30.06.2004
21. Filmfest München 2004

Tagebuch, 5. Tag

LA PELOTA VASCA
Julio Medems LA PELOTA VASCA
(Foto: Golem Distribución)

Wenn den Worten die Bilder fehlen

Von Dunja Bialas

Gestern abend auf dem Indie-Fest, so muss konsta­tiert werden, war kein einziger Inde­pen­dent-Regisseur zu sichten – die nach München gekommen waren, waren schon abgereist, die anderen sollen heute erst eintreffen. Dafür sah man ein paar deutsche Größen, Robert Stadlober, Hannelore Elsner, man konnte Alexander Kluge beob­achten, wie er ziemlich verlassen im Stadtcafé eine Sendung abdrehte. Very Important People, und deshalb reinigte auch eine Klofrau vor jedem Gang auf die Toilette die Klobrille.

Noch mehr solcher neuer Trends, wie Madame Pipi im Stadtcafé, konnten fest­ge­halten werden: Sich mit einer Hand am Bier, mit der anderen am Gadero­ben­s­tänder fest­halten, und cool zwischen den beiden Halte­punkte hin- und herwippen, so wie Robert Stadlober, dessen Frisur unent­schieden zwischen Robert Redfort und David Bowie stylte. Nicht minder spek­ta­kulär als der Auftritt von Stadlober war das Erscheinen von Fritz Göttler in dem Gedränge. Den durfte man dann auch mit Küsschen begrüßen. Neuer Trend!

Nachdem sich ein Stehplatz gefunden hatte, konnte entspannt geredet werden, so mit Job Schnelle aus Köln. Ein Nach­denken ergab sich da über das Raub­ko­pien-Gesetz, ob nicht eigent­lich auch die neue Handy-Gene­ra­tion mit Bild- und Tonmit­schnei­de­mög­lich­keit bei den Film­vor­füh­rungen einge­sam­melt werden müssen. Nost­al­gi­sche Erin­ne­rung stieg da auf an die Zeit, als man noch Film­ta­ge­buch führen konnte, in dem man kurze Szenen im Kinosaal per Video­ka­mera mitfilmte, wobei entschei­dend war, einen erkenn­baren Blick­winkel zu haben, das Bild sich also drehen und kippen durfte, abge­schnitten oder ins Bild hinein­ge­zoomt wurde (Dietmar Brehm nennt das das Eindringen in das Bild). Es ging also bei diesen Film­ta­ge­bücher nicht darum, den Film mitzu­schneiden, sondern ihn auszu­schneiden, so wie man sich ein Foto aus der Zeitung ausschneidet, um es aufzu­heben. Den Film als bild­li­chen Erin­ne­rungs­mo­ment fest­halten, noch einmal mithilfe des Mitschnitts in den Film eintau­chen können. Aber all das Schöne ist jetzt verboten.

Nur das Wort bleibt heute als Medium der Film­erin­ne­rung, was eine Arbeit der Wieder­be­le­bung des Films, seiner Wieder­auf­er­ste­hung im Gedächtnis gleich­kommt. In Worte fassen, was gesehen wurde: Das verlangt nach einer Film­be­schrei­bung ähnlich der Bild­be­schrei­bung bei den Kunst­his­to­ri­kern. Die Beson­der­heit des Films einfangen, seine Sprach­lich­keit zu beschreiben, seine Kame­rafüh­rung, Monta­geart, den Rhythmus, sein Tempo, die Farb­lich­keit, Licht­ge­stal­tung etc. Die beschrei­benden Worte werden zum Raum, in dem der Film imagi­niert werden kann, sie »schmiegen« sich an den Film an, wie es Job Schnelle auf dem Festival in Mannheim letztes Jahr im Gespräch über Film­kritik formu­lierte.

Wie sich das Wort zum Bild fügt, ist aber auch eine Heraus­for­de­rung, mit der es die Filme selbst zu tun haben. In den Spiel­filmen cachiert es sich meist in möglichst natu­ra­lis­ti­schen Dialogen, macht sich unfühlbar. Oder es verdichtet sich, wie bei Godard, wird lite­ra­risch und erhält eine eigene Bedeu­tungs­ebene, die jenseits des Darge­stellten liegt. Der Film wird mit einemal »schwierig«, man muss ihn mehrmals sehen, bis man ihn lesen kann wie ein Buch, in dem das Gedächtnis hin- und herblät­tert.

Wichtig ist das Wort-Bild-Verhältnis auch im doku­men­ta­ri­schen Kino, entschei­dend wichtig wenn es dem Wort darum geht, Infor­ma­tionen zu über­mit­teln, ein Doku­men­tar­film aber Bild­lich­keit und Form finden muss. (Ein Anspruch im Unter­schied zu den Fernseh-Dokus und bitte nur hierfür die häßliche Abkürzung benutzen.)

Es gibt zwei Doku­men­tar­filme des Festivals, die sich unbedingt lohnen, unter diesem Aspekt betrachtet zu werden. Der eine ist LA PELOTA VASCA: LA PIEL CONTRA LA PIEDRA von Julio Medem. An die 70 Inter­view­partner hat Medem zum baski­schen Problem befragt, Intel­lek­tu­elle, Künstler, Politiker der madri­le­ni­schen und baski­schen Parteien, Über­le­bende von ETA-Anschlägen und Angehö­rige der Opfer, auch Akti­visten der ETA und ihre Aussteiger. Die Antworten der »Talking Heads« schnitt er verdich­tend zusammen, oft wechselt von einem Satz auf den nächsten der Gesprächs­partner, bisweilen sogar nach einem Halbsatz. Dadurch gibt sich eine rasante Schnel­lig­keit der Äuße­rungen, ein kraft­voller Schlag­ab­tausch zwischen den verschie­denen Grup­pie­rungen.

Formen­ge­bend für den schnellen Schnitt und den Wechsel der Gesprächs­partner war für Medem die pelota vasca, ein Ballspiel zwischen Squash und Tennis, gespielt mit einem gekrümmten Korb­schläger, der den Ball in Höchst­ge­schwin­dig­keit dem Gegner zuschleu­dert. Medem fügt immer wieder Momente in seinen Film, in denen nur das Pfeifen des geschleu­derten Balls zu vernehmen ist, die konzen­trierten Pelota-Spieler in den Turn­hallen zu sehen sind, weiße Spieler im dunklen Grün der Turnhalle, weiße Pfeile an den Wänden, ein Raum der Kontraste und des Konträren. Die Pelota ist die Verweis­linie auf den schnellen Schnitt der Inter­views und die über­ge­ord­nete Metapher des Films, zugleich auch Anhalts­punkt, wie der Film gesehen werden sollte. Versucht man nämlich im einzelnen ausein­an­der­zu­halten, was die Inter­viewten sagen, die Schnel­lig­keit des Leinwand-Aufschlags aufzu­halten, indem man das Gesagte für sich reflek­tieren möchte, stellt sich bald Frus­tra­tion ein. Man muss sich in das Spiel des Films hinein­be­geben, ihm zusehen, zuhören, bereit sein, durch die Äuße­rungen hin- und herge­schleu­dert zu werden wie der baskische Ball.

Über die Metapher des baski­schen Ball­spiels werden die Worte der Talking Heads aber auch kommen­tiert: Sie sind ener­ge­tisch aufge­laden, und der Ball, der zurück­ge­spielt wird, ist nicht anders als der, der zuge­spielt wurde. In dem schlag­kräf­tigen Spiel der Inter­viewten werden die Posi­tionen einander gleicher, Opfer und Politiker, Täter und Favo­ri­sierer der baski­schen Unab­hän­gig­keit rücken auf ein Niveau zusammen. Der Film läßt die einzelnen Äuße­rungen für sich stehen, weder favo­ri­siert noch mora­li­siert er eine Position, was dazu beigetragen hat, dass PELOTA VASCA in Spanien heftig umkämpft wurde. Jeder Ball muss selbst beurteilt werden in diesem Film. Es kann übrigens nicht schaden, sich in der Basken-Thematik ein wenig auszu­kennen.

Ein anderes Beispiel, wo das Bild dem Wort insofern den Rang abläuft, als es der Schlüssel für die Bedeut­sam­keit des Films ist, ist Z-CHANNEL von Xan Cassa­vetes. Ihr Film ist die Rekon­struk­tion der Geschichte des Pay-TV-Kanals Z-Channel, der von 1974 bis 1989 unge­schnitten und ohne Werbe­un­ter­bre­chung Film­ra­ri­täten ausstrahlte. Jerry Harvey, der Channel-Gründer, zeigte Filme des europäi­schen Kinos, die in den USA nicht zu sehen waren, oder er ermög­lichte Filmen, die im ameri­ka­ni­schen Kino nur in vers­tüm­melter Fassung liefen, sich vor der Kritik im Director’s Cut zu behaupten. Er rettete unter anderem HEAVEN’S GATE von Michael Cimino vor der Verdammnis und schrieb so mit seinem Kanal tatsäch­lich Film­ge­schichte. Von der Bedeutung, die der Kanal für sie und ihr Schaffen hatte, erzählen u.a. Quentin Tarantino, Robert Altman, James B. Harris. Eine Fülle von Film­aus­schnitten sind zu sehen, so aus Filmen von Kurosawa, Sam Peckinpah, Mate Hellman, Nicholas Ray, aus Faßbin­ders 14stündigem BERLIN ALEXANDERPLATZ, Truffaut mit 400 COUPS, aus Jacques Demys gesun­genem PEAU D’ANE… Ein Quer­schnitt durch die Film­ge­schichte, erzählt von Menschen, die selbst Film­ge­schichte machen.

Die Menschen erscheinen als bild­fül­lende Talking Heads vor der Kamera, Talking Heads und Film­aus­schnitte, das sind die Worte und die Bilder, und was den Film so sehens­wert macht ist die Art, wie die Ausschnitte aus den Filmen in das Gespro­chene gefügt werden. Xan Cassa­vetes schneidet in die Inter­views die bild­li­chen Erin­ne­rungs­mo­mente ihrer Gesprächs­partner, also genau die Szenen, auf die sich die Spre­chenden gerade beziehen. Keine will­kür­liche Ansamm­lung von Film­aus­schnitten also, die sie für den Film zusam­men­ge­tragen hat, sondern echte Film­zi­tate, die sich in die Syntax des gespro­chenen Worts einbetten.

Aber das geht nur im Film. Und im Film zu machen, was nur filmisch geht, und dabei über Filme zu sprechen – das ist der wahre filmische Diskurs.