Japan 2023 · 127 min. · FSK: ab 12 Regie: Hirokazu Kore-eda Drehbuch: Yûji Sakamoto Kamera: Ryûto Kondô Darsteller: Sakura Ando, Eita Nagayama, Soya Kurokawa, Hinata Hiiragi, Mitsuki Takahata u.a. |
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Uneindeutigkeiten mit großer Zärtlichkeit | ||
(Foto: Plaion Pictures) |
Nach filmisch eher enttäuschenden Ausflügen nach Frankreich (La Vérité – Leben und lügen lassen, 2019) und Südkorea (Broker, 2022) ist Hirokazu Koreeda für seinen neuen Film wieder nach Japan zurückgekehrt.
Das hat sich ausgezahlt, denn zum ersten Mal seit seinen großen Filmen Like Father, Like Son (2013), Unsere kleine Schwester (2015), After the Storm (2016) oder den mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Shoplifters (2018) entsteht beim Sehen eines Koreeda-Films wieder dieses wunderbare Gefühl, einen unbedingt notwendigen Film gesehen zu haben, der über das kleine Japan die große Welt erklärt.
Das mag in diesem Fall natürlich auch daran liegen, dass im Zentrum von Die Unschuld nicht nur junge Jugendliche zu sehen sind, sondern auch ihr Schul- und Lebensalltag und die alleinerziehende Mutter Saori (Sakura Andō), die es mit ihrem Sohn Minato (Soya Kurokawa) nicht einfach hat, weil es so scheint, als würde er gemobbt werden und ein Lehrer, aber auch sein bester Freund Yori (Hinata Hiiragi), Teil des Problems sein. Das sind universale Probleme, die in jedem Kulturraum eine Rolle spielen und die ja auch Ilker Çatak in seinem erfolgreichen Lehrerzimmer (2023) aufgefächert hat.
Auch dort ging es um Wahrheit und Lüge und um die Positionierung von Lehrern untereinander und gegenüber Schülern und Eltern. Bei Koreeda mit seiner japanischen Perspektive sieht sich das jedoch anders, sind die rudimentären Dialoge oft von subtilen Gesten begleitet, die die Suche nach der Wahrheit genauso schwierig machen wie das Gegenteil bei Çatak, wo es laut und wortreich zugeht.
Koreeda konstruiert seinen Film mit klaren Perspektivwechseln, die es ermöglichen, die zuvor »andere« Seite mit allen nur erdenklichen Details zu verstehen. Doch das Überraschende, das Koreeda mit seinem Drehbuchautor Yūji Sakamoto hier gelingt, ist, dass der Perspektivwechsel nie zu einer absoluten Wahrheit führt, sondern jede Wahrheit wahr zu sein scheint und Koreeda und Sakamoto nicht zu Unrecht die Grenzen zwischen Lüge und Wahrheit hinterfragen, es vielmehr emotionale Grundlagen einer Wahrheit sind, die entscheidend für die Rezeption der Außenwelt sind. Das gleiche gilt ja auch für die Frage, was »gute« bzw. »wahrhaftige« Kunst bzw. Literatur ist, zieht man jedenfalls William Empsons Standardwerk zur Literaturkritik, seine Seven Types of Ambiguity, zu Rate.
Koreeda erzählt von diesen Uneindeutigkeiten mit großer Zärtlichkeit. Vor allem den Szenen zwischen den beiden Freunden Hinato und Yori gibt Koreeda eine Intensität, die wir zuletzt in Lukas Dhonts Close (2022) gesehen haben. Doch anders als bei Dhont gelingt es den Kindern hier zu reden und über emotionale Intelligenz zu spüren, was hinter den vermeintlichen Wahrheiten wirklich steht.
Die Unschuld ist deshalb natürlich auch schon fast klassisches Coming-of-Age Kino und man fragt sich, ob Koreeda dann und wann nicht auf die großen Klassiker dieses Genres anspielt. Etwa auf Rob Reiners Stand by Me – Das Geheimnis eines Sommers, in dem wie bei Koreeda ebenfalls Kinder einer Bahnlinie folgen, um irgendwann bei den tieferen Wahrheiten des Lebens anzukommen.
Neben diesem immer wieder elegischen Fluss der Erzählung überrascht Koreeda nicht nur mit den Wendungen seiner Handlung, sondern mit den kleinen Details, die diese Handlung vertiefen: der Moment, wie die Direktorin die Kaugummis auf dem Boden ihrer Schule entfernt, eine blutende Nase und ein Streicheln durch die Haare; das immer wieder von neuem lodernde Feuer in der Hostess-Bar, oder das Unwetter, das wie bei Fontane eine Entscheidung ankündigt.
Das Schöne an Korreedas wunderbarem Film ist, dass es am Ende gar nicht mehr darum geht, was wahr und was nicht wahr ist, sondern angedeutet wird, dass wichtiger als jede Wahrheit die Kunst ist, mit der Lüge zu leben. Und trotzdem frei zu sein.