18.11.2004
21. Filmfest München 2004

»Es gibt nur einen Gott, der heißt Eisenstein oder wie auch immer...«

DER NEUNTE TAG
Der neunte Tag

Filmen als Drahtseilakt: Regisseur Volker Schlöndorff im Gespräch über seinen Film Der neunte Tag, Bilderverbote im Kino, kleine Budgets, das Loch in seiner Filmographie und die alte Regel, dass man immer soviel wert ist, wie das Boxoffice des letzten Films

Seit fast 40 Jahren gehört Volker Schlön­dorff (65), zu den wich­tigsten und besten deutschen Film­re­gis­seuren. Für die Grass-Verfil­mung Die Blech­trommel gewann er 1980 einen Oscar. Schlön­dorff, der unter anderem Werke von Musil, Böll, Proust und Frisch verfilmt hat, gilt als Spezia­list für Lite­ra­tur­ver­fil­mungen. Auch sein neuer Film, Der neunte Tag, für den Schlön­dorff im Sommer während des Münchner Filmfests den „Bernhard-Wicki-Frie­dens­preis“ erhielt, geht auf eine Vorlage zurück: Die Aufzei­chungen des katho­li­schen Priesters Jean Bernard, die dieser im August 1945 als retro­spek­tives Tagebuch seiner Leiden im KZ geschrieben hat. Hierin erzählt er auch die schier unglaub­liche Geschichte vom Versuch der SS, ihn durch einen neun­tä­gigen „KZ-Urlaub“ zur Kolla­bo­ra­tion zu verführen.
Das Interview wurde von Rüdiger Suchsland und Josef Schnelle am 4. Juli 2004 im Rahmen des Münchener Filmfests geführt.

artechock: Der neunte Tag wird jetzt nicht schon im September starten, wie ursprüng­lich vorge­sehen...

Volker Schlön­dorff: Wir haben keine Kinos bekommen. Deshalb mussten wir verschieben. Der September war ins Auge gefasst, denn ich wollte unbedingt, dass der Film vor Oliver Hirsch­bie­gels und Bernd Eichin­gers Der Untergang laufen wird. Nur wegen Ulrich Matthes. Denn ich wollte, dass ihn die Zuschauer zuerst in dieser Rolle entdecken und dann als Goebbels – nicht dass man sich fragt: Was macht denn Goebbels im KZ? Aber am besten werden die Leute natürlich einfach sehen: Das ist ein toller Schau­spieler. Bei dem Hitler-Film wird man wenig über Goebbels reden und viel über Bruno Ganz als Hitler.

artechock: Die Aufmerk­sam­keit ist schon sehr groß für Der Untergang..

Schlön­dorff: Ich bin selbst wahn­sinnig gespannt auf den Film. Ich finde das ein irrsinnig span­nendes Projekt. Ich glaube, dass es weltweit ein Riesen­er­eignis wird, weil immerhin zum ersten Mal – abgesehen von den 50er Jahren, von Papst... – die Deutschen jetzt selbst mit dem Abstand von 50 Jahren und mit einer neuen Gene­ra­tion das darstellt. Man wird zum ersten Mal Hitler in deutscher Sprache erleben. Auch der Napola-Film von Dennis Gansel inter­es­siert mich natürlich – mein Film Der Unhold ist ja auch ein Werk über die „NAPOLA’s“ gewesen. Also: Ich bin sehr gespannt auf diesen Herbst.

artechock: Es gibt ja auf einmal in Deutsch­land die Tendenz, sich im Kino und Fernsehen ganz stark der Geschichte zuzu­wenden, vor allem der des »Dritten Reichs«... Und das ganz neu und auf eine andere Weise: Rosen­straße, Stauf­fen­berg, bald Napola, Speer und vor allem DER UNTERGANG. Ihr Film kommt fast zeit­gleich mit diesem ins Kino...

Schlön­dorff: Wie das immer so ist: Das ist natürlich ein Zufall. Keiner wusste von den Projekten der anderen. In der Gesell­schaft tauchen Themen immer so schub­weise auf...

artechock: Damit ist es ja offenbar gerade kein Zufall...

Schlön­dorff: Ja. Wer das analy­sieren will, warum das jetzt gerade kommt – das weiß ich auch nicht. Ich wollte selbst einmal einen Hitler-Film drehen, habe dazu gemeinsam mit Horst Wendt­landt recher­chiert, und alle die Filme gesehen und hab' mich wirklich mit der Zeit befasst.
Als ich vom Untergang erfuhr, war ich ganz froh, dass ich den Hitler-Film nicht mehr machen musste. Weil es natürlich unendlich befrie­di­gender ist, sich mit einer positiven Figur zu iden­ti­fi­zieren.

artechock: Gibt es im Kino so etwas, wie Tabus, wie Bilder­ver­bote? Etwas, was man nicht darstellen kann, allen­falls ausspre­chen lassen kann, aber nicht zeigen?

Schlön­dorff: Es gibt kein Gene­ral­verbot. Es hängt immer vom Einzel­fall ab. Aber es gibt in der Darstel­lung natürlich unun­ter­bro­chen Tabus und Grenzen, die der mensch­liche Anstand gebietet. An die halte ich mich natürlich. Beim Drehen muss man ja unun­ter­bro­chen entscheiden: Was zeige ich und was zeige ich nicht? Das ist eine Frage, die man sich beim Drehen stellt, auch mit den Darstel­lern. Und dann sucht man nach einer Lösung, was man gerade noch zeigen kann, und was nicht.
Also: wenn einer im Elek­tro­zaun einen tödlichen Schock bekommt, kann ich das zwar zeigen. Aber ich kann es auch anders erzählen, und zeige am Ende das Ergebnis davon. Oder wenn einer einem mit dem Schür­haken den Schädel spaltet. Das muss jeder Regisseur selbst entscheiden.
Manche finden, dass der Film sehr distan­ziert erzählt ist. Das kommt sicher aus meiner Neigung, manche Dinge mehr zu sugge­rieren, als zu zeigen. Ich selber habe das Gefühl, er ist hautnahe. Und gerade dadurch, dass man bestimmte Sachen ausspart, lässt dies dann eine echte Emotion zu. Denn ich fühle mich nicht senti­mental mani­pu­liert.

artechock: Das Körper­liche geht einem ja nahe: Wirkungs­voller als zehn Leute zu erschießen, ist es im Kino, einen an seinen umge­drehten Armen lebendig aufzu­hängen. Aber genau dieses Senti­men­ta­li­sieren, das Sie anspre­chen, ist ja ein Vorwurf, den man Filmen über histo­ri­sche Zeiten oft macht, nicht nur deutschen. Das Problem ist doch, dass es im Kino scheinbar nur geht, so etwas als ganz persön­liche Geschichte zu erzählen. So ein Altman-artiger Ensemble-Film über die Nazizeit scheint nicht möglich. Es wird immer perso­na­li­siert, und dadurch doch – beim Täter – gleich­zeitig immer vermensch­licht. Also: Er wird vers­tänd­li­cher, indem er eben irgend­wann doch als Mensch zutage tritt.
Bei so einer Figur wie Ihrem Nazi gehen die Probleme schon los. Bei Figuren wie Hitler und Goebbels, die man histo­risch kennt, wird es doch ganz gefähr­lich. Hitler als Mensch – das geht gar nicht, oder?

Schlön­dorff: Na doch. Ich glaube: Nur das geht! Wenn man das aus dem Mensch­li­chen wegrückt, sagt, das sei »unmensch­lich«, besteht ja die Gefahr, dass man es in den Bereich von etwas rückt, was man nicht verstehen kann.
Wenn man so tut, als ob das Böse etwas wäre, was außerhalb vom Menschen ist, dann hilft das ja nicht weiter. Man muss ja gerade zeigen, dass das Böse gar nicht so böse aussieht, wenn man es aus der Nähe anschaut.

artechock: Warum ich auf diese beiden Filme, den Vergleich zwischen Der Untergang und Der neunte Tag gekommen bin, ist, dass sich, hört man nur, worum es geht, ähnliche Gedanken aufdrängen: Das wird schwierig. Wie kann man ein KZ darstellen, ohne dass es peinlich wird, ohne dass es klischiert ist – wie macht man so etwas im Spielfilm glaub­würdig?
Es gelingt Ihnen von Anfang an sehr gut, hervor­ra­gend: Von den ersten Minuten an funk­tio­niert es beein­dru­ckend. Weil sie ja auch wirklich neue Bilder finden, die ich so auch noch nie gesehen habe: Weil Sie unglaub­lich brutal anfangen...

Schlön­dorff: Ich war 16 oder 17, als ich gerade in Frank­reich auf dem Jesui­ten­in­ternat war, und da läuft Nuit et brouil­lard von Alain Resnais – übrigens ein ehema­liger Schüler des Internats, weil er aus dem selben Ort in der Bretagne stammte, deshalb wurde da der Film gezeigt – ich bin also in Frank­reich und der einzige Deutsche in der Schule, und alle drehen sich nach dem Film zu mir um, und fragten: Wie war das möglich? Und auf die Frage suche ich immer noch eine Antwort zu geben.
Für meine Gene­ra­tion war irgendwie immer klar: Man kann in dieser Kulisse keine Spiel­film­hand­lung insze­nieren. Das entzieht sich der Darstel­lung. Aber 40 Jahre später, fast 50, hat es natürlich viele Spiel­filme seitdem gegeben. Da stellt sich gar nicht mehr die Frage, ob man das darf, sondern inzwi­schen heißt es: Man muss das machen. Man darf das Thema nicht den anderen über­lassen.
Denn wir beziehen ja unsere Bilder über diese Zeit nur noch aus Amerika: Der gute Deutsche, Schindler kommt aus Hollywood, aber natürlich haupt­säch­lich der böse Deutsche. Als Zuschauer stehlen wir uns ja meistens praktisch in die Rolle der Opfer; wir iden­ti­fi­zieren uns mit den Opfern des Holocaust und der Nazis, und niemals mit den Tätern. Das zu ändern, war schon mein Ansatz bei Der Unhold.

artechock: Aber auch Der neunte Tag handelt erst einmal von einem Opfer...

Schlön­dorff: In diesem Fall konnte man diese ganzen Tabus vergessen. Der Bericht von diesem Pfarrer ist so nüchtern und so einfach und so ohne große Worte und so unpa­the­tisch und so genau beob­achtet.
Sie wissen viel­leicht: Dieser Pfarrer Jean Bernard hat überlebt, hat im August 1945 das Tagebuch geschrieben, und dann hat er sich dem Film zugewandt, und wurde ja Chef der Katho­li­schen Inter­na­tio­nale Film­of­fices (OCIC). Er hat eigent­lich sein Tagebuch schon mit dem Blick des Filme­ma­chers geschrieben. Das sind nur 60 Seiten, aber die sind eben geballt. Da trifft einen diese Bruta­lität, wie sie sagen, buchs­täb­lich wie ein Schlag ins Gesicht.
Und das beschreibt er, genau wie Primo Levi: Das erste, was man erlebte, wenn man dahin kam, war ein völlig sinnloser Faust­schlag ins Gesicht. Sodass jeder erst mal einge­stimmt wurde, dass einem erst mal klar gemacht wurde: Das ist der Ton, der hier herrscht. Damit wurde sofort jede Art von Aufmüp­fig­keit und von Wider­stand ausge­trieben. Und die Priester wurden auch danach nur unun­ter­bro­chen als »Pries­tersau« betitelt.
Das fand ich dann drama­tur­gisch inter­es­sant: Man fängt an in der Hölle, und wird dann entlassen, als uner­träg­lich wird, nach 12 Minuten, zurück in die Freiheit. Und dann findet sich die Haupt­figur in der Freiheit nicht mehr zurecht; er ist so trau­ma­ti­siert, dass er im normalen Leben nicht mehr zurecht kommt. Das ist ja das Trauma der Über­le­benden, das auch Primo Levi so wunderbar beschrieben hat. Das Levi-Buch wurde mit John Turturro von Francesco Rosi verfilmt. Hier ist es ja nur eine Spanne von neun Tagen.
Dieser Priester ist auch einer, der um seinen Glauben gar kein großes Aufheben macht. Man hat den Eindruck, dass dieser Mensch, sicher sehr gläubig ist, aber im Grunde dasselbe Problem hat, wie ein Atheist: Er weiß genau, was das Richtige ist, aber er weiß nicht, ob er die Kraft hat, es zu tun.

artechock: Die Kreu­zi­gungs­szene im KZ – stammt die aus dem Bericht?

Schlön­dorff: Es sind an einem Karfreitag 60 Priester an diesen zurück­ge­bo­genen Armen aufgehängt worden. Ich dachte, dass es wirkungs­voller sei, nur einen Fall zu zeigen – wieder im Sinne der Reduktion. Sonst wird es zur statis­ti­schen Größe.
Die Kreuze kommen aus Anna Seghers »Das Siebte Kreuz«. Wenn Sie es histo­risch genau wissen wollen: Es soll sogar in den KZ’s richtige Kreu­zungen mit Nägeln gegeben haben. Aber das ging mir zu weit. Darauf haben wir verzichtet. Gott sei dank – ich wusste damals noch nichts von der »Passion Christi«.

artechock: Ist denn die Figur dieses SS-Mannes, des Gegen­spie­lers auch aus dem Tagebuch, oder haben Sie sie hinzu­ge­fügt?

Schlön­dorff: Histo­risch war es so: Bernard wurde, als er nach Luxemburg kam, sofort einver­nommen. Das war aber nur ein halb­stün­diges Gespräch – dann wurde er in Ruhe gelassen.
Die Figur, wie sie jetzt im Film ist, exis­tierte zur Hälfte schon im Drehbuch, wurde aber durch die Besetzung mit August Diehl noch einmal ganz wesent­lich verändert.
Ich wollte den ganz ganz jung besetzen. Da kommt dann der Einfluß des Schau­spie­lers auf die Rolle dazu, und damit auf das Drehbuch und auf den Film. Ich würde schon sagen, dass dieser Film mehr als viele andere, auch viele meiner Filme, von den Schau­spie­lern geprägt ist, denn – da machen wir uns nichts vor – das Drehbuch war schon ein ziem­li­cher Papier­tiger. Ich dachte erst mal, was reden die denn da? Diese endlosen Debatten! Bis ich merkte, Moment einmal: Das sind keine Debatten, dass sind so und so viele Runden eines Kampfes.
Und in der Zusam­men­ar­beit mit den Schau­spie­lern – wir haben zwei Wochen Proben­zeit gehabt –, merkten wir, wie viel man auch mit Blicken und Gesten ausdrü­cken kann. In der ersten Szene der beiden spricht der Pfarrer überhaupt nicht – es fällt einem beim Anschauen des gar nicht auf, aber er sagt buchs­täb­lich kein Wort.
Das ist es, was der Uli Matthes allein schon nur durch sein Aussehen mitbringt. Dieser Toten­schädel! . An dem prallt das natürlich alles ab. Der ist schon so weit weg, in einer anderen Welt.

Aber dann darf diese August-Diehl-Figur auch nicht unsen­sibel sein. Und irgend­wann hatten wir dann die Idee – ich weiß nicht, von welchem der beiden Autoren dann die Idee kam -: Wie wäre es denn, wenn der selbst Priester werden wollte? – Das hat alles nichts mit der Wirk­lich­keit zu tun, das ist schon Fiktion, das ist Drama –; der kommt – typisch für eine Nazi-Karriere – aus dem Klein­bür­gertum, und seine Mutter wäre stolz gewesen, wenn er Priester geworden wäre. Und dann bekommt er durch die Nazis die Möglich­keit, nicht nur Priester zu werden, sondern sogar Offizier zu werden. Er tauscht also den einen Rock gegen den anderen.
Aber es geht in beiden Fällen darum, dass diese »Bewegung« ihre Kraft daraus gezogen hat, dass sie die alten Zöpfe abge­schnitten hat, und dass sie eine Jugend­be­we­gung war, die plötzlich den Leuten aus dem Klein­bür­gertum die Möglich­keit gegeben hat, da aufzu­steigen. Dadurch hat man natürlich eine Dynamik zwischen den beiden Figuren gehabt, die man heute nach­emp­finden kann.
Deshalb wirkt die August-Diehl-Figur so modern: Weil man sich sagt, na ja, jetzt wäre er ein Jung­ma­nager oder ein Jung­banker. Er hat zwar ein Sendungs­be­wusst­sein, aber er benutzt dieses Sendungs­be­wusst­sein gleich­zeitig auch für die eigene Karriere.

artechock: Es sind beides Glau­bens­krieger, kann man sagen...

Schlön­dorff: Ja. Und komi­scher­weise ist der, der den neuen Glauben hat, der fana­ti­schere. Und derjenige, der den alten Glauben hat, eine 2000jährige Geschichte, ist überhaupt nicht fana­ti­siert. Und er will auch überhaupt kein Märtyrer werden. Er drängelt sich ja nicht danach, sondern versucht, einfach, demütig, nach unten orien­tiert zu sein: Ich bin nur ein kleiner Pfarrer. Was wollen Sie denn von mir?

artechock: Er ist schon einer, der alles richtig macht. Der moralisch irgendwie perfekt ist, better than life...

Schlön­dorff: Naja, wir haben natürlich überlegt, ob der anfällig sein soll. Suspense kommt ja daher, dass jemand in Versu­chung geführt wird, der auch verführbar ist. Sonst ist ja keine Spannung da. Deswegen haben wir dem Priester eine Vergan­gen­heit gegeben (die übrigens auch von Primo Levi inspi­riert ist): Er ist schon einmal der Versu­chung erlegen, lieber seine eigene Haut zu retten, als mit einem anderen zu teilen. Deshalb, kann man sagen, hat der Teufel ihn jetzt ausge­sucht: Weil er sich sagt: Der hat schon einen Knacks, da kann ich ansetzen; er ist für die Versu­chung, in die ich ihn jetzt führe, geeignet.

Es gibt ja auch die Episode, in der er einen Schwäche­an­fall hat, und während eines Gesprächs zusam­men­bricht. Und der Nazi weiß inzwi­schen, dass er anfällig gewesen war, und bringt ihm ein Glas Wasser, und sagt: »Trinken Sie nur das Glas Wasser; Sie haben damals ganz richtig gehandelt. Wenn es um Leben und Tod geht, dann muss man erst einmal an sich denken. Denn das Wich­tigste ist doch, dass man sein eigenes Leben rettet. Das haben Sie damals getan, und damit haben Sie recht gehabt. Da dürfen Sie sich keine Schuld zuweisen. Genau, wie Judas das Richtige getan hat, als er Jesus verraten hat.« Und da zögert er einen Moment. Und sagt: »Wenn ich ihnen das Papier unter­schreibe, und so eine Art Mini­kon­kordat für das Ländchen Luxemburg mit ihm abschließe, dann kann ich also die 18 anderen Priester aus dem KZ heraus­holen, und ich kann vor Ort einiges bewirken.« Das ist der Moment, wo man sich sagen könnte – aha, er wird schwach. Aber man weiß: Das passt nicht zu seinem Charakter.

So wenig, wie es zu Gary Cooper passen würde, wenn er in High Noon nicht in die Stadt zurück­fahren würde. Es gibt noch einen anderen Lieb­lings­film von mir mit Gary Cooper: Friendly Persua­sion von William Wyler. Wo Cooper einen Quäker spielt, dem und dessen Familie im Bürger­krieg ganz übel mitge­spielt wird. Der Zuschauer denkt: Er soll doch endlich eine Waffe in die Hand nehmen, und sich vertei­digen. Jeder im Publikum fiebert danach, dass er das endlich tut. Er macht das aber nicht. – ein ganz ganz groß­ar­tiger Film.

Dieser römische Pries­terhut von Matthes sieht dem Hut sehr ähnlich, den der Gary Cooper in dem Film immer trägt – mit Absicht. In dem Sinne war mir ganz klar: Er wird natürlich nie willent­lich klein beigeben. Aber die Frage ist: Wird er die Kraft haben, zurück­zu­gehen?
Und da fand ich es beim Lesen des Drehbuchs drama­tur­gisch einen groß­ar­tigen Gedanken, dass man als Zuschauer im Grunde wünscht, dass er das Falsche tut. Denn wir sind zu feige, mit ihm zurück ins KZ zu gehen. Wir wollen diese Grau­sam­keit nicht noch mal erleben. [Lacht] Man wird hier zum Komplizen des Teufels. [Lacht]

Also: Das ist alles auf einmal nicht mehr Vergan­gen­heits­be­wäl­ti­gung, sondern das ist einfach Drama. Das könnte jetzt ein Drama von Schiller sein. Ein span­nender Zweikampf, dessen Ausgang man nicht kennt. Und mit Spannung kann man die Zuschauer hoffent­lich auch ins Kino locken.

artechock: Mir ist angenehm aufge­fallen, wie bescheiden das ganze Setdesign war: Da wurde nicht dauernd gezeigt: »Hey, wir können uns dies und das und jenes leisten.« Teures Design konnten Sie sich, soweit ich weiß, tatsäch­lich nicht leisten... Kann das ein Vorteil sein, für solche Stoffe weniger Geld zu haben? Weil man sich aufs Wesent­liche konzen­trieren muss?

Schlön­dorff: Es ist doppel­bödig: Natürlich gibt einem das auch Freiheit, zwingt zu radikalen ästhe­ti­schen Entschei­dungen. Wir konnten uns wirklich nicht mehr leisten. Es war schon vor Dreh­be­ginn klar: wir haben keinen Story­boarder. Darum haben wir – der Kame­ra­mann, der Ausstatter und ich – uns Skizzen gemacht. Für das KZ konnten wir nur eine Baracke komplett bauen, von den anderen beiden bauen wir nur die Fassade. Das sah dann wirklich aus, wie im Western: Hinter der Wand war nichts.
Und bei der Auswahl der Einstel­lung haben wir es bewusst alles in Groß­auf­nahme erzählt. Weil es auch die Wahr­neh­mung eines geschwächten Menschen ist. Wenn er in einer Kolonne marschiert, dann macht man nicht gleich­zeitig eine Kranfahrt, sondern zeigt nur die Hacken von dem, der vor ihm geht. Das ist alles schon so richtig gewesen.

Aber ich muss schon sagen: Ein Drehtag hat mir sehr gefehlt! Es gibt eine Sequenz – da will ich jetzt meine Karten nicht aufdecken – für die hatte ich nur zwei Stunden Zeit. Und ich hätte eigent­lich einen Tag dafür gebraucht. Ich weiß: es hätte noch einen Unter­schied gemacht. Hinzu kommt die Tatsache, dass alle Betei­ligten, insbe­son­dere auch die tsche­chi­schen Komparsen, schon unter KZ-ähnlichen Bedin­gungen arbeiten mussten – das war schon an der Grenze. Also ich möchte das nicht zur Regel machen.

Aber es zwingt natürlich auch zum Einfall. Wir hatten für die Innen­auf­nahmen nur eine halbe Baracke. Und wenn es Schuss-Gegen­schuss war, ging es in Wirk­lich­keit immer in die gleiche Richtung. Das wurde dann über Nacht umgebaut.
Dann kam der Gegen­schuss. Norma­ler­weise dreht man da die Kamera um, wir stellten die Möbel um. Die Haupt­ar­beit war aber wirklich die mit den Schau­spie­lern. Wir haben über die Gesichter erzählt.

artechock: Manche, etwas die für Kultur zustän­dige Staats­mi­nis­terin, sprechen davon, dem deutschen Film gehe es so gut, wie lange nicht. Teilen Sie diese Ansicht? Haben Sie den Eindruck, dass die Bedin­gungen, unter denen man in Deutsch­land Filme dreht, grund­sätz­lich besser werden? Dass sich da wirklich was tut? Dass man in Deutsch­land auf eine bessere Weise Filme machen kann, dass sowohl für Industrie, die man braucht, als auch für den kleineren Autoren­film der Raum da ist?

Schlön­dorff: Ich glaube, dass ein Umdenken einge­setzt hat. Dass man sich auf einmal wieder zum Kinofilm bekennt. Wenn man Film will, dann kann man auch Film machen. Es war ja lange so, dass auch die Film­stu­denten, die man so kennen­lernt, nicht Eiligeres zu tun hatten, als ihren ersten »Tatort« zu drehen. Und wenn man da einmal drin ist, kommt man schwer wieder raus – es hat ja eine gewisse Sicher­heit, fürs Fernsehen zu arbeiten.

Film ist immer ein Draht­seilakt: Man kann abstürzen, und wer weiß, ob man dann wieder aufsteht. Es ist ein Beruf ohne Netz. Dass sehe ich ja an mir selber: ich muss mich ja auch jedes Mal wieder neu erfinden, von Film zu Film. Es ist die alte Regel: Man ist soviel wert, wie das Boxoffice des vorjäh­rigen Films.
Da können Sie mit Prestige allein gar nichts machen – wie viel tolle Regis­seure gibt es, die die letzten 10, 15 Jahre ihrer Karriere nicht mehr gear­beitet haben, obwohl sie noch die Kraft dazu gehabt hätten?

Film ist Risiko, nicht nur für die Produ­zenten, sondern auch für die Regis­seure. Aber ich habe das Gefühl, in den letzten Jahren gibt es wieder dieses Bekenntnis zu sagen: Nein ich will wieder einen Kinofilm machen. Und das genügt schon beinahe. Wo ein Wille ist, findet sich dann auch ein Weg.

artechock: Bei den Machern sehe ich das auch. Aber gibt es auch bei den Leuten, die das ermög­li­chen, also bei Produ­zenten und Fern­seh­re­dak­teuren, ein Vers­tändnis für das, was wirklich Kino ist, was es auch vom Kino unter­scheidet? Auch beim Publikum?

Schlön­dorff: Das ist natürlich sehr heikel. In allen Kommis­sionen sind jetzt sehr stark Fern­seh­ver­treter drin, und die wollen, das Produkt, was da gefördert wird, „prime­time­fähig“ ist. Aber „prime­time­fähig“ und kinofähig sind zwei verschie­dene Kriterien. Viele Filme, die im Kino erfolg­reich sind, könnte man so zur Haupt­sen­de­zeit nicht senden, jeden­falls nicht so, wie das Fernsehen sich entwi­ckelt hat. Vor 25 Jahren konnte man das, als Günther Rohrbach Chef beim WDR war, und als es noch keine Privat­sender gab. Das sind Filme, die entweder ästhe­ti­sche Ansprüche stellen, die vom allge­meinen Prime­time­ge­schmack des TV-Publikums zu weit weg sind. Das können aber auch Filme sein, die zu hart sind auf irgend­eine Art und Weise.

Kino ist halt immer irgendwie Inno­va­tion. Und Fernsehen setzt auf das, was die Leute schon kennen. Und deshalb ist da einfach etwas Unüber­brück­bares. Das müssen die sich klar machen in den verschie­denen Förder­instanzen und Gremien. Wenn sie Kino wollen, dann müssen sie auch das Risiko eingehen, hier nicht nach Fern­seh­kri­te­rien zu urteilen. Das kann man nicht mit Richt­li­nien und FFG-Kriterien beschließen. Das ist ein Bekenntnis in sich. Und ich habe das Gefühl, das auch die Gründung der Film­aka­demie dazu beiträgt, klar zu unter­scheiden zwischen einem Kinofilm und einem TV-Film.

artechock: Ich wollte auf die Film­aka­demie kommen und nicht über den Filmpreis reden, sondern eher darüber: Was kann so ein Zusam­men­schluss wirklich leisten? Es kann ja nicht Aufgabe einer Film­aka­demie sein, dass da Jost Vacano 'mal ein öffent­li­ches Kame­ra­se­minar gibt?

Schlön­dorff: Nein, nein – ich glaube auch, dass zuviel Außen­ak­ti­vi­täten falsch sind, das haben wir ja bei der letzten Mitglie­der­ver­samm­lung disku­tiert. Da verhebt man sich schnell, wenn man sagt: wir wollen jetzt in allen deutschen Städten so ein Brim­bo­rium machen.
Nein, das ist schon mal ganz wichtig, dass es so eine Insti­tu­tion überhaupt gibt: Viele in der Branche kennen sich gar nicht, die lernen sich schon mal unter­ein­ander kennen. Dass sie klar arti­ku­lieren – und das hat mich schon ziemlich über­rascht –, wie die alle geradezu gegen das Fernsehen wettern und sich eine Kino­land­schaft wünschen, in der sie arbeiten können. Das ist schon ziemlich neu. Und das kam nicht nur von uns Alten, sondern oft von Jungen und von Außen­sei­tern. Das ist schon eine Gemein­sam­keit. Und das wirkt dann zurück auch in die Kommis­sionen und in die Entschei­dungen. Insofern habe ich da schon Hoffnung.

artechock: Sie haben ja erlebt, wie unser Film­för­der­system entstanden ist. Als Sie anfingen, war da nichts. Jetzt ist da ein Wust von Förder­insti­tu­tionen, eigent­lich ein Dschungel. Hat das noch etwas mit diesem Aufbruch zu tun, mit dem, was da gewollt war? In der Ober­hau­sener Erklärung...?

Schlön­dorff: Naja, gott­sei­dank verselb­stän­digen sich die Sachen auch. Das ist ja alles heute gar nicht mehr vergleichbar: Das war eine Zeit, wo es praktisch gar kein Fernsehen gab; dann war da die Zeit, wo es nur das öffent­lich-recht­liche gab, und inzwi­schen ist es wieder ein anderes. Aber bevor wir uns umgedreht haben, wird es überhaupt nicht mehr über das Fernsehen gehen, sondern über DVD und »Filme on demand«, die man runter­laden kann. Das ist ja alles in einem perma­nenten Wechsel.

Ich finde schon, dass alles über­flüssig föde­ra­li­siert ist. Dieser Konkur­renz­kampf der Regionen unter­ein­ander ist bei der Produk­tion oft unsinnig – dieser Wander­zirkus, zu dem das einen zwingt.

Aber auch in der Studio­ent­wick­lung: Ein Studio war gewachsen und das liegt zum Schluß schließ­lich brach, obwohl man hunderte von Millionen inves­tiert hat – sprich Babels­berg – weil man in Köln auf Teufel komm raus Studios gebaut hat, wo es gar keine gab, und wohin man noch die Mitar­beiter einfliegen musste. Und die waren eine Zeit lang gut ausge­lastet, solange die Produk­ti­ons­för­de­rung das bezahlt hat. Und jetzt tritt genau ein, was ich vor zehn, zwölf Jahren vorher­ge­sagt habe: Die Produk­ti­ons­för­de­rung nimmt ab in der Region und die Studios stehen auf einmal alle leer.
Aber da wo etwas gewachsen war, hat man das zerstört. Und an dem neuen Ort ist nichts Dauer­haftes entstanden. Das ist natürlich eigent­lich unsinnig. Aber mein Gott – in der Wirt­schaft gibt es irrsinnig viele Fehl­ent­wick­lungen, das ist wie im Fall der Multi­plexe.

Ich hab' eine Überdosis an diesen ganzen Wirt­schafts­aspekten während der Zeit in Babels­berg abbe­kommen, und will überhaupt nichts mehr davon wissen. Ich will auch nicht mehr selbst produ­zieren; ich will nur noch insze­nieren und schreiben.

artechock: Sie waren lange Chef von Babels­berg – beob­achten Sie, was da heute passiert – Ausver­kauf, neue Besitzer –, noch mit großer Anteil­nahme?

Schlön­dorff: Naja, dadurch dass ich da 500 Meter entfernt mein Haus habe, und natürlich gerne mal in dem Studio arbeiten möchte, was ich gebaut habe, bekomme ich viel mit. Statt­dessen muss ich bei Der neunte Tag nach Prag fahren für das Lager, nach München für die Innen­szenen.

Ich bin überzeugt: In vier, fünf Jahren werden sich die Preis­un­ter­schiede zwischen Osteuropa und uns einge­pe­gelt haben. Dann hat das Studio wirklich eine Zukunft. Wenn wir denn überhaupt in Deutsch­land weiter Filme produ­zieren wollen.

Ich habe gar nichts gegen die Leute von Studio Hamburg [die sich im Juli für den Kauf von Babels­berg inter­es­sierten; d. red.]. Aber die werden natürlich nie inter­na­tio­nale Film­pro­duk­tionen machen. Dürfen die gar nicht, das ist Ihnen nicht erlaubt mit Gebüh­ren­gel­dern. Das ist ja eine hundert­pro­zen­tige ARD-Tochter. Deshalb wäre es schade, wenn jetzt kurz bevor diese Hoffnung sich erfüllt, das Studio endgültig zum TV-Studio würde.

Aber ich kann das auch nur mit Abstand betrachten. Mein Gott, ich habe da so viel Jahre rein­in­ves­tiert, und ich habe gelernt: Mit Gewalt kann man das nicht erzwingen. Und ich leg meine Energie jetzt lieber in Filme, als da rein.
Ich sag' ja nicht, dass das ein Fehler war, überhaupt dahin zu gehen. Aber ich weiß eben doch, dass mir jetzt fünf, sechs Jahre in meiner Filmo­gra­phie fehlen. Dass da auf einmal ein Loch ist, wo ich sonst mit schöner Regel­mäßig­keit 40 Jahre meine Eier gelegt habe. Und jetzt geht es mir lieber darum, da die verlorene Zeit einzu­holen, als mich da noch weiter rein­zu­schmeißen.

artechock: Vers­tänd­lich. Wir müssen trotzdem etwas mehr über die Lage des deutschen Films und die Verän­de­rungen der letzten 40 Jahre reden. Heute gibt es fünf oder sechs Film­hoch­schulen in Deutsch­land...

Schlön­dorff: Fünf oder sechs? 12 oder 18! [lacht]

artechock: ...da kommen aus jeder pro Jahr 20 bis 30 Film­re­gis­seure raus... Das sind dann also 150 im Jahr, das sind in zehn Jahren 1500 Film­re­gis­seure. Ist das... Geht das eigent­lich so?

Schlön­dorff: Ich weiß nicht, wie die Statistik sich bei Juristen und Ärzten verhält, und wie viele Profes­soren Sauer­bruch da am Schluss dann übrig bleiben.
Die meisten dieser Schulen sind wirklich sehr sehr gut. Viele Absol­venten arbeiten aber danach ja in ganz anderen Gebieten und sind nicht wirklich Regis­seure. Die haben auf jeden Fall dort eine tolle Ausbil­dung bekommen und viel viel über Film gelernt. Meiner Meinung nach kann ein Regisseur sowieso nur entweder als Auto­di­dakt entstehen, wie Fass­binder oder Tom Tykwer, weil er ein Beses­sener ist. Oder er muss auf jeden Fall über die Produk­ti­ons­praxis gegangen sein als Regie­as­sis­tent oder irgend­etwas.

Aus der Schule kommt in den seltensten Fällen ein fertiger Regisseur. Das sage ich den Studenten immer: Glaubt auf gar keinen Fall, was man Euch hier einredet. Dass ihr einen Abschluss­film macht, womöglich noch mit Geld vom Fernsehen, der gleich sende­fähig sein muss, und danach seid ihr dann Regisseur.

Denn was passiert: sie machen diesen Film, aber schon beim zweiten oder dritten ist die Karriere beendet. Deshalb rate ich immer: Tut Euch das nicht an. Arbeitet auf jeden Fall zwei drei Jahre in der Produk­tion als Assistent, als Aufnah­me­leiter oder was auch immer. Das ist nun mal ein Beruf, den kann man nur am Beispiel von anderen lernen. Das kann keine Hoch­schule leisten.

artechock: Wo beob­achten Sie denn diese neuen Filme­ma­cher?

Schlön­dorff: Naja, auf jeder Produk­tion nehme ich Film­stu­denten als Volontäre mit. Manche werden dann fast Adop­tiv­kinder. Es sind aber auch immer welche, die sich einfach melden; die waren nur Produk­ti­ons­fahrer oder so. Und die stellen sich am Set dann oft viel besser an, als die Studenten. Das sind die Auto­di­dakten. Das ist ein Beruf, den kann man als Auto­di­dakt lernen. Nehmen Sie Quentin Tarantino: Da ist die Beses­sen­heit immer noch wichtiger, als die Ausbil­dung. Wenn beides zusammen kommt, ist es natürlich perfekt.

artechock:Was man ja leider bemerken kann, ist dass bei uns Filme­ma­cher unglaub­lich lange brauchen, um einen Film zu machen. Wenn man wie manche Fern­seh­leute oder die Regis­seure in Hongkong jedes Jahr einen Film macht, bekommt man Routine. Da sind sicher ein paar schlechte dabei, aber auch ein paar gute.

Schlön­dorff: Naja aber da kann man sich eigent­lich bei uns nicht beklagen. Ich bin über­rascht, wie regel­mäßig dann diese neuen Regis­seure arbeiten. Weil es durch die Vielfalt von Film- und TV-Produk­tionen die Möglich­keit gibt, hin und her zu gehen. Ich glaub, da geht es diesen insgesamt viel viel besser, als in den meisten anderen Ländern. An unserem System muss man nicht viel refor­mieren.

Das ist mehr eine Frage der Haltung. Wirklich Filme machen... Als wir da anfingen, war es so, als ob man in eine Bruder­schaft eintritt: Man schwört allem anderen ab; es gibt nur einen Gott, der heißt Eisen­stein oder wie auch immer. Dem muss man nach­ei­fern. Die ganze Film­ge­schichte blickt einem über die Schultern oder liefert die Maßstäbe. Da muss man versuchen, mit drin sein. Und außerdem geht es noch um die Gesell­schaft, in der man lebt.
Es ist schon ein verdammt umfas­sender und toller Beruf, wenn man das so sieht. Zur Karriere eignet der sich eigent­lich nicht so. Dann soll man lieber in die Werbung gehen.

artechock: Gilt das heute noch genauso? Wissen die Film­stu­denten heute noch, wer Eisen­stein ist? Gerade an den Hoch­schulen gibt es Studenten, die gerade Ihre Gene­ra­tion – den Neuen Deutschen Film – ganz bewusst nicht gesehen haben, weil sie sagen: Die waren nicht erfolg­reich – nach dem, was man so Erfolg nennt...

Schlön­dorff: Ja, aber das ist ganz einfach: Natürlich lernen die auch ein bisschen Film­ge­schichte, sehen Schwarz­weiß­filme; verhält­nis­mäßig weniger. Viel viel weniger als unser­einer, der hunderte oder tausende gesehen hat. Ich hab mal 'ne Liste gemacht, nach der ich etwa 2000 Schwarz­weiß­filme von vor meiner Zeit gesehen habe.

Aber man muss dazu sagen: Nehmen wir mal 1960 als Stich­datum bei mir. Seitdem sind doppelt so viele Filme entstanden, als zu der Zeit, als ich anfing. Wir waren viel­leicht die letzte Gene­ra­tion, die sagen konnte: Seit der Erfindung des Kinos bis heute hab ich eigent­lich alles gesehen, was relevant ist. Aber irgend­wann hört das eben auf. Kein Maler kann behaupten, seit der Renais­sance habe er alles gesehen...

Und durch die Technik, die digitale Aufnah­me­technik, verändert sich ja auch die Film­sprache. Also ich glaube, man muss nicht alles kennen. Auf die Musik über­tragen: Es kann auch einer heute ein guter Komponist werden, wenn er nie Monte­verdi gehört hat, oder eine Barock­oper.

artechock: Die Musik ist ein gutes Beispiel: Sie haben eben zwei Stich­worte genannt: Bruder­schaft und Branche. Das ist genau die Frage: Bei der Musik haben wir die Pop-Industrie, aber wir haben auch die Inde­pen­dent-Labels. Und das sind die Inno­va­tiven, die auch die Industrie voran­bringen. Und bei der Musik kapiert auch die Industrie, dass sie die Inde­pend­ents braucht – um gute Industrie zu sein...

Schlön­dorff: So war das auch mal beim Kino.

artechock: Genau! Und so ist das doch heute nicht! Gerade die Film­aka­demie: Da redet man von der Branche, immer wieder »die Branche« – Ich weiß nicht, warum das so heißen muss –, aber von der Bruder­schaft oder etwas Vergleich­barem redet keiner.

Schlön­dorff: Aber das war ja damals unser Aufstand. Und da habe ich das Gefühl, dass der sich wieder formiert.
Man muss begreifen, dass nur dauerndes Neuer­finden – was Sie sagen mit den Inde­pend­ents – das Kino weiter­bringen kann. Jahrelang haben wir in Deutsch­land versucht, ameri­ka­ni­sches Genrekino zu imitieren – das ist ein absoluter Holzweg gewesen.

Neun Zehntel der TV-Produk­tion ist aber Imitation von ameri­ka­ni­schem Genrekino. Und da funk­tio­niert das sehr gut: Jeder „Tatort“ und jeder „Kommissar“ wie so ein halber Film Noir. Die ganze Herz-Schmerz-Produk­tion ist ja nichts anderes, als der deutsche Heimat­film der 50er Jahre auf TV-Format. Das kann für Kino alles kein Vorbild sein.

Es gibt aber einige große Firmen, die ja in Deutsch­land fast das Monopol dieser TV-Produk­tion haben. Und die wären gut beraten, wenn sie einen Teil ihres Gewinns auf Risiko in Film­pro­duk­tion setzen, und jetzt aber nicht versuchen, die selben Routi­ne­sche­mata vom Fernsehen aufs Kino anzu­wenden – mit »Plot« und »Subplot« und dem ganzen Shit. Sondern einfach zu sagen: Hier hat einer ein Tempe­ra­ment. Das sieht man einfach jemandem an. Wenn da ein junger Regisseur kommt, und seinen Stoff pitched – dann hört der Produzent ja nicht zu, was für ne Story der erzählt, sondern achtet darauf, ob der irgendein Feuer ausstrahlt. Wenn der 'ne Energie verstrahlt, dann kann er auch einen Film machen. Aber wenn der Regisseur schon keine Energie ausstrahlt, dann hat der Stoff wahr­schein­lich auch keine.

Das war jetzt das Wort zum Sonntag – aber ich muß gehen. … Aber das ändert sich schon. Ich habe jetzt ein paar Gute aus der Film­hoch­schule, die sind wahn­sinnig leiden­schaft­lich und gucken gar nicht in die Richtung.