in diese Jury sogar zwei Stimmen, und das sind zwei Stimmen zuviel. Und die Diane Kruger, die ist so dumm… das wird nix.« Bei Kruger bin ich mir da gar nicht so sicher. Bei Moretti schon.
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Zeit einmal über die diesjährige Jury zu reden. In allen Gesprächen der letzten Woche war das Urteil unisono: Von denen ist nichts Gutes zu erwarten, mehr oder weniger alles Deppen ohne Geschmack oder die typischen Liebhaber des Gutmenschenkinos. Aber vielleicht täuschen wir alle uns ja in den Regisseuren Andrea Arnold, Alexander Payne und Raoul Peck, in den Schauspielerinnen Hiam Abbass, Emmanuelle Devos und Diane Kruger, ihrem Kollegen Ewan McGregor, sowie dem Modeschöpfer Jean-Paul Gaultier.
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Über Moretti traue ich mir aber ein gewisses Urteil zu. Was allemal klar ist, und keine österreichische Verschwörungstheorie ist, dass Moretti Haneke und Seidl verabscheut. Es gibt dazu zwei schöne böse Anekdoten: Als 1996 Hanekes Funny Games in Cannes lief, war Moretti schon mal in der Jury (aber nicht Präsident) und soll zu den Jury-Kollegen gesagt haben, jeden, der für diesen Film stimme,
den schlage er zusammen. Verbürgt ist, dass Moretti in Venedig 2001, als Seidls Hundstage lief, mit dem Austritt aus der Jury gedroht hat, als die Mehrheit den Film mit dem Goldenen Löwen auszeichnen wollte.
Woher das alles kommt? Keine Ahnung. Vielleicht der Hass der Italiener gegen ihre ehemaligen Kolonialherren?
Auch Diego aus Argentinien kalkuliert mit Morettis persönlichem Egotrip:
»Haneke und Seidl fallen aus. Auch Garrone, denn er wird keinen Italiener neben sich dulden. Auch keinen Regisseur, der schon eine Goldene Palme hat, denn dann hätte der mehr als er selbst.«
Was bliebe dann? Kiarostami.
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»Ich habe meine Identität als Popstar abgestreift« sagte Kylie Minogue zu ihrem Auftritt auf der Pressekonferenz zu Holy Motors, die weniger voll war, als erwartet, und durch die undisziplinierten Fotographen gestört wurde, die sich partout nicht hinsetzen wollten, »mich an meine Anfangsjahre als Schauspielerin erinnert, und versucht, so basic wie möglich zu sein. Es war ein magisches Erlebnis.«
Auf der gleichen Konferenz liefert die französische Produzentin von Carax gleich noch eine gute Definition von Autorenkino, die man gern mal von einem deutschen Produzenten hören würde: »Filme, die weit weg sind vom Ordinären, vom Massen-Geschmack, die nicht das Fernsehen interessieren, die keine Komödien sind.«
Sie erzählt dann auch, der Film sei bereits fertig finanziert gewesen, dann hätten die Banken plötzlich die Verträge nicht unterzeichnen wollen, und es dauerte weitere zwei Jahre. Da zeigte sich dann das deutsche Fernsehen, genauer: Der deutsche Teil des Kulturkanals ARTE von seiner besten Seite: gleich drei deutsche Redakteure stehen jetzt auf dem Abspann, und können sich womöglich am Sonntag freuen.
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Das neueste Gerücht, dass deshalb glaubwürdig ist, weil es aus sehr gut informierten Kreisen kommt: Der Film sei dann am Ende nur deshalb möglich gemacht worden, weil ein Anruf aus dem Elysee-Palast bei der ARTE-Chefetage die Finanzierung klar gemacht habe. Denn Leos Carax, der mit seiner hellen braunen speckigen Lederjacke und seiner Sonnenbrille ein bisschen so aussieht wie ein Hongkong-Regisseur, war ja auch mal der Lover von Präsidentengattin Carla Bruni.
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Das können sie auch wegen Carlos Reygadas. Zu dessen Film Post Tenebras Lux schreiben wir im nächsten Blog noch mehr. Nur soviel: Eine faustische Schuld und Sühne-Geschichte im Murnau 5:4-Bildformat mit verzerrten unscharfen Rändern, wie Sukurov. Und der zweite Katholo-Schlocker in wenigen Tagen, aber ganz anders, polymorph-pervers halt, wie immer bei Reygadas: Sodom und Gomorra in Mexiko. Zweifellos ein toller, irrer, stellenweise sehr schöner Film, stellenweise auch wieder einfach unverständlich. Und er tut ein bisschen kunstvoller, als er ist, erzählt eine ganz straighte Story mit Zeitsprüngen vor und zurück, weil’s dann besser aussieht. Ein toller Film und ein Preiskandidat.
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Was denn Katholo-Schlocker bedeutet, werde ich aus Deutschland gefragt. Meine Antwort: Katholo-Schlocker – tja, das war eine persönliche Wortschöpfung: Schlocker ist eine Mischung aus Schocker und Schlock, dem jiddischen Wort für billig, Schund, schäbig, kitschig, trashig und Katholo ist klar, oder? Zum Beispiel der Exorzist wäre auch ein Katholo-Schlocker – interessant, aber irgendwie geht’s so trotzdem nicht... Dazu noch zwei Links: http://www.wired.com/underwire/2010/12/syfy-ice-quake/ und http://www.youtube.com/watch?v=_eLBQLUyfhg
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»Will Mexico ever win the World Cup?« – vielleicht ist das überhaupt die wichtigste Frage in Post Tenebras Lux. Wir haben hier noch gar nicht die Bilanz des Champions-League-Finales gezogen, dass hier am letzten Samstag alle geguckt haben, statt Tomas Vinterbergs dänischem Jagten, den wir jetzt am Sonntag nachholen werden. So richtig, wie es diesem Ereignis gebührte, werden wir das, fürchte ich, auch nicht nachholen können. Dabei hätte es alle Aufmerksamkeit verdient. Denn so wie dieses Fußballspiel war, möchte man auch das Kino: Spektakel, großes Drama, Spannung bis zur letzten Sekunde und Schicksalgeschichten – wie jene von Frankreichs Didier Drogba, der im blauen Trickot des FC Chelsea erst kurz vor Schluss das rettende Ausgleichtor schoss, dann in der Verlängerung einen Elfmeter verschuldete, und damit quasi das Schicksal seiner Mannschaft besiegelte, und dann, als es doch noch zum Elfmeterschießen kam, den letzten, alles entscheidenden Elfmeter verwandelte. Oder jene von FC Bayern-Spieler Arjen Robben, der quasi mit Ansage den Drogba-Elfer verschoss und damit die beste Chance des Spiels und die Vorentscheidung für seine Mannschaft persönlich versiebte. Und damit den zweiten Titel, weil er ja bereits im vorgezogenen Finale gegen Borussia Dortmund den möglichen Ausgleich per Elfmeter nicht verwandeln konnte. Mit ihm würde man sich dieser Tage gern mal über das Schicksal und die Macht des Teufels unterhalten.
Oder mit Bayern-Trainer Jupp Heynckes, der bei all seiner Erfahrung das Offenkundige nicht sehen konnte, das was jeder Fußballfan, der das Spiel verfolgte, sofort begriff, und wie von den Göttern mit Blindheit geschlagen, den Abwehrspieler Van Buyten für den Torschützen Thomas Müller einwechselte – und damit seiner Mannschaft signalisierte: Wir sind durch Jungs, wir haben’s geschafft, ihr könnt nachlassen. Jeder, der sah, ahnte: Hybris, die sofort bestraft werden wird. Und sie wurde. Heynckes verstieß gegen alle Regeln des Fußball-Karmas, gegen das, was Hunderttausende intuitiv wissen. So wie Fürths Trainer Michael Büskens am 20.März, als er im DFB-Halbfinale gegen Dortmund den angeblichen Elfmeterkiller Jasmin Fejzic für Max Grün einwechselte – zwei Minuten vor dem Elfmeterschießen. Und in dem Moment wusste man: Es würde nicht dazu kommen.
Fußball ist ein Schicksalsereignis, und das kann man vom Kino leider so nicht sagen. Besser wär’s aber. Kaum ein Film, den wir hier gesehen haben, fesselte die Gemüter ähnlich, hatte ähnliches Aufregungs- und Emotionspotential wie Fußball. Noch Tage später redete man hier über das Finale. Der britische Kollege Nick James (»Sight & Sound«), selbst Manchester United-Fan, freute sich zum Beispiel, dass erstmals ein britisches Team gegen ein deutsches ein Elfmeterschießen gewinnen konnte. Aber es geht hier nicht nur um dieses eine Spiel. Dem britische Wahlhamburger Andrew Bird, Cutter von unter anderem Fatih Akin, konnte man gratulieren, weil sein Lieblingsclub West Ham United den direkten Wiederaufstieg in die Premier League geschafft hatte. Und mit den gebeutelten FC Barcelona-Fans aus Spanien werden wir nachher das spanische Cubfinale zwischen Barca und Athletic Bilbao angucken.
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Ansonsten glüht die Sonne wieder heiß über Cannes, dafür verdüstern sich die Seelen der Filmfiguren zusehends. Immerhin Nicole Kidman, nicht mehr ganz so schön wie früher, aber immer noch strahlend wie eh und je und im roten Kleid, das sich prächtig zu ihrem blonden Haar und vor der sonnig-blauen Kulisse des Mittelmeeres machte, brachte Licht an die Croisette – einer der letzten Weltstars, die das diesjährige Festival von Cannes besuchen, zur Premiere des im Übrigen hundsmiserablen US-Films »The Paperboy« – bevor am Samstag dann die letzten zwei Wettbewerbsfilme laufen und am Sonntagabend die Goldene und die silbernen Palmen verliehen werden – die begehrtesten Preise des Weltkinos, noch vor den Oscars, die ja nur Hollywood-Filme gewinnen können.
In der zweiten Hälfte werden die Filme des Wettbewerbs stärker und stärker und die mit einem italienischen Präsidenten, zwei Briten, zwei Franzoen, einer francophilen Deutschen und einem in Paris lebenden Haitianer mit afrikanischen Wurzeln, aber nur einem Nordamerikaner, gar keinem Lateinamerikaner oder Asiaten überaus einseitig europalastig besetzte Jury wird es nicht leicht haben mit ihrer Entscheidung.
Zwei schwierige, intellektuell wie stilistisch herausfordernde Filme drängten sich zuletzt in den Favoritenkreis: Post Tenebras Lux vom Mexikaner Carlos Reygadas und V tumane vom Russen Sergei Loznitsa.
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Post Tenebras Lux besticht zunächst durch sein ungewöhnliches Bildformat: 5:4 sieht fast quadratisch aus, man kennt es vor allem aus dem Stummfilm. Und wie beim deutschen Expressionisten F.W. Murnau (Faust, Nosferatu) ist auch hier der Bildrand bewusst etwas unscharf, also dem Blick des menschlichen Auges nachempfunden. Fish-eye. Zunächst fängt alles ganz harmlos an, mit einem Mädchen, das an einem Spätnachmittag auf einem grünen, regenfrischen Feld mit Kühen und Hunden spielt. Im Hintergrund sieht man auch Maulesel. Die Kamera zeigt alles auf Augenhöhe des Mädchens. Dann beginnt ein heftiges Gewitter, und es wird dunkel…
Schon im nächsten Bild ist es vorbei mit der Idylle, wenn es denn eine war, denn des Nachts schleicht sich ein glühendrotes Wesen ins Haus und ins elterliche Schlafgemach. Der Teufel persönlich!
Er ist leuchtendrot, mit Hufen und Ringelschwanz, eine Animation, die im ersten Moment fast lächerlich wirkt, durch ihre langsamen kontrollierten Bewegungen und die totale Stille, die mit ihr einhergeht, aber schnell zu einem Horrorbild wird. Dieser Teufel trägt überdies, bizarrerweise einen Werkzeugkasten mit sich. Dann ist es Morgen.
Schnell versteht man, dass man es hier mit einer Familie zu tun hat – Vater, Mutter, zwei Kinder. Sie kommen aus der Stadt, und haben sich auf dem Hochland eine Farm gekauft. Man ist wohlhabend bis reich, hat helle Hautfarbe und indigene Arbeiter und Bedienstete, die sich ums Vieh kümmern. Der Alltag Mexikos, Rassen- und Klassenfragen, sind sehr präsent. Im Folgenden wird aber Post Tenebras Lux nun zu einer Höllenfahrt. Der Titel spielt nicht etwa auf die Bibelstelle an, nach der Gott das Licht schuf, sondern auf eine Hiob-Stelle. Was gut passt, denn der Familienvater hat hier einiges zu erleiden: Er wird zum Sadisten, drangsaliert Hunde und Familie. Er wird überfallen, angeschossen, stirbt. Vor dem Tod bekennt der Vater noch die Liebe zu allen Dingen. Die schrecklichsten Dinge werden mit der Stimme der Kinder erzählt. Post Tenebras Lux ist auch das Motto der protestantischen Reformation.
Wichtiger als die schwer verständliche Story sind starke Bilder (und eine sehr schöne Kamera) und schräge Einfälle: In einem Swingerclub heißt ein Raum »Duchamps«, ein anderer »Hegel«. Am Ende werden im Wald Bäume gefällt, warum wissen die Götter. Und der Sünder reißt sich selbst auf dem Acker den Kopf ab! Dann regnet es roten Regen. Zuerst Stöhnen im Saal, dann verlegenes Kichern. Auch eine Szene gibt es, in der etwa zehnjährige Jungens Rugby spielen – und leider weiß ich auch nicht, was das mit dem Rest zu tun hat. Aber ich hab’s gern gesehen.
Keine Frage also: Reygadas' Film ist zweifellos spannend, stellenweise sehr schön, nervt aber auch in seiner Form mitunter stark. Am Ende der Vorstellung rief einer »Viva Bunuel!« Das war wohl eher spöttisch gemeint.
Man könnte auch sagen, dass es Reygadas mit seinem Ehrgeiz ein bisschen übertreibt: Er möchte gleichzeitig Terrence Malick sein, und Bruno Dumont und Alexandr Sokurov und ein Skandalregisseur vom Schlage Lars von Triers. Das ist vielleicht etwas viel. Immerhin den ersten Preis hat er schon gewonnen: Er bekam gerade den Preis »Les Artisans« der unabhängigen Filmkritik um den Direktor des Kurzfimfestivals von Verona Ugo Brusaporco verliehen.
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Mitteln im Dunkeln blitzt es auf einmal. Ein Eingriff Gottes in den Wettbewerb von Cannes? Post tenebrum lux? Nein, nur der Blitz einer Kamera – es muss wohl ein russischer Film sein, der gerade läuft. Die letzten Nationalisten Europa, falls Russland denn überhaupt zu Europa gehört, sind ja die Russen, und ihr patriotisches Fantum führt dazu, dass sogar Kinoleinwände während der Vorstellung aufgenommen werden.
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Auch V tumane vom Russen Sergei Loznitsa ist ein Schuld und Sühne-Drama, diesmal angesiedelt in der deutsch besetzten Ukraine um 1942/43. Eine Gruppe von Bauern entzweit sich, als einer von ihnen, ein Partisan, einen anderen, seinen unter Kollaborationsverdacht stehenden Kindheitsfreund, hinrichten soll. Von Anfang an erscheinen die drei Hauptfiguren als Verdammte, am Ende sind sie alle tot. Ein quälender, schwerblütiger, bedeutungsschwangerer Männerlaberscheiß, völlig unnötig in die Länge gezogen. Aber gerade weil Loznitsa deutlich visuell bescheidener erzählt, als Reygadas, ist sein Film konsensfähiger, weil leichter verständlich und vermeintlich inhaltlich »wichtiger«. Genau das könnte hier am Ende gewinnen, es ist medioker genug. Loznitsa und Mungiu haben übrigens den gleichen Kameramann.
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Loznitsa selbst beschreibt im Interview seine drei Figuren überraschend wertend und parteiisch: »The Saint, the man who doubts and the villain«, der Heilige, der Mann, der zweifelt und der Schurke. Das ist großer Unsinn, und man möchte seinen doch differenzierteren Film gegen solche Simplifizierungen verteidigen.
Warum soll der dumme Bauer Soshena, der nichts will, als sich aus allem raushalten, ein »Heiliger« sein? Er ist ein Opportunist, der einfach immer tut, was ihm gesagt wird. Der sich nie wehrt. Der verdammt ist, und sich mit diesem Zustand identifiziert. Warum soll der Partisan Voitech böse sein? Weil er einen vermeintlichen Verräter hinrichten will? Come on.
Man muss sich nicht mit den deutschen Besatzern identifizieren, um ihr Verhalten verständlich zu finden. Man muss sich
auch nicht mit den sowjetischen Partisanen identifizieren, um für ihr Verhalten die Bezeichnung »böse« unangemessen zu finden.
Loznitsa sagt auch: »Soshena ist eines Verbrechens angeklagt, das er nicht beging.« Nun, er ist einer von vier Bahnarbeitern. Drei zerstörten Schienen, und brachten einen Zug der deutschen Wehrmacht zum Entgleisen. Er wusste davon, er hätte die Besatzer informieren können, oder die Kameraden abhalten. Oder er hätte mitmachen können. Aber er beschloss, sich herauszuhalten; er entschied sich, sich nicht zu entscheiden, und den Dingen ihren Lauf zu lassen.
Natürlich steckt er in einer
Zwickmühle, weil er durch das Verhalten der anderen in ein moralisches Dilemma gezwungen wurde, das er lieber vermieden hätte. Aber damit ist er noch lange nicht schuldlos.
Genau diese miesepetrige Verteidigung des Heraushaltens erscheint mir als typische Post-89-Ideologie. Und als auch typisch für die Haltung vieler Menschen des Ostblock-Kulturkreises – die diesem noch verhaftet sind, jedenfalls. Der Älteren.
Angst auch hier. Viel Angst. Aus Angst vor Ideologie entwickelt diese Generation die Anti-Ideologie zum neuen Glaubenskanon.
»Art has not the right to preach« predigt Loznitsa, »nobody can teach anybody, nobody has the right
to.« Das ist die Dialektik des Nihilismus, dass er das dann predigen muss.
Und warum ist das alles eigentlich alles verboten?
»Art does not improve people, nor does it make them more noble.«
Für Loznitzsas Film gilt das bestimmt.
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Ich finde Loznitsa eigentlich einen interessanten Regisseur. Er hat richtig gute Dokumentarfilme gemacht. Schade.
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Im Presseraum: Ein Kollege wischt sorgfältig die zuvor von anderen benutzten Tasten ab. Fehlt nur noch, dass er wie die österreichischen Touristinnen in Seidls Afrika mit Desinfizierspray nachsprüht und -wischt »It’s symbolic« meint er auf meine amüsierte Frage.