01.07.2004
21. Filmfest München 2004

Tagebuch, 6. Tag

BHALO THEKO (Forever Yours)
Gautam Halders BHALO THEKO
(Foto: Avik Mukhopadhyay (Cinematography))

Filmsplitter

Von Claus Schotten

Film­splitter

Der dies­jäh­rige Filmfest-Trailer ist der beste seit Menschen­ge­denken. Ein Meis­ter­werk der Effizienz. In kompakter Form bietet er alles, was von einem Festi­val­trailer erhofft wird, ohne zu nüchtern zu sein. Sicher, die Grafik hätte noch etwas schöner sein können, häßlich ist sie aber auch nicht. Anders als mancher seiner Vorgänger löst der dies­jäh­rige Vorspann auch nach häufigem Sehen garan­tiert keine aller­gi­schen Reak­tionen hervor. In zwei Punkten könnte der prak­ti­sche Nutzen aber noch gestärkt werden: Der Trailer ist in der ersten Hälfte sehr dunkel. Zuspät­kommer stolpern deshalb durch den tief­schwarzen Saal. Und er bietet nur gegen Ende kurz die Möglich­keit den Film scharf zu stellen. Hat der Vorführer diese Gele­gen­heit verpaßt, startet der Hauptfilm unscharf.

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Der Preis für die beste Titel­se­quenz geht bislang an PAS SUR LA BOUCHE von Alain Resnais. Zu sehen sind nur Sche­ren­schnitte von Darstel­lern und Requi­siten, während ein Sprecher das Publikum begrüßt und Titel und Credits ansagt. Die perfekte Einstim­mung für eine Operette aus den 20er Jahren.

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John Sayles bleibt sich treu. Wieder liefert er einen Ensem­ble­film ab, in dem ein sozialer Mikro­kosmos mit all seinen Konflikten durch die sorg­fältig verfloch­tenen Bezie­hungen von gut einem Dutzend Personen darge­stellt wird. Wieder spielt die Handlung an einem Ort auf einer kultu­rellen Grenz­linie. In CASA DE LOS BABYS ist es der Adop­ti­ons­tou­rismus in Acapulco, wo reiche US-Ameri­kaner arme mexi­ka­ni­sche Babys haben wollen. Der Film ist – wie von Sayles nicht anders zu erwarten – sehr gut geschrieben und sorg­fältig insze­niert, reicht aber nicht ganz an seine Meis­ter­werke CITY OF HOPE und LONE STAR heran. Das mag daran liegen, daß das Bezie­hungs­ge­flecht für Sayles'sche Verhält­nisse recht einfach struk­tu­riert ist: Auf der einen Seite fünf US-Ameri­ka­ne­rinnen mit ihren indi­vi­du­ellen Problemen und Konflikten, die in einer Hotel­an­lage auf die Zuteilung »ihrer« Babys warten. Auf der anderen Seite die Mexikaner, die sich wiederum in zwei Gruppen aufteilen lassen:
Solche, die vom Adop­ti­ons­tou­rismus leben und denen es umso besser geht, je stärker sie invol­viert sind, und solche, die nichts davon abbe­kommen und deshalb von der Hand in den Mund leben.

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Anfangs scheint BHALO THEKO (Forever Yours) alle Vorur­teile zu bestä­tigen, die ich gegenüber indischem Kunstkino habe: Ein Autor aus Bengalen oder Kerala erzählt in unglaub­lich langsamen Bildern eine Geschichte, wo ich weder den grund­le­genden Konflikt noch die Bezie­hungen aller Prot­ago­nisten zuein­ander verstehe. Doch nach ca. 20 Minuten gerate ich in den Sog des Films. Ich fange an, mich für die Prot­ago­nisten zu inter­es­sieren, mit ihnen mitzu­fie­bern, und plötzlich bin ich von der Handlung gefesselt, bin im Film »drin«. Natürlich verstehe ich nicht jedes Detail, insbe­son­dere die häufig zitierte Lyrik ist mir zu fremd, aber ich kann der Geschichte folgen. Die Lang­sam­keit des Erzähl­rythmus wird nicht als Langweile sondern als Poesie empfunden.

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»Gott ist Brasi­lianer« postu­liert ein Filmtitel aus dem dies­jäh­rigen Programm. Da könnte etwas dran sein, denn die beiden unter­halt­samsten Filme meines Tages kommen aus Brasilien. Zuerst SEPARAÇÕES (Breaking Up) von Domingos de Oliveira, bei dem das Trennungs- und Wieder­ver­ei­ni­gungs­gehabe geschlechts­reifer Großs­tädter unter die Lupe genommen wird. Ihr Motto: »Nicht mit Dir und nicht ohne Dich«. Humorvoll wird von Seiten­sprüngen und den indi­vi­du­ellen Träumen vom Glück in der oberen Mittel­klasse Rio de Janeiros berichtet. Die Haupt­prot­ago­nisten arbeiten beim Theater, deshalb werden die Gefühle manchmal etwas arg thea­tra­lisch ausgelebt, aber ansonsten bleibt der Film erfreu­lich klischee­frei.

In DEUS É BRASILEIRO (God Is Brazilian) von Carlos Diegues hat Gott von den ständigen Forde­rungen der Menschen die Schnauze voll und will Urlaub machen. Als Urlaubs­ver­tre­tung hat er sich einen Heiligen in spe aus den armen Nordosten Brasi­liens ausge­guckt. Doch den muß er erst einmal finden. So reist Gott den Spuren des Heiligen hinterher, in seinem Schlepptau den Tauge­nichts Taoca und die schöne Mada, die sich von dem angeb­li­chen Professor aus Sao Paulo die Fahrkarte in ein anderes Leben verspricht. Wie Gott inkognito mit den Eigen­heiten seiner Schöpfung klar kommt und versucht Wunder zu vermeiden, ist herz­er­fri­schend.

Aber viel­leicht ist Gott doch kein Brasi­lianer, denn bei beiden »Filmen« wird die Bild­qua­lität durch digitale Artefakte und Farbsäume reduziert. Insbe­son­dere bei DEUS É BRASILEIRO tut dies in der Seele weh. Wie schön würden die fantas­ti­schen Land­schaften Brasi­liens auf richtigem Film aussehen!

Filmtipps für den Endspurt

Der Countdown läuft: Nur noch zwei Tage hat man die Chance, sich auf dem Münchener Filmfest zu tummeln. Ein Blick aus dem Fenster enthüllt pure Trost­lo­sig­keit. Ein Grund mehr, noch einmal in andere Welten abzu­tau­chen.

Für Liebhaber hinter­sin­niger Erotik
Unge­wöhn­liche Menage à Trois: Ein Mann in einem Cafe. Eine junge Frau, die um Feuer bittet. Was der Mann nicht weiß: Die schöne Unbe­kannte ist eine Prosti­tu­ierte. Und: Seine Frau hat sie auf ihn angesetzt. Der Deal: NATHALIE soll en Detail berichten, was zwischen ihr und dem chronisch unge­treuen Gatten passiert. Was den Film Spannend macht ist der Perspek­tiv­wechsel: Im Mittel­punkt steht die Beziehung zweier faszi­nie­renden Frauen: Zwischen Fanny Ardant, ganz Dame, und Emanuelle Béart, der Hure, entspinnt sich eine seltsame Freund­schaft. Und jede von ihnen hütet ein Geheimnis...
Feitag, 02.07., 17.00 Uhr und Samstag, 03.07., 19.00 Uhr, jeweils Maxx 2Für Psycho­ro­cker
Über die Dokuperle METALLICA: SOME KIND OF MONSTER wurde an dieser Stelle schon berichtet (siehe Tagebuch vom) . Ein äußerst vergnüg­li­cher Ausflug in Rocker­alltag, Schaf­fens­krise und Bezie­hungs­dy­namik.
Samstag, 03.07. 17.30, Forum am Deutschen MuseumFür Visonäre
TARNATION – dieser Film passt in keine Schublade. Der Mix aus Dokudrama, Auto­bio­grafie und psyche­de­li­schem Trip hat schon auf dem Sundance Film­fes­tival für Furore gesorgt.
Samstag, 3.7. 22.00 Uhr, Maxx 5Für zart Besaitete
Fami­li­en­bande: Mitten in Tokyo wachsen vier Kinder, isoliert von der Umgebung auf. Eines Tages verschwindet die Mutter. Fortan sind die Kinder auf sich allein gestellt. Schritt für Schritt entdecken sie die Welt außerhalb ihres Univer­sums. NOBODY KNOWS – ein stiller Film voll zärt­li­cher Poesie.
Freitag, 02.07., 17.00 Uhr, Maxx 3
Samstag, 03.07., 15.00 Uhr Carl-Orff-Saal, GasteigFür Fans nost­al­gi­scher Musicals
A Tribute to Cole Porter: Der Schöpfer legen­därer Ever­greens wie »Night and Day«, »I Get no Kick of Campagne« und DE-LOVELY, lässt sein Leben noch einmal Revue passieren.
Samstag, 03.07.20.00 Uhr Carl-Orff-Saal, Gasteig

Nani Fux