21. Filmfest München 2004
»Es gibt nur einen Gott, der heißt Eisenstein oder wie auch immer...« |
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Der neunte Tag |
Seit fast 40 Jahren gehört Volker Schlöndorff (65), zu den wichtigsten und besten deutschen Filmregisseuren. Für die Grass-Verfilmung Die Blechtrommel gewann er 1980 einen Oscar. Schlöndorff, der unter anderem Werke von Musil, Böll, Proust und Frisch verfilmt hat, gilt als Spezialist für Literaturverfilmungen. Auch sein neuer Film, Der neunte Tag, für den Schlöndorff im Sommer während des Münchner Filmfests den „Bernhard-Wicki-Friedenspreis“ erhielt, geht auf eine Vorlage zurück: Die Aufzeichungen des katholischen Priesters Jean Bernard, die dieser im August 1945 als retrospektives Tagebuch seiner Leiden im KZ geschrieben hat. Hierin erzählt er auch die schier unglaubliche Geschichte vom Versuch der SS, ihn
durch einen neuntägigen „KZ-Urlaub“ zur Kollaboration zu verführen.
Das Interview wurde von Rüdiger Suchsland und Josef Schnelle am 4. Juli 2004 im Rahmen des Münchener Filmfests geführt.
artechock: Der neunte Tag wird jetzt nicht schon im September starten, wie ursprünglich vorgesehen...
Volker Schlöndorff: Wir haben keine Kinos bekommen. Deshalb mussten wir verschieben. Der September war ins Auge gefasst, denn ich wollte unbedingt, dass der Film vor Oliver Hirschbiegels und Bernd Eichingers Der Untergang laufen wird. Nur wegen Ulrich Matthes. Denn ich wollte, dass ihn die Zuschauer zuerst in dieser Rolle entdecken und dann als Goebbels – nicht dass man sich fragt: Was macht denn Goebbels im KZ? Aber am besten werden die Leute natürlich einfach sehen: Das ist ein toller Schauspieler. Bei dem Hitler-Film wird man wenig über Goebbels reden und viel über Bruno Ganz als Hitler.
artechock: Die Aufmerksamkeit ist schon sehr groß für Der Untergang..
Schlöndorff: Ich bin selbst wahnsinnig gespannt auf den Film. Ich finde das ein irrsinnig spannendes Projekt. Ich glaube, dass es weltweit ein Riesenereignis wird, weil immerhin zum ersten Mal – abgesehen von den 50er Jahren, von Papst... – die Deutschen jetzt selbst mit dem Abstand von 50 Jahren und mit einer neuen Generation das darstellt. Man wird zum ersten Mal Hitler in deutscher Sprache erleben. Auch der Napola-Film von Dennis Gansel interessiert mich natürlich – mein Film Der Unhold ist ja auch ein Werk über die „NAPOLA’s“ gewesen. Also: Ich bin sehr gespannt auf diesen Herbst.
artechock: Es gibt ja auf einmal in Deutschland die Tendenz, sich im Kino und Fernsehen ganz stark der Geschichte zuzuwenden, vor allem der des »Dritten Reichs«... Und das ganz neu und auf eine andere Weise: Rosenstraße, Stauffenberg, bald Napola, Speer und vor allem DER UNTERGANG. Ihr Film kommt fast zeitgleich mit diesem ins Kino...
Schlöndorff: Wie das immer so ist: Das ist natürlich ein Zufall. Keiner wusste von den Projekten der anderen. In der Gesellschaft tauchen Themen immer so schubweise auf...
artechock: Damit ist es ja offenbar gerade kein Zufall...
Schlöndorff: Ja. Wer das analysieren will, warum das jetzt gerade kommt – das weiß ich auch nicht. Ich wollte selbst einmal einen Hitler-Film drehen, habe dazu gemeinsam mit Horst Wendtlandt recherchiert, und alle die Filme gesehen und hab' mich wirklich mit der Zeit befasst.
Als ich vom Untergang erfuhr, war ich ganz froh, dass ich den
Hitler-Film nicht mehr machen musste. Weil es natürlich unendlich befriedigender ist, sich mit einer positiven Figur zu identifizieren.
artechock: Gibt es im Kino so etwas, wie Tabus, wie Bilderverbote? Etwas, was man nicht darstellen kann, allenfalls aussprechen lassen kann, aber nicht zeigen?
Schlöndorff: Es gibt kein Generalverbot. Es hängt immer vom Einzelfall ab. Aber es gibt in der Darstellung natürlich ununterbrochen Tabus und Grenzen, die der menschliche Anstand gebietet. An die halte ich mich natürlich. Beim Drehen muss man ja ununterbrochen entscheiden: Was zeige ich und was zeige ich nicht? Das ist eine Frage, die man sich beim Drehen stellt, auch mit den Darstellern. Und dann sucht man nach einer Lösung, was man
gerade noch zeigen kann, und was nicht.
Also: wenn einer im Elektrozaun einen tödlichen Schock bekommt, kann ich das zwar zeigen. Aber ich kann es auch anders erzählen, und zeige am Ende das Ergebnis davon. Oder wenn einer einem mit dem Schürhaken den Schädel spaltet. Das muss jeder Regisseur selbst entscheiden.
Manche finden, dass der Film sehr distanziert erzählt ist. Das kommt sicher aus meiner Neigung, manche Dinge mehr zu suggerieren, als zu zeigen. Ich selber habe das Gefühl,
er ist hautnahe. Und gerade dadurch, dass man bestimmte Sachen ausspart, lässt dies dann eine echte Emotion zu. Denn ich fühle mich nicht sentimental manipuliert.
artechock: Das Körperliche geht einem ja nahe: Wirkungsvoller als zehn Leute zu erschießen, ist es im Kino, einen an seinen umgedrehten Armen lebendig aufzuhängen. Aber genau dieses Sentimentalisieren, das Sie ansprechen, ist ja ein Vorwurf, den man Filmen über historische Zeiten oft macht, nicht nur deutschen. Das Problem ist doch, dass es im Kino scheinbar nur geht, so etwas als ganz persönliche Geschichte zu erzählen. So ein Altman-artiger Ensemble-Film über die Nazizeit scheint nicht möglich. Es wird immer personalisiert, und dadurch doch – beim Täter – gleichzeitig immer vermenschlicht. Also: Er wird verständlicher, indem er eben irgendwann doch als Mensch zutage tritt.
Bei so einer Figur wie Ihrem Nazi gehen die Probleme schon los. Bei Figuren wie Hitler und Goebbels, die man historisch kennt, wird es doch ganz gefährlich. Hitler als Mensch – das geht gar nicht, oder?
Schlöndorff: Na doch. Ich glaube: Nur das geht! Wenn man das aus dem Menschlichen wegrückt, sagt, das sei »unmenschlich«, besteht ja die Gefahr, dass man es in den Bereich von etwas rückt, was man nicht verstehen kann.
Wenn man so tut, als ob das Böse etwas wäre, was außerhalb vom Menschen ist, dann hilft das ja nicht weiter. Man muss ja gerade zeigen, dass das Böse gar nicht so böse aussieht, wenn man es aus der Nähe anschaut.
artechock: Warum ich auf diese beiden Filme, den Vergleich zwischen Der Untergang und Der neunte Tag gekommen bin, ist, dass sich, hört man nur, worum es geht, ähnliche Gedanken aufdrängen: Das wird schwierig. Wie kann man ein KZ darstellen, ohne dass es peinlich wird, ohne dass es klischiert ist – wie macht man so etwas im Spielfilm glaubwürdig?
Es gelingt Ihnen von Anfang an sehr gut, hervorragend: Von den ersten Minuten an funktioniert es beeindruckend. Weil sie ja auch wirklich neue Bilder finden, die ich so auch noch nie gesehen habe: Weil Sie unglaublich brutal anfangen...
Schlöndorff: Ich war 16 oder 17, als ich gerade in Frankreich auf dem Jesuiteninternat war, und da läuft Nuit et brouillard von Alain Resnais – übrigens ein ehemaliger Schüler des Internats, weil er aus dem selben Ort in der Bretagne stammte, deshalb wurde da der Film gezeigt – ich bin also in Frankreich und der einzige Deutsche in der
Schule, und alle drehen sich nach dem Film zu mir um, und fragten: Wie war das möglich? Und auf die Frage suche ich immer noch eine Antwort zu geben.
Für meine Generation war irgendwie immer klar: Man kann in dieser Kulisse keine Spielfilmhandlung inszenieren. Das entzieht sich der Darstellung. Aber 40 Jahre später, fast 50, hat es natürlich viele Spielfilme seitdem gegeben. Da stellt sich gar nicht mehr die Frage, ob man das darf, sondern inzwischen heißt es: Man muss das machen.
Man darf das Thema nicht den anderen überlassen.
Denn wir beziehen ja unsere Bilder über diese Zeit nur noch aus Amerika: Der gute Deutsche, Schindler kommt aus Hollywood, aber natürlich hauptsächlich der böse Deutsche. Als Zuschauer stehlen wir uns ja meistens praktisch in die Rolle der Opfer; wir identifizieren uns mit den Opfern des Holocaust und der Nazis, und niemals mit den Tätern. Das zu ändern, war schon mein Ansatz bei Der Unhold.
artechock: Aber auch Der neunte Tag handelt erst einmal von einem Opfer...
Schlöndorff: In diesem Fall konnte man diese ganzen Tabus vergessen. Der Bericht von diesem Pfarrer ist so nüchtern und so einfach und so ohne große Worte und so unpathetisch und so genau beobachtet.
Sie wissen vielleicht: Dieser Pfarrer Jean Bernard hat überlebt, hat im August 1945 das Tagebuch geschrieben, und dann hat er sich dem Film zugewandt, und wurde ja Chef der Katholischen Internationale Filmoffices (OCIC). Er hat
eigentlich sein Tagebuch schon mit dem Blick des Filmemachers geschrieben. Das sind nur 60 Seiten, aber die sind eben geballt. Da trifft einen diese Brutalität, wie sie sagen, buchstäblich wie ein Schlag ins Gesicht.
Und das beschreibt er, genau wie Primo Levi: Das erste, was man erlebte, wenn man dahin kam, war ein völlig sinnloser Faustschlag ins Gesicht. Sodass jeder erst mal eingestimmt wurde, dass einem erst mal klar gemacht wurde: Das ist der Ton, der hier herrscht. Damit wurde
sofort jede Art von Aufmüpfigkeit und von Widerstand ausgetrieben. Und die Priester wurden auch danach nur ununterbrochen als »Priestersau« betitelt.
Das fand ich dann dramaturgisch interessant: Man fängt an in der Hölle, und wird dann entlassen, als unerträglich wird, nach 12 Minuten, zurück in die Freiheit. Und dann findet sich die Hauptfigur in der Freiheit nicht mehr zurecht; er ist so traumatisiert, dass er im normalen Leben nicht mehr zurecht kommt. Das ist ja das
Trauma der Überlebenden, das auch Primo Levi so wunderbar beschrieben hat. Das Levi-Buch wurde mit John Turturro von Francesco Rosi verfilmt. Hier ist es ja nur eine Spanne von neun Tagen.
Dieser Priester ist auch einer, der um seinen Glauben gar kein großes Aufheben macht. Man hat den Eindruck, dass dieser Mensch, sicher sehr gläubig ist, aber im Grunde dasselbe Problem hat, wie ein Atheist: Er weiß genau, was das Richtige ist, aber er weiß nicht, ob er die Kraft hat, es zu tun.
artechock: Die Kreuzigungsszene im KZ – stammt die aus dem Bericht?
Schlöndorff: Es sind an einem Karfreitag 60 Priester an diesen zurückgebogenen Armen aufgehängt worden. Ich dachte, dass es wirkungsvoller sei, nur einen Fall zu zeigen – wieder im Sinne der Reduktion. Sonst wird es zur statistischen Größe.
Die Kreuze kommen aus Anna Seghers »Das Siebte Kreuz«. Wenn Sie es historisch genau wissen wollen: Es soll sogar in den KZ’s richtige Kreuzungen mit Nägeln gegeben haben. Aber das ging
mir zu weit. Darauf haben wir verzichtet. Gott sei dank – ich wusste damals noch nichts von der »Passion Christi«.
artechock: Ist denn die Figur dieses SS-Mannes, des Gegenspielers auch aus dem Tagebuch, oder haben Sie sie hinzugefügt?
Schlöndorff: Historisch war es so: Bernard wurde, als er nach Luxemburg kam, sofort einvernommen. Das war aber nur ein halbstündiges Gespräch – dann wurde er in Ruhe gelassen.
Die Figur, wie sie jetzt im Film ist, existierte zur Hälfte schon im Drehbuch, wurde aber durch die Besetzung mit August Diehl noch einmal ganz wesentlich verändert.
Ich wollte den ganz ganz jung besetzen. Da kommt dann der Einfluß des Schauspielers auf
die Rolle dazu, und damit auf das Drehbuch und auf den Film. Ich würde schon sagen, dass dieser Film mehr als viele andere, auch viele meiner Filme, von den Schauspielern geprägt ist, denn – da machen wir uns nichts vor – das Drehbuch war schon ein ziemlicher Papiertiger. Ich dachte erst mal, was reden die denn da? Diese endlosen Debatten! Bis ich merkte, Moment einmal: Das sind keine Debatten, dass sind so und so viele Runden eines Kampfes.
Und in der Zusammenarbeit mit
den Schauspielern – wir haben zwei Wochen Probenzeit gehabt –, merkten wir, wie viel man auch mit Blicken und Gesten ausdrücken kann. In der ersten Szene der beiden spricht der Pfarrer überhaupt nicht – es fällt einem beim Anschauen des gar nicht auf, aber er sagt buchstäblich kein Wort.
Das ist es, was der Uli Matthes allein schon nur durch sein Aussehen mitbringt. Dieser Totenschädel! . An dem prallt das natürlich alles ab. Der ist schon so weit weg, in einer
anderen Welt.
Aber dann darf diese August-Diehl-Figur auch nicht unsensibel sein. Und irgendwann hatten wir dann die Idee – ich weiß nicht, von welchem der beiden Autoren dann die Idee kam -: Wie wäre es denn, wenn der selbst Priester werden wollte? – Das hat alles nichts mit der Wirklichkeit zu tun, das ist schon Fiktion, das ist Drama –; der kommt – typisch für eine Nazi-Karriere – aus dem Kleinbürgertum, und seine Mutter wäre stolz gewesen, wenn er
Priester geworden wäre. Und dann bekommt er durch die Nazis die Möglichkeit, nicht nur Priester zu werden, sondern sogar Offizier zu werden. Er tauscht also den einen Rock gegen den anderen.
Aber es geht in beiden Fällen darum, dass diese »Bewegung« ihre Kraft daraus gezogen hat, dass sie die alten Zöpfe abgeschnitten hat, und dass sie eine Jugendbewegung war, die plötzlich den Leuten aus dem Kleinbürgertum die Möglichkeit gegeben hat, da aufzusteigen. Dadurch hat man natürlich eine
Dynamik zwischen den beiden Figuren gehabt, die man heute nachempfinden kann.
Deshalb wirkt die August-Diehl-Figur so modern: Weil man sich sagt, na ja, jetzt wäre er ein Jungmanager oder ein Jungbanker. Er hat zwar ein Sendungsbewusstsein, aber er benutzt dieses Sendungsbewusstsein gleichzeitig auch für die eigene Karriere.
artechock: Es sind beides Glaubenskrieger, kann man sagen...
Schlöndorff: Ja. Und komischerweise ist der, der den neuen Glauben hat, der fanatischere. Und derjenige, der den alten Glauben hat, eine 2000jährige Geschichte, ist überhaupt nicht fanatisiert. Und er will auch überhaupt kein Märtyrer werden. Er drängelt sich ja nicht danach, sondern versucht, einfach, demütig, nach unten orientiert zu sein: Ich bin nur ein kleiner Pfarrer. Was wollen Sie denn von mir?
artechock: Er ist schon einer, der alles richtig macht. Der moralisch irgendwie perfekt ist, better than life...
Schlöndorff: Naja, wir haben natürlich überlegt, ob der anfällig sein soll. Suspense kommt ja daher, dass jemand in Versuchung geführt wird, der auch verführbar ist. Sonst ist ja keine Spannung da. Deswegen haben wir dem Priester eine Vergangenheit gegeben (die übrigens auch von Primo Levi inspiriert ist): Er ist schon einmal der Versuchung erlegen, lieber seine eigene Haut zu retten, als mit einem anderen zu teilen. Deshalb, kann man sagen, hat der Teufel ihn jetzt ausgesucht: Weil er sich sagt: Der hat schon einen Knacks, da kann ich ansetzen; er ist für die Versuchung, in die ich ihn jetzt führe, geeignet.
Es gibt ja auch die Episode, in der er einen Schwächeanfall hat, und während eines Gesprächs zusammenbricht. Und der Nazi weiß inzwischen, dass er anfällig gewesen war, und bringt ihm ein Glas Wasser, und sagt: »Trinken Sie nur das Glas Wasser; Sie haben damals ganz richtig gehandelt. Wenn es um Leben und Tod geht, dann muss man erst einmal an sich denken. Denn das Wichtigste ist doch, dass man sein eigenes Leben rettet. Das haben Sie damals getan, und damit haben Sie recht gehabt. Da dürfen Sie sich keine Schuld zuweisen. Genau, wie Judas das Richtige getan hat, als er Jesus verraten hat.« Und da zögert er einen Moment. Und sagt: »Wenn ich ihnen das Papier unterschreibe, und so eine Art Minikonkordat für das Ländchen Luxemburg mit ihm abschließe, dann kann ich also die 18 anderen Priester aus dem KZ herausholen, und ich kann vor Ort einiges bewirken.« Das ist der Moment, wo man sich sagen könnte – aha, er wird schwach. Aber man weiß: Das passt nicht zu seinem Charakter.
So wenig, wie es zu Gary Cooper passen würde, wenn er in High Noon nicht in die Stadt zurückfahren würde. Es gibt noch einen anderen Lieblingsfilm von mir mit Gary Cooper: Friendly Persuasion von William Wyler. Wo Cooper einen Quäker spielt, dem und dessen Familie im Bürgerkrieg ganz übel mitgespielt wird. Der Zuschauer denkt: Er soll doch endlich eine Waffe in die Hand nehmen, und sich verteidigen. Jeder im Publikum fiebert danach, dass er das endlich tut. Er macht das aber nicht. – ein ganz ganz großartiger Film.
Dieser römische Priesterhut von Matthes sieht dem Hut sehr ähnlich, den der Gary Cooper in dem Film immer trägt – mit Absicht. In dem Sinne war mir ganz klar: Er wird natürlich nie willentlich klein beigeben. Aber die Frage ist: Wird er die Kraft haben, zurückzugehen?
Und da fand ich es beim Lesen des Drehbuchs dramaturgisch einen großartigen Gedanken, dass man als Zuschauer im Grunde wünscht, dass er das Falsche tut. Denn wir sind zu feige, mit ihm zurück
ins KZ zu gehen. Wir wollen diese Grausamkeit nicht noch mal erleben. [Lacht] Man wird hier zum Komplizen des Teufels. [Lacht]
Also: Das ist alles auf einmal nicht mehr Vergangenheitsbewältigung, sondern das ist einfach Drama. Das könnte jetzt ein Drama von Schiller sein. Ein spannender Zweikampf, dessen Ausgang man nicht kennt. Und mit Spannung kann man die Zuschauer hoffentlich auch ins Kino locken.
artechock: Mir ist angenehm aufgefallen, wie bescheiden das ganze Setdesign war: Da wurde nicht dauernd gezeigt: »Hey, wir können uns dies und das und jenes leisten.« Teures Design konnten Sie sich, soweit ich weiß, tatsächlich nicht leisten... Kann das ein Vorteil sein, für solche Stoffe weniger Geld zu haben? Weil man sich aufs Wesentliche konzentrieren muss?
Schlöndorff: Es ist doppelbödig: Natürlich gibt einem das auch Freiheit, zwingt zu radikalen ästhetischen Entscheidungen. Wir konnten uns wirklich nicht mehr leisten. Es war schon vor Drehbeginn klar: wir haben keinen Storyboarder. Darum haben wir – der Kameramann, der Ausstatter und ich – uns Skizzen gemacht. Für das KZ konnten wir nur eine Baracke komplett bauen, von den anderen beiden bauen wir nur die Fassade. Das sah
dann wirklich aus, wie im Western: Hinter der Wand war nichts.
Und bei der Auswahl der Einstellung haben wir es bewusst alles in Großaufnahme erzählt. Weil es auch die Wahrnehmung eines geschwächten Menschen ist. Wenn er in einer Kolonne marschiert, dann macht man nicht gleichzeitig eine Kranfahrt, sondern zeigt nur die Hacken von dem, der vor ihm geht. Das ist alles schon so richtig gewesen.
Aber ich muss schon sagen: Ein Drehtag hat mir sehr gefehlt! Es gibt eine Sequenz – da will ich jetzt meine Karten nicht aufdecken – für die hatte ich nur zwei Stunden Zeit. Und ich hätte eigentlich einen Tag dafür gebraucht. Ich weiß: es hätte noch einen Unterschied gemacht. Hinzu kommt die Tatsache, dass alle Beteiligten, insbesondere auch die tschechischen Komparsen, schon unter KZ-ähnlichen Bedingungen arbeiten mussten – das war schon an der Grenze. Also ich möchte das nicht zur Regel machen.
Aber es zwingt natürlich auch zum Einfall. Wir hatten für die Innenaufnahmen nur eine halbe Baracke. Und wenn es Schuss-Gegenschuss war, ging es in Wirklichkeit immer in die gleiche Richtung. Das wurde dann über Nacht umgebaut.
Dann kam der Gegenschuss. Normalerweise dreht man da die Kamera um, wir stellten die Möbel um. Die Hauptarbeit war aber wirklich die mit den Schauspielern. Wir haben über die Gesichter erzählt.
artechock: Manche, etwas die für Kultur zuständige Staatsministerin, sprechen davon, dem deutschen Film gehe es so gut, wie lange nicht. Teilen Sie diese Ansicht? Haben Sie den Eindruck, dass die Bedingungen, unter denen man in Deutschland Filme dreht, grundsätzlich besser werden? Dass sich da wirklich was tut? Dass man in Deutschland auf eine bessere Weise Filme machen kann, dass sowohl für Industrie, die man braucht, als auch für den kleineren Autorenfilm der Raum da ist?
Schlöndorff: Ich glaube, dass ein Umdenken eingesetzt hat. Dass man sich auf einmal wieder zum Kinofilm bekennt. Wenn man Film will, dann kann man auch Film machen. Es war ja lange so, dass auch die Filmstudenten, die man so kennenlernt, nicht Eiligeres zu tun hatten, als ihren ersten »Tatort« zu drehen. Und wenn man da einmal drin ist, kommt man schwer wieder raus – es hat ja eine gewisse Sicherheit, fürs Fernsehen zu arbeiten.
Film ist immer ein Drahtseilakt: Man kann abstürzen, und wer weiß, ob man dann wieder aufsteht. Es ist ein Beruf ohne Netz. Dass sehe ich ja an mir selber: ich muss mich ja auch jedes Mal wieder neu erfinden, von Film zu Film. Es ist die alte Regel: Man ist soviel wert, wie das Boxoffice des vorjährigen Films.
Da können Sie mit Prestige allein gar nichts machen – wie viel tolle Regisseure gibt es, die die letzten 10, 15 Jahre ihrer Karriere nicht mehr gearbeitet
haben, obwohl sie noch die Kraft dazu gehabt hätten?
Film ist Risiko, nicht nur für die Produzenten, sondern auch für die Regisseure. Aber ich habe das Gefühl, in den letzten Jahren gibt es wieder dieses Bekenntnis zu sagen: Nein ich will wieder einen Kinofilm machen. Und das genügt schon beinahe. Wo ein Wille ist, findet sich dann auch ein Weg.
artechock: Bei den Machern sehe ich das auch. Aber gibt es auch bei den Leuten, die das ermöglichen, also bei Produzenten und Fernsehredakteuren, ein Verständnis für das, was wirklich Kino ist, was es auch vom Kino unterscheidet? Auch beim Publikum?
Schlöndorff: Das ist natürlich sehr heikel. In allen Kommissionen sind jetzt sehr stark Fernsehvertreter drin, und die wollen, das Produkt, was da gefördert wird, „primetimefähig“ ist. Aber „primetimefähig“ und kinofähig sind zwei verschiedene Kriterien. Viele Filme, die im Kino erfolgreich sind, könnte man so zur Hauptsendezeit nicht senden, jedenfalls nicht so, wie das Fernsehen sich entwickelt hat. Vor 25 Jahren konnte man das, als Günther Rohrbach Chef beim WDR war, und als es noch keine Privatsender gab. Das sind Filme, die entweder ästhetische Ansprüche stellen, die vom allgemeinen Primetimegeschmack des TV-Publikums zu weit weg sind. Das können aber auch Filme sein, die zu hart sind auf irgendeine Art und Weise.
Kino ist halt immer irgendwie Innovation. Und Fernsehen setzt auf das, was die Leute schon kennen. Und deshalb ist da einfach etwas Unüberbrückbares. Das müssen die sich klar machen in den verschiedenen Förderinstanzen und Gremien. Wenn sie Kino wollen, dann müssen sie auch das Risiko eingehen, hier nicht nach Fernsehkriterien zu urteilen. Das kann man nicht mit Richtlinien und FFG-Kriterien beschließen. Das ist ein Bekenntnis in sich. Und ich habe das Gefühl, das auch die Gründung der Filmakademie dazu beiträgt, klar zu unterscheiden zwischen einem Kinofilm und einem TV-Film.
artechock: Ich wollte auf die Filmakademie kommen und nicht über den Filmpreis reden, sondern eher darüber: Was kann so ein Zusammenschluss wirklich leisten? Es kann ja nicht Aufgabe einer Filmakademie sein, dass da Jost Vacano 'mal ein öffentliches Kameraseminar gibt?
Schlöndorff: Nein, nein – ich glaube auch, dass zuviel Außenaktivitäten falsch sind, das haben wir ja bei der letzten Mitgliederversammlung diskutiert. Da verhebt man sich schnell, wenn man sagt: wir wollen jetzt in allen deutschen Städten so ein Brimborium machen.
Nein, das ist schon mal ganz wichtig, dass es so eine Institution überhaupt gibt: Viele in der Branche kennen sich gar nicht, die lernen sich schon mal
untereinander kennen. Dass sie klar artikulieren – und das hat mich schon ziemlich überrascht –, wie die alle geradezu gegen das Fernsehen wettern und sich eine Kinolandschaft wünschen, in der sie arbeiten können. Das ist schon ziemlich neu. Und das kam nicht nur von uns Alten, sondern oft von Jungen und von Außenseitern. Das ist schon eine Gemeinsamkeit. Und das wirkt dann zurück auch in die Kommissionen und in die Entscheidungen. Insofern habe ich da schon
Hoffnung.
artechock: Sie haben ja erlebt, wie unser Filmfördersystem entstanden ist. Als Sie anfingen, war da nichts. Jetzt ist da ein Wust von Förderinstitutionen, eigentlich ein Dschungel. Hat das noch etwas mit diesem Aufbruch zu tun, mit dem, was da gewollt war? In der Oberhausener Erklärung...?
Schlöndorff: Naja, gottseidank verselbständigen sich die Sachen auch. Das ist ja alles heute gar nicht mehr vergleichbar: Das war eine Zeit, wo es praktisch gar kein Fernsehen gab; dann war da die Zeit, wo es nur das öffentlich-rechtliche gab, und inzwischen ist es wieder ein anderes. Aber bevor wir uns umgedreht haben, wird es überhaupt nicht mehr über das Fernsehen gehen, sondern über DVD und »Filme on demand«, die man runterladen kann. Das ist ja alles in einem permanenten Wechsel.
Ich finde schon, dass alles überflüssig föderalisiert ist. Dieser Konkurrenzkampf der Regionen untereinander ist bei der Produktion oft unsinnig – dieser Wanderzirkus, zu dem das einen zwingt.
Aber auch in der Studioentwicklung: Ein Studio war gewachsen und das liegt zum Schluß schließlich brach, obwohl man hunderte von Millionen investiert hat – sprich Babelsberg – weil man in Köln auf Teufel komm raus Studios gebaut hat, wo es gar keine gab, und wohin man noch die Mitarbeiter einfliegen musste. Und die waren eine Zeit lang gut ausgelastet, solange die Produktionsförderung das bezahlt hat. Und jetzt tritt genau ein, was ich vor zehn,
zwölf Jahren vorhergesagt habe: Die Produktionsförderung nimmt ab in der Region und die Studios stehen auf einmal alle leer.
Aber da wo etwas gewachsen war, hat man das zerstört. Und an dem neuen Ort ist nichts Dauerhaftes entstanden. Das ist natürlich eigentlich unsinnig. Aber mein Gott – in der Wirtschaft gibt es irrsinnig viele Fehlentwicklungen, das ist wie im Fall der Multiplexe.
Ich hab' eine Überdosis an diesen ganzen Wirtschaftsaspekten während der Zeit in Babelsberg abbekommen, und will überhaupt nichts mehr davon wissen. Ich will auch nicht mehr selbst produzieren; ich will nur noch inszenieren und schreiben.
artechock: Sie waren lange Chef von Babelsberg – beobachten Sie, was da heute passiert – Ausverkauf, neue Besitzer –, noch mit großer Anteilnahme?
Schlöndorff: Naja, dadurch dass ich da 500 Meter entfernt mein Haus habe, und natürlich gerne mal in dem Studio arbeiten möchte, was ich gebaut habe, bekomme ich viel mit. Stattdessen muss ich bei Der neunte Tag nach Prag fahren für das Lager, nach München für die Innenszenen.
Ich bin überzeugt: In vier, fünf Jahren werden sich die Preisunterschiede zwischen Osteuropa und uns eingepegelt haben. Dann hat das Studio wirklich eine Zukunft. Wenn wir denn überhaupt in Deutschland weiter Filme produzieren wollen.
Ich habe gar nichts gegen die Leute von Studio Hamburg [die sich im Juli für den Kauf von Babelsberg interessierten; d. red.]. Aber die werden natürlich nie internationale Filmproduktionen machen. Dürfen die gar nicht, das ist Ihnen nicht erlaubt mit Gebührengeldern. Das ist ja eine hundertprozentige ARD-Tochter. Deshalb wäre es schade, wenn jetzt kurz bevor diese Hoffnung sich erfüllt, das Studio endgültig zum TV-Studio würde.
Aber ich kann das auch nur mit Abstand betrachten. Mein Gott, ich habe da so viel Jahre reininvestiert, und ich habe gelernt: Mit Gewalt kann man das nicht erzwingen. Und ich leg meine Energie jetzt lieber in Filme, als da rein.
Ich sag' ja nicht, dass das ein Fehler war, überhaupt dahin zu gehen. Aber ich weiß eben doch, dass mir jetzt fünf, sechs Jahre in meiner Filmographie fehlen. Dass da auf einmal ein Loch ist, wo ich sonst mit schöner Regelmäßigkeit 40 Jahre
meine Eier gelegt habe. Und jetzt geht es mir lieber darum, da die verlorene Zeit einzuholen, als mich da noch weiter reinzuschmeißen.
artechock: Verständlich. Wir müssen trotzdem etwas mehr über die Lage des deutschen Films und die Veränderungen der letzten 40 Jahre reden. Heute gibt es fünf oder sechs Filmhochschulen in Deutschland...
Schlöndorff: Fünf oder sechs? 12 oder 18! [lacht]
artechock: ...da kommen aus jeder pro Jahr 20 bis 30 Filmregisseure raus... Das sind dann also 150 im Jahr, das sind in zehn Jahren 1500 Filmregisseure. Ist das... Geht das eigentlich so?
Schlöndorff: Ich weiß nicht, wie die Statistik sich bei Juristen und Ärzten verhält, und wie viele Professoren Sauerbruch da am Schluss dann übrig bleiben.
Die meisten dieser Schulen sind wirklich sehr sehr gut. Viele Absolventen arbeiten aber danach ja in ganz anderen Gebieten und sind nicht wirklich Regisseure. Die haben auf jeden Fall dort eine tolle Ausbildung bekommen und viel viel über Film gelernt. Meiner Meinung nach kann ein
Regisseur sowieso nur entweder als Autodidakt entstehen, wie Fassbinder oder Tom Tykwer, weil er ein Besessener ist. Oder er muss auf jeden Fall über die Produktionspraxis gegangen sein als Regieassistent oder irgendetwas.
Aus der Schule kommt in den seltensten Fällen ein fertiger Regisseur. Das sage ich den Studenten immer: Glaubt auf gar keinen Fall, was man Euch hier einredet. Dass ihr einen Abschlussfilm macht, womöglich noch mit Geld vom Fernsehen, der gleich sendefähig sein muss, und danach seid ihr dann Regisseur.
Denn was passiert: sie machen diesen Film, aber schon beim zweiten oder dritten ist die Karriere beendet. Deshalb rate ich immer: Tut Euch das nicht an. Arbeitet auf jeden Fall zwei drei Jahre in der Produktion als Assistent, als Aufnahmeleiter oder was auch immer. Das ist nun mal ein Beruf, den kann man nur am Beispiel von anderen lernen. Das kann keine Hochschule leisten.
artechock: Wo beobachten Sie denn diese neuen Filmemacher?
Schlöndorff: Naja, auf jeder Produktion nehme ich Filmstudenten als Volontäre mit. Manche werden dann fast Adoptivkinder. Es sind aber auch immer welche, die sich einfach melden; die waren nur Produktionsfahrer oder so. Und die stellen sich am Set dann oft viel besser an, als die Studenten. Das sind die Autodidakten. Das ist ein Beruf, den kann man als Autodidakt lernen. Nehmen Sie Quentin Tarantino: Da ist die Besessenheit immer noch wichtiger, als die Ausbildung. Wenn beides zusammen kommt, ist es natürlich perfekt.
artechock:Was man ja leider bemerken kann, ist dass bei uns Filmemacher unglaublich lange brauchen, um einen Film zu machen. Wenn man wie manche Fernsehleute oder die Regisseure in Hongkong jedes Jahr einen Film macht, bekommt man Routine. Da sind sicher ein paar schlechte dabei, aber auch ein paar gute.
Schlöndorff: Naja aber da kann man sich eigentlich bei uns nicht beklagen. Ich bin überrascht, wie regelmäßig dann diese neuen Regisseure arbeiten. Weil es durch die Vielfalt von Film- und TV-Produktionen die Möglichkeit gibt, hin und her zu gehen. Ich glaub, da geht es diesen insgesamt viel viel besser, als in den meisten anderen Ländern. An unserem System muss man nicht viel reformieren.
Das ist mehr eine Frage der Haltung. Wirklich Filme machen... Als wir da anfingen, war es so, als ob man in eine Bruderschaft eintritt: Man schwört allem anderen ab; es gibt nur einen Gott, der heißt Eisenstein oder wie auch immer. Dem muss man nacheifern. Die ganze Filmgeschichte blickt einem über die Schultern oder liefert die Maßstäbe. Da muss man versuchen, mit drin sein. Und außerdem geht es noch um die Gesellschaft, in der man lebt.
Es ist schon ein verdammt
umfassender und toller Beruf, wenn man das so sieht. Zur Karriere eignet der sich eigentlich nicht so. Dann soll man lieber in die Werbung gehen.
artechock: Gilt das heute noch genauso? Wissen die Filmstudenten heute noch, wer Eisenstein ist? Gerade an den Hochschulen gibt es Studenten, die gerade Ihre Generation – den Neuen Deutschen Film – ganz bewusst nicht gesehen haben, weil sie sagen: Die waren nicht erfolgreich – nach dem, was man so Erfolg nennt...
Schlöndorff: Ja, aber das ist ganz einfach: Natürlich lernen die auch ein bisschen Filmgeschichte, sehen Schwarzweißfilme; verhältnismäßig weniger. Viel viel weniger als unsereiner, der hunderte oder tausende gesehen hat. Ich hab mal 'ne Liste gemacht, nach der ich etwa 2000 Schwarzweißfilme von vor meiner Zeit gesehen habe.
Aber man muss dazu sagen: Nehmen wir mal 1960 als Stichdatum bei mir. Seitdem sind doppelt so viele Filme entstanden, als zu der Zeit, als ich anfing. Wir waren vielleicht die letzte Generation, die sagen konnte: Seit der Erfindung des Kinos bis heute hab ich eigentlich alles gesehen, was relevant ist. Aber irgendwann hört das eben auf. Kein Maler kann behaupten, seit der Renaissance habe er alles gesehen...
Und durch die Technik, die digitale Aufnahmetechnik, verändert sich ja auch die Filmsprache. Also ich glaube, man muss nicht alles kennen. Auf die Musik übertragen: Es kann auch einer heute ein guter Komponist werden, wenn er nie Monteverdi gehört hat, oder eine Barockoper.
artechock: Die Musik ist ein gutes Beispiel: Sie haben eben zwei Stichworte genannt: Bruderschaft und Branche. Das ist genau die Frage: Bei der Musik haben wir die Pop-Industrie, aber wir haben auch die Independent-Labels. Und das sind die Innovativen, die auch die Industrie voranbringen. Und bei der Musik kapiert auch die Industrie, dass sie die Independents braucht – um gute Industrie zu sein...
Schlöndorff: So war das auch mal beim Kino.
artechock: Genau! Und so ist das doch heute nicht! Gerade die Filmakademie: Da redet man von der Branche, immer wieder »die Branche« – Ich weiß nicht, warum das so heißen muss –, aber von der Bruderschaft oder etwas Vergleichbarem redet keiner.
Schlöndorff: Aber das war ja damals unser Aufstand. Und da habe ich das Gefühl, dass der sich wieder formiert.
Man muss begreifen, dass nur dauerndes Neuerfinden – was Sie sagen mit den Independents – das Kino weiterbringen kann. Jahrelang haben wir in Deutschland versucht, amerikanisches Genrekino zu imitieren – das ist ein absoluter Holzweg gewesen.
Neun Zehntel der TV-Produktion ist aber Imitation von amerikanischem Genrekino. Und da funktioniert das sehr gut: Jeder „Tatort“ und jeder „Kommissar“ wie so ein halber Film Noir. Die ganze Herz-Schmerz-Produktion ist ja nichts anderes, als der deutsche Heimatfilm der 50er Jahre auf TV-Format. Das kann für Kino alles kein Vorbild sein.
Es gibt aber einige große Firmen, die ja in Deutschland fast das Monopol dieser TV-Produktion haben. Und die wären gut beraten, wenn sie einen Teil ihres Gewinns auf Risiko in Filmproduktion setzen, und jetzt aber nicht versuchen, die selben Routineschemata vom Fernsehen aufs Kino anzuwenden – mit »Plot« und »Subplot« und dem ganzen Shit. Sondern einfach zu sagen: Hier hat einer ein Temperament. Das sieht man einfach jemandem an. Wenn da ein junger Regisseur kommt, und seinen Stoff pitched – dann hört der Produzent ja nicht zu, was für ne Story der erzählt, sondern achtet darauf, ob der irgendein Feuer ausstrahlt. Wenn der 'ne Energie verstrahlt, dann kann er auch einen Film machen. Aber wenn der Regisseur schon keine Energie ausstrahlt, dann hat der Stoff wahrscheinlich auch keine.
Das war jetzt das Wort zum Sonntag – aber ich muß gehen. … Aber das ändert sich schon. Ich habe jetzt ein paar Gute aus der Filmhochschule, die sind wahnsinnig leidenschaftlich und gucken gar nicht in die Richtung.