21. Filmfest München 2004
Tagebuch, 2. Tag |
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Last Life in the Universe | ||
(Foto: Triangelfilm) |
Von Nani Fux
Go East
oder von der Kunst einen lebenden Kraken zu verzehren
Warum, so fragt man sich mitunter, tut man sich das eigentlich an. Zum Beispiel, wenn man in einer wunderbar lauen Sommernacht statt unterm Sternenhimmel im Kino sitzt und zuschaut, wie ein Mann einen sich windenden Kopffüßler verspeist. Antwort: Der Mann mit den unappetitlichen Gelüsten ist Hauptdarsteller des neuen Films OLD BOY von Park Chan-Wook. Und auch wenn man bei dessen Werken öfter mal weggucken muss – die sind einfach klasse: originell, verstörend, raffiniert und psychologisch ausgefeilt.
Die Geschichte ist ebenfalls wieder einmal kunstvoll vertrackt: 15 Jahre lang wird Oh Dae-su, ein harmloser Schwätzer und Familienvater, in einer winzigen Wohnung gefangen gehalten. Warum, das weiß er nicht – so sehr er sich auch das Hirn zermartert. Auch die wiedergewonnene Freiheit erweist sich als trügerisch. Denn als er seinem Widersacher endlich gegenübersteht, kann er ihm nicht einmal an den Kragen: Nur wenn er weiterhin nach dessen Pfeife tanzt, hat er eine Chance, den Grund für das Martyrium zu erfahren. Nach und nach wird deutlich, dass das Ende der Haft erst der Beginn eines perfiden Planes ist. Das fulminante Racheepos des Koreaners hat dieses Jahr in Cannes einen Spezialpreis eingeheimst. Nicht ganz zufällig: Als Jurypräsident fungierte KILL BILL- Regisseur Quentin Tarantino, der in dem asiatischen Kollegen einen Seelenverwandten gefunden haben dürfte.
Ganz ohne Gemetzel geht es auch in dem Film LAST LIFE IN THE UNIVERSE des thailändischen Regisseurs Pen-ek Ratanaruang nicht ab: Hier gerät der Held Kenji, ein lebensmüder japanischer Bibliothekar, in eine missliche Situation: Statt – wie geplant – sich selbst, bringt er einen Yakuza um, normalerweise gar keine gute Idee. Eigentlich könnte Kenji sich nun einfach hinsetzen, den Leichen beim Vermodern zuschauen und warten, bis weitere tätowierte Meuchelmörder ihm unwissentlich bei seinem Abgang aus der Welt assistieren. Statt dessen erklimmt er ein Brückengeländer, löst dabei einen tödlichen Autounfall aus und lernt ein Mädchen kennen. Wer nun einen düsteren Gangsterfilm vermutet, täuscht sich gehörig: Stattdessen entfaltet sich eine hypnotisches Gespinst aus feinsinnigem Humor, atmosphärischer Eleganz und träumerischer Doppelbödigkeit.
Beide Werke sind übrigens Teil der neuen Reihe »Junges asiatisches Kino, die noch weitere schöne Dinge verspricht. Der asiatische Kontinent ist in Bewegung. Dank des Themenschwerpunkts ist von den tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbrüchen und ihren Wellenschlägen in der Kunst derzeit auch etwas auf dem Münchner Filmfest spürbar.«
Manchmal, so scheint es, ist ein Film es wert, eine laue Sommernacht zu schwänzen. Sogar in einem Jahr wie diesem, in dem Sternenhimmel Mangelware sind.
Halsbändel und Ohrringe
Erste Meldungen vom Filmfest
Wann immer man Andreas Ströhl, dem neuen Leiter des Filmfest Münchens, an den ersten beiden Festivaltagen begegnet, dann hatte er – selbst wenn er beispielsweise vor der Vorführung von HONEY BABY auf der Bühne des Carl-Orff-Saals Regiesseur Mika Kaurismäki willkommen hieß – hatte er am Halsbändel seine Filmfest-Mitarbeiter-Erkennungsmarke um. Als könne er jederzeit in die Verlegenheit kommen, sich auf seinem eigenen Festival ausweisen zu müssen, als bestünde sonst
die Gefahr, irgendein Ordner könnte ihn nicht in den Saal lassen oder so.
Ströhl ist kein despotischer Herrscher über das Filmfest. Der beginn seiner Amtszeit scheint beherrscht von der Maxime: Erstmal nur nix falschmachen! Und das ist gewiss nicht die unsympathischste Haltung. Zumal die ersten zaghaften Veränderungen, die im Jahr eins nach Hauff sichtbar wurden, allesamt in die richtige Richtung zu steuern scheinen. Am angenehmsten: Man hat nicht mehr das Gefühl, auf einem Treff
der deutschen TV-Movie der Woche-Branche mit ein paar Bonus-Filmvorführungen gelandet zu sein. Nachdem dieses unerquickliche Segment des Programms drastisch in seine verdienten Schranken gewiesen wurde, geht es wieder mehr um Filme, die diese Bezeichnung auch verdient haben.
Nun finde ich es freilich schon auch irgendwie gemein, dass man nicht mehr die ersten heißen und gehässigen Diskussionen schon führen konnte, bevor man überhaupt eines einzigen Films ansichtig wurde. Was gab es da früher für Gesprächsstoff: Die Plakate! Die Slogans! Und die Trailer!!! Und dennoch muss ich der werten Kollegin Bialas widersprechen, wenn sie beklagt, dass in der Ära Ströhl vorerst alles glatter, professioneller, weniger markant und eigenbrötlerisch geworden scheint. Denn, liebe Frau Bialas, gewiss werden wir uns in ein paar Jahren (oder wohl eher schon Monaten) an Plakate und Trailer dieses Filmfests nicht mehr erinnern können. Wenn wir aber WIRKLICH zurückdenken, wie das damals war, als vor jedem Film rund zwei Minuten verheerend missratene CHARLIE’S ANGELS-Imitation zu überstehen war (mithin im Laufe des Festivals also rund eine komplette Lebensstunde davon verkleistert), oder wenn wir unserem inneren Ohr die noch immer unauslöschlich in die Hirnridne gegrabene »Alle klatschen mit!«-Mucke des nicht minder legendären »Film von A bis Z«-Filmfest-Trailers zumuten dann muss man doch ehrlich sagen: Nein, früher war nicht alles besser! Lieber knapp und auf den Punkt, so wie dieses Jahr, auch wenn’s farblos bleibt. Und aufregen tun wir uns dann lieber über die Filme.
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Dass der Eröffnungsfilm KEIN Aufreger war, das liegt schon fast in der Natur der Sache. Das müssen halt immer Streifen mit halbwegs bekannten Namen im Aufgebot sein, die auch dem filminteressierten Studienrat oder den Damen und Herren Staatsministern beim Eröffnungsakt als »wertvolles« Filmerlebnis scheinen.
THE GIRL WITH THE PEARL EARRING ist, um es höflich auszudrücken, sehr gediegenes Kino. Eine Fantasie über das Bildermachen, die munter Künstlermythen des 19.
Jahrhunderts auf die Zeit der niederländischen Meister projeziert. Colin Firth als Vermeer taucht, stets mit etwas ungekämmert, ins Gesicht hängender Künstlermähne, bevorzugt aus dunklen Schatten auf und schaut (das ist der Kampf des Kreativen) gequält und gedankenschwer. Scarlet Johansson hingegen guckt zwei Stunden ununterbrochen wie’s Zeiserl wenn’s blitzt, weil sie die verunsicherte, verdruckste Dienstmagd aus der Provinz ist. Besonders schön aber ist ein
Grachten-Eckstück, eine Brücke über selbiges sowie sieben Statisten (zwei in einem Kahn auf der Gracht, die übrigen in diversen Kombinationen daneben und auf der Brücke) in der Rolle von Delft. Erhöhter Schwierigkeitsgrad: Sie müssen die holländische Stadt sogar durch verschiedene Jahreszeiten darstellen. Also z.B. mit im Eis festgefrorenem Kahn, etc.
Wann immer man aber ob solcher Dinge droht, in ein überlegen-gefälliges Schmunzeln zu geraten, dann zieht Peter Webbers Film
doch wieder eine wirklich berührende Szene aus dem Hut und versöhnt – wie der Moment, in dem Vermeer seinem aufgeschlossenen Dienstmädchen seine neu erworbene Camera obscura demonstriert, die beiden unter deren gegen Außenlicht abschirmendem Tuch für ein paar Sekunden ganz dicht zusammen sind, im gemeinsamen Staunen über das Wunder dieser Kino-urahn-Apparatur. Oder die Szene, in der wir mit Vermeer einfach nur lange, ruhig und genau das Gesicht des Mädchens studieren dürfen.
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Jetzt hat es das diesjährige Filmfest auf sich genommen, ausgerechnet am ersten unzweifelhaft sommerwetterigen Samstag dieses Jahres zu beginnen. Uns Münchner scheint es ja schon, als wären ganze Generationen zur Welt gekommen, herangewachsen, großgeworden, hätten Familien gegründet, Häuser gebaut und sich dann wohlverdient auf die letzte Lagerstatt gebettet, ohne je Sonne, Hitze, geöffnete Biergärten anders kennengelernt zu haben denn aus mythisch raunenden Erzählungen
der Alten. Und nun also das erste Sommerwochenende seit den Napoleonischen Feldzügen, und da hat der Mensch an sich freilich anderes zu tun, als sich gleich wieder in rundum abgedunkelte Räume zu setzen.
Nur wir Cineasten lassen ja gerne mal andere für uns leben, und statt also am Eisbach zu hocken, gehen wir zum Surfen ins Kino, in Stacy Peraltas RIDING GIANTS, der mehr Zuschauer verdient gehabt hätte, als die Handvoll, die sich am Samstag nachmittag ins Maxx 2 verirrte. Peraltas
Film ist eine Doku über die Geschichte des »Big Wave«-Surfens, des seltsamen »Sports« (der mehr von einer Religion hat), bei dem sich Menschen auf mehr oder minder langen und breiten Brettern Wellenberge hinunterstürzen, die durchaus Hochhaus-Dimensionen haben können. Zu Beginn scheint RIDING GIANTS noch mehr an der Subkultur der Surfer interessiert zu sein, daran, warum und mit welchen Folgen sie sich in den USA der 1950er Jahre etablieren konnte. Aber dann wird das Ganze mehr und mehr
zu einem Epos über große Helden, über Halbgötter des Surfens. (Der Titel läßt sich nicht zufällig auf zwei verschiedene Arten lesen – »Giants« kann sich auf die Wellen genauso beziehen wie auf die Männer, die sie reiten...)
Voller Ehrfurcht werden ihre Namen geraunt, von Greg Noll bis Laird Hamilton, werden die Orte ihrer monumentalen Taten beschrieben, all die legendären Strände in Hawaii und Nord-Kalifornien. Und dann bekommt man sie – so denn Fotografien oder Filme
existieren von den historischen »Rides« – zu sehen, diese Taten, von denen jede Generation welche vollbringt, von denen die vorherige Generation nicht einmal zu träumen wagte.
Und der Film schafft es tatsächlich, einem zumindest eine Ahnung zu geben von der Transzendenz, zu der sich diese eigentlich hochgradig sinnfreie und unvernünftige Tätigkeit des Big Wave-Surfens aufschwingen kann. Von dem existenziellen High, dass diese Menschen erfahren, wenn sie da an den
schäumenden Lippen des Todes entlangsausen. Und man lernt zumindest im Ansatz zu verstehen, warum sie oft ihr ganzes Leben strukturieren um die wenigen Sekunden herum, die so ein perfekter Ride dann dauert.
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Obwohl das Programm insgesamt dieses Jahr so viel interessante Filme bietet wie schon lange nicht mehr, ist trotzdem (zumindest für mich) die Retro mal wieder das Herzstück des Festivals. Weil aber doch ungewohnt viel anderes geguckt werden will, trifft es sich ganz gut, dass die Retro quasi zweigeteilt ist und sich einerseits einem meiner absoluten Lieblingsregiesseure widmet, andererseits einem Filmemacher, dem ich (zumindest bisher) mit großer Wurschtigkeit
gegenüberstehe und dessen Werke mir bis dato bestenfalls ein »Ganz nett« entlocken konnten: Die Gebrüder Aki und Mika Kaurismäki.
Weil man aber
a das wenige Wahre, Gute und Schöne, dass es auf dieser Welt gibt, bei jeder sich bietenden Gelegenheit hinreichend genießen und würdigen soll;
b jedoch stets versucht sein soll, seinen Horizont zu erweitern, seine bisherige Sicht der Dinge auf die Probe stellen soll;
habe ich mir für die Retro folgendes vorgenommen:
MISSION STATEMENT
1. Soweit irgend möglich, ALLES von Aki anschauen. Das wenige, was ich noch nicht kenne, ist sowieso absolute Pflicht. Und die Filme, die ich schon drei, vier Mal gesehen habe sollen ein viertes, fünftes Mal der Gemüthsergötzung dienen.
2. Die Vorurteile gegenüber Mika (dass er nämlich ein bestenfalls mittelmäßig talentierter, braver Langweiler sei) abbauen durch den zumindest selektiven Besuch auch möglichst vieler seiner Werke. Offenen Auges und Ohres sein
dabei, und immer hoffen, dass das Genie bei einem Brüderpaar doch nicht ganz nur an den einen von beiden verteilt worden sein kann.
3. Versuchen, im Laufe des Filmfests wenigsten einen Wodka (oder allermindestens ein Bier) mit Aki Kaurismäki zu trinken. Mika nur im äußersten Notfall als Ersatz akzeptieren, und dann darauf achten, dass der Alkoholpegel unter jener Grenze bleibt, wo die Zunge so gelöst sein würde, dass ich ihm meine bisherige Meinung über sein Werk unvorsichtiger-
und unhöflicherweise kundtäte...
Über den Erfolg dieser Mission wird in den kommenden Tagen zu berichten sein.