D/L 2004 · 97 min. · FSK: ab 12 Regie: Volker Schlöndorff Drehbuch: Eberhard Görner, Andreas Pflüger Kamera: Tomas Erhart Darsteller: Ulrich Matthes, August Diehl, Hilmar Thate, Bibiana Beglau u.a. |
||
Matthes und Diehl |
Nach aufwendiger publizistischer Vorarbeit strömt man massenweise in Der Untergang, um quasi am eigenen Leibe die letzten Tage Hitlers im Führerbunker zu erleben. Geschichtlich korrekt bis in die Details, hautnah an den Sekretärinnen – endlich sieht man mal, wie’s wirklich war. Denn alles ist nachzulesen bei Joachim Fest oder nachzuschauen im Interview mit Hitlers Stenotypistin Traudel Junge von André Heller (Im Toten Winkel), und selbst Zeitschriften wie der Spiegel zeigen den Lesern genau, was an der Darstellung in diesem Film von Produzent und Drehbuchautor Bernd Eichinger hundertprozentig historisch ist und an welcher Stelle vielleicht doch dramaturgisch gefeilt wurde. Authentizität ist alles.
Ist alles authentisch? Wissen wir jetzt, wie es wirklich war im totalitären Druck-System, verstehen wir jetzt mehr davon, was im Kopf fanatischer Nationalsozialisten vorgegangen sein mag? Oder leidet der Film an einer Überdosis Realität, leidet die erzählte Geschichte an der Geschichtlichkeit? Bei so viel geballtem so-war’s-aber-wirklich wird einem bald egal, wem es eigentlich passiert, und hinter dem mühsam als Spielfilm maskierten Werk schimmert an jeder Ecke die Schulstunde durch, zu der man sich als kritischer, geschichtsbewusster Bürger geradezu verpflichtet fühlt. Doch welcher Erkenntniswert schlummert in solch papiernen Fakten, zu deren Aneignung auch die gewissenhafte Durcharbeitung eines Sachbuches genügen würde? Seine Existenzberechtigung hat Der Untergangletztlich nur noch als Gegenstand geschichtsreflektierenden Small-Talks – man sieht ihn, um mitreden zu können, weil ihn so langsam alle gesehen haben. Der Effekt solcher Historien-Darstellungen liegt vor allem darin, das Durchschnittsalter des Publikums zu heben. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Publikum auch offen ist für weniger intensiv beworbene Filme.
Denn Film an sich ist noch viel mehr als ein Illustrationsmedium für den Unterricht, und er bietet ganz andere Wege der Aneignung. Um mit dem Filmpsychologen Dirk Blothner zu sprechen: die filmische Darstellungsweise, der Fokus, die Montage, entsprechen unserer Wahrnehmung viel mehr als die ungefilterte Wirklichkeit. Wir verstehen Dinge nicht isoliert, sondern im Bezug zueinander, und in jedem Ereignis schwingt das Vorher und Nachher mit. Geschickte Regisseure, wie beispielsweise Hitchcock, haben das verstanden und bauen ihre Filme entsprechend auf. Zur Dramatisierung des Historischen und zur Vergegenwärtigung gehört mehr als eine gefällige Umgruppierung der Ereignisse. Ein guter Film erzählt mehr, als der grobe Plot hergibt.
Ein solcher Film ist mit Der neunte Tag Volker Schlöndorff gelungen. Ein historischer Film in dem Sinne, als er ziemlich genau die Atmosphäre, die Stimmungen einer historischen Periode wiedergibt, als er deutlich macht, welche Zwänge der Totalitarismus der Nationalsozialisten ausübt, unter welchen Druck der Einzelne im System geraten kann. Voller nachprüfbarer Fakten – dennoch ein fiktiver Film: die dargestellten Ereignisse orientieren sich zwar an tatsächlichen Figuren und Gegebenheiten, doch die Handlung selber entspringt der Imagination, die diese Ereignisse bei Produzent und Autoren freigesetzt haben. Und vollkommen unhistorisch ist der Film, was sein Thema angeht: die beschriebenen Konflikte sind nicht gebunden an die Zeit, in der das alles spielt. Ein guter Film sagt auch in der Beschreibung der Vergangenheit etwas über Erfahrungen heute aus.
Abbé Henri Kremer, ein Pfarrer aus Luxemburg, ist als Unterstützer des Widerstandes in Dachau interniert. Er sitzt im Pfarrerblock ein, zusammen mit christlichen Priestern aus allen besetzten Ländern. Die Geistlichen, vom Lagerleben gezeichnet, versuchen trotz aller Schikanen ihr religiöses Leben aufrecht zu erhalten. Plötzlich wird Kremer entlassen – nicht endgültig, aber ihm werden neun Tage Urlaub gewährt. Neun Tage, in denen er nach der Vorstellung des Gestapo-Chefs in Luxemburg, Gebhardt, den stillen Widerstand der Kirche beenden, ein Bekenntnis der Kooperation zwischen katholischer Kirche und NS-Regime erreichen soll.
Gebhardt verfügt über einige Druckmittel: die Aussicht auf weitere Lagerhaft bei mangelnder Kooperation, die Drohung, bei einer Flucht Kremers dessen Familie und alle luxemburgischen Priester in Dachau zu töten. Der Versucher ist selber Theologe, erst kurz vor der Priesterweihe hat er den Dienst am »gottgesandten« Führer Adolf Hitler dem in der Kirche vorgezogen. Er hält Judas, den Verräter, für eine Schlüsselfigur des Christentums. Argumentativ versucht er, den Glauben Kremers zu erschüttern, den die Grauen des Konzentrationslagers nicht brechen konnten.
Zwischen der Sorge um Familie und Glaubensbrüder und den eigenen Schuldgefühlen, zwischen der Aggressivität des SS-Mannes und dem passiven Verhalten des Bischofs bleibt Kremer nur sein eigenes Gewissen als Ratgeber.
Die Vorlage der Geschichte bildet das KZ-Tagebuch des Luxemburger Priesters und Kirchenfunktionärs Jean Bernard (Pfarrerblock 25487), der als Mittdreißiger für 19 Monate nach Dachau kam und einer der wenigen ist, die aus diesem Lager entlassen wurden. In seinen Erinnerungen erwähnt er den neuntägigen Urlaub nur knapp, den er im Februar 1942 anlässlich des Todes seiner Mutter bekam, doch dieser kurze Bericht inspirierte den Produzenten Jürgen Haase zu weiteren Überlegungen: Wie fühlt man sich, wenn man quasi »auf Zeit« ins Leben zurückkehrt? Welchen Grund könnte es für die ungewöhnliche Maßnahme gegeben haben? Die Drehbuchautoren Eberhard Görner und Andreas Pflüger gestalteten den Stoff zu einer Auseinandersetzung zwischen zwei Überzeugungstätern: dem gewissenhaften Priester, der instrumentalisiert werden soll, und dem SS-Mann, der seine Stellung in Luxemburg als Chance sieht, die katholische Kirche und den Nationalsozialismus zusammen zu bringen – und als Weg, seine eigene Versetzung in eines der Vernichtungslager im Osten zu verhindern. Volker Schlöndorff nahm sich des Stoffes dankbar an und schuf zusammen mit Kameramann Thomas Erhart Bilder, die schon durch ihre unterdrückten Farben und tiefen Schatten die winterliche Dunkelheit betonen, die auch über den Seelen liegt. Sparsam sind die Bilder aus dem Konzentrationslager, die Menschen stehen im Vordergrund, nicht die Szenerie, die dennoch mit großer Sorgfalt gestaltet wurde.
Ulrich Matthes in der Rolle des Abbé Kremer beweist eine Intensität des Ausdrucks, die Worte überflüssig machen kann. Nicht der hölzerne Goebbels aus dem Untergang ist ihm auf den Leib geschrieben, sondern der stille Gefangene, der Kremer auch im Hafturlaub immer bleibt, heruntergebrochen auf ein »Lagerschwein« – und dennoch mit ungebrochener Überzeugung. August Diehl als kalkulierender Karrierist,der bei aller Kaltschnäuzigkeit seine Ängste nicht völlig verbergen kann, hält in diesem Darstellerfilm gekonnt mit. Seine Figur entstammt vollkommen der Feder der Autoren, die mit dem wortmächtigen Taktiker ein Gegengewicht zur moralisch stärkeren Figur des Priesters aufbauen wollten. Diehl glaubt nicht, dass Intellekt vor Irrwegen schützt: »Gerade als intelligenter Mensch findet man immer Lücken und Pforten und Schleichwege, um seine eigene Position zu rechtfertigen.« Als Kremers Schwester und wichtigste Bezugsperson hat Schlöndorff Bibiana Beglau besetzt, die bereits in seinem Film Die Stille nach dem Schuss ihre Wandlungsfähigkeit beweisen konnte.
Der neunte Tag lässt sich aus vielen Blickwinkeln betrachten. Die Frage nach der Gegenwart Gottes im Grauen der Lager lässt sich ebenso stellen wie die nach der Rolle der katholischen Kirche während des Dritten Reiches, nach ihrem Schweigen. Wie in Rolf Hochhuts Stück Der Stellvertreter, 2002 verfilmt von Costa-Gavras, wird die Frage aufgeworfen, ob die Kirche nicht zu Widerspruch und Widerstand verpflichtet gewesen wäre – der Bischof im Film verneint dies mit einem Hinweis auf die verstärkte Verschleppung »nichtarischer« Christen in Holland, gerade weil dort ein Bischof dagegen protestiert hatte. Der versuchte Beistand kann bittere Folgen haben, wie das »Privileg« des Messweines für die Insassen des Pfarrerblocks deutlich macht. Also Schweigen zum Schutz der Mehrheit? Genau dieses Denken, wie die Selbstvorwürfe des Abbés (der einem Mitgefangenen Wasser vorenthalten hatte, das möglicherweise dessen Selbstmord verhindert hätte), ist das Ergebnis pervertierter und verkehrter Verantwortlichkeiten, ein Ausspielen der Opfergruppen gegeneinander, wie die NS-Schergen es so glänzend beherrschten. Auch jenseits der religiösen Aspekte, jenseits der visuellen Anspielungen auf das neue Testament finden sich interessante Überlegungen darüber, was man seinen Überzeugungen zu opfern bereit ist.
Georg Seeßlen kritisierte jüngst in der »Zeit«, das Interesse der aktuellen Filme zur NS-Zeit gelte den Inszenierungen der Täter eher als den Opfern. Ganz zu schweigen davon, dass Der neunte Tag vor allem den Leiden der Opfer Raum bietet: Über diese Perspektive wissen wir schon viel, den Schrecken, den es fürderhin zu verhindern gilt, kennt man. Aus dem Kino, natürlich, aus Filmen von Schindlers Liste bis Der Pianist. Was vielfach fehlt, ist das Wissen über den Weg dorthin. Was bringt sich für anständig haltende Menschen dazu, sich dem System anzudienen? Den Luxus des Glaubens, die politische extreme Rechte bestände nur aus einigen Banden prügelnder Hohlköpfe, können wir uns heute nicht mehr erlauben, auch nicht als Filmklischee. Und die Grenze zwischen den passiven Duldern und den unbeabsichtigten Schmierern der Schreckensmechanik ist so groß nicht.