27.06.2004
21. Filmfest München 2004

Tagebuch, 2. Tag

Last Life in the Universe
Last Life in the Universe
(Foto: Triangelfilm)

Go East

Von Nani Fux

Go East
oder von der Kunst einen lebenden Kraken zu verzehren

Warum, so fragt man sich mitunter, tut man sich das eigent­lich an. Zum Beispiel, wenn man in einer wunderbar lauen Sommer­nacht statt unterm Ster­nen­himmel im Kino sitzt und zuschaut, wie ein Mann einen sich windenden Kopf­füßler verspeist. Antwort: Der Mann mit den unap­pe­tit­li­chen Gelüsten ist Haupt­dar­steller des neuen Films OLD BOY von Park Chan-Wook. Und auch wenn man bei dessen Werken öfter mal weggucken muss – die sind einfach klasse: originell, vers­tö­rend, raffi­niert und psycho­lo­gisch ausge­feilt.

Die Geschichte ist ebenfalls wieder einmal kunstvoll vertrackt: 15 Jahre lang wird Oh Dae-su, ein harmloser Schwätzer und Fami­li­en­vater, in einer winzigen Wohnung gefangen gehalten. Warum, das weiß er nicht – so sehr er sich auch das Hirn zermar­tert. Auch die wieder­ge­won­nene Freiheit erweist sich als trüge­risch. Denn als er seinem Wider­sa­cher endlich gegen­ü­ber­steht, kann er ihm nicht einmal an den Kragen: Nur wenn er weiterhin nach dessen Pfeife tanzt, hat er eine Chance, den Grund für das Martyrium zu erfahren. Nach und nach wird deutlich, dass das Ende der Haft erst der Beginn eines perfiden Planes ist. Das fulmi­nante Racheepos des Koreaners hat dieses Jahr in Cannes einen Spezi­al­preis einge­heimst. Nicht ganz zufällig: Als Jury­prä­si­dent fungierte KILL BILL- Regisseur Quentin Tarantino, der in dem asia­ti­schen Kollegen einen Seelen­ver­wandten gefunden haben dürfte.

Ganz ohne Gemetzel geht es auch in dem Film LAST LIFE IN THE UNIVERSE des thailän­di­schen Regis­seurs Pen-ek Ratana­ruang nicht ab: Hier gerät der Held Kenji, ein lebens­müder japa­ni­scher Biblio­thekar, in eine missliche Situation: Statt – wie geplant – sich selbst, bringt er einen Yakuza um, norma­ler­weise gar keine gute Idee. Eigent­lich könnte Kenji sich nun einfach hinsetzen, den Leichen beim Vermodern zuschauen und warten, bis weitere täto­wierte Meuchel­mörder ihm unwis­sent­lich bei seinem Abgang aus der Welt assis­tieren. Statt dessen erklimmt er ein Brücken­geländer, löst dabei einen tödlichen Auto­un­fall aus und lernt ein Mädchen kennen. Wer nun einen düsteren Gangs­ter­film vermutet, täuscht sich gehörig: Statt­dessen entfaltet sich eine hypno­ti­sches Gespinst aus fein­sin­nigem Humor, atmo­sphäri­scher Eleganz und träu­me­ri­scher Doppel­bö­dig­keit.

Beide Werke sind übrigens Teil der neuen Reihe »Junges asia­ti­sches Kino, die noch weitere schöne Dinge verspricht. Der asia­ti­sche Kontinent ist in Bewegung. Dank des Themen­schwer­punkts ist von den tief­grei­fenden gesell­schaft­li­chen Umbrüchen und ihren Wellen­schlägen in der Kunst derzeit auch etwas auf dem Münchner Filmfest spürbar.«

Manchmal, so scheint es, ist ein Film es wert, eine laue Sommer­nacht zu schwänzen. Sogar in einem Jahr wie diesem, in dem Ster­nen­himmel Mangel­ware sind.

Hals­bändel und Ohrringe
Erste Meldungen vom Filmfest

Wann immer man Andreas Ströhl, dem neuen Leiter des Filmfest Münchens, an den ersten beiden Festi­val­tagen begegnet, dann hatte er – selbst wenn er beispiels­weise vor der Vorfüh­rung von HONEY BABY auf der Bühne des Carl-Orff-Saals Regies­seur Mika Kauris­mäki will­kommen hieß – hatte er am Hals­bändel seine Filmfest-Mitar­beiter-Erken­nungs­marke um. Als könne er jederzeit in die Verle­gen­heit kommen, sich auf seinem eigenen Festival ausweisen zu müssen, als bestünde sonst die Gefahr, irgendein Ordner könnte ihn nicht in den Saal lassen oder so.
Ströhl ist kein despo­ti­scher Herrscher über das Filmfest. Der beginn seiner Amtszeit scheint beherrscht von der Maxime: Erstmal nur nix falsch­ma­chen! Und das ist gewiss nicht die unsym­pa­thischste Haltung. Zumal die ersten zaghaften Verän­de­rungen, die im Jahr eins nach Hauff sichtbar wurden, allesamt in die richtige Richtung zu steuern scheinen. Am ange­nehmsten: Man hat nicht mehr das Gefühl, auf einem Treff der deutschen TV-Movie der Woche-Branche mit ein paar Bonus-Film­vor­füh­rungen gelandet zu sein. Nachdem dieses uner­quick­liche Segment des Programms drastisch in seine verdienten Schranken gewiesen wurde, geht es wieder mehr um Filme, die diese Bezeich­nung auch verdient haben.

Nun finde ich es freilich schon auch irgendwie gemein, dass man nicht mehr die ersten heißen und gehäs­sigen Diskus­sionen schon führen konnte, bevor man überhaupt eines einzigen Films ansichtig wurde. Was gab es da früher für Gesprächs­stoff: Die Plakate! Die Slogans! Und die Trailer!!! Und dennoch muss ich der werten Kollegin Bialas wider­spre­chen, wenn sie beklagt, dass in der Ära Ströhl vorerst alles glatter, profes­sio­neller, weniger markant und eigen­bröt­le­risch geworden scheint. Denn, liebe Frau Bialas, gewiss werden wir uns in ein paar Jahren (oder wohl eher schon Monaten) an Plakate und Trailer dieses Filmfests nicht mehr erinnern können. Wenn wir aber WIRKLICH zurück­denken, wie das damals war, als vor jedem Film rund zwei Minuten verhee­rend miss­ra­tene CHARLIE’S ANGELS-Imitation zu über­stehen war (mithin im Laufe des Festivals also rund eine komplette Lebens­stunde davon verkleis­tert), oder wenn wir unserem inneren Ohr die noch immer unaus­lö­sch­lich in die Hirnridne gegrabene »Alle klatschen mit!«-Mucke des nicht minder legen­dären »Film von A bis Z«-Filmfest-Trailers zumuten dann muss man doch ehrlich sagen: Nein, früher war nicht alles besser! Lieber knapp und auf den Punkt, so wie dieses Jahr, auch wenn’s farblos bleibt. Und aufregen tun wir uns dann lieber über die Filme.

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Dass der Eröff­nungs­film KEIN Aufreger war, das liegt schon fast in der Natur der Sache. Das müssen halt immer Streifen mit halbwegs bekannten Namen im Aufgebot sein, die auch dem film­in­ter­es­sierten Studi­enrat oder den Damen und Herren Staats­mi­nis­tern beim Eröff­nungsakt als »wert­volles« Film­erlebnis scheinen.
THE GIRL WITH THE PEARL EARRING ist, um es höflich auszu­drü­cken, sehr gedie­genes Kino. Eine Fantasie über das Bilder­ma­chen, die munter Künst­ler­my­then des 19. Jahr­hun­derts auf die Zeit der nieder­län­di­schen Meister proje­ziert. Colin Firth als Vermeer taucht, stets mit etwas ungekäm­mert, ins Gesicht hängender Künst­ler­mähne, bevorzugt aus dunklen Schatten auf und schaut (das ist der Kampf des Kreativen) gequält und gedan­ken­schwer. Scarlet Johansson hingegen guckt zwei Stunden unun­ter­bro­chen wie’s Zeiserl wenn’s blitzt, weil sie die verun­si­cherte, verdruckste Dienst­magd aus der Provinz ist. Besonders schön aber ist ein Grachten-Eckstück, eine Brücke über selbiges sowie sieben Statisten (zwei in einem Kahn auf der Gracht, die übrigen in diversen Kombi­na­tionen daneben und auf der Brücke) in der Rolle von Delft. Erhöhter Schwie­rig­keits­grad: Sie müssen die hollän­di­sche Stadt sogar durch verschie­dene Jahres­zeiten darstellen. Also z.B. mit im Eis fest­ge­fro­renem Kahn, etc.
Wann immer man aber ob solcher Dinge droht, in ein überlegen-gefäl­liges Schmun­zeln zu geraten, dann zieht Peter Webbers Film doch wieder eine wirklich berüh­rende Szene aus dem Hut und versöhnt – wie der Moment, in dem Vermeer seinem aufge­schlos­senen Dienst­mäd­chen seine neu erworbene Camera obscura demons­triert, die beiden unter deren gegen Außen­licht abschir­mendem Tuch für ein paar Sekunden ganz dicht zusammen sind, im gemein­samen Staunen über das Wunder dieser Kino-urahn-Apparatur. Oder die Szene, in der wir mit Vermeer einfach nur lange, ruhig und genau das Gesicht des Mädchens studieren dürfen.

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Jetzt hat es das dies­jäh­rige Filmfest auf sich genommen, ausge­rechnet am ersten unzwei­fel­haft sommer­wet­te­rigen Samstag dieses Jahres zu beginnen. Uns Münchner scheint es ja schon, als wären ganze Gene­ra­tionen zur Welt gekommen, heran­ge­wachsen, groß­ge­worden, hätten Familien gegründet, Häuser gebaut und sich dann wohl­ver­dient auf die letzte Lager­statt gebettet, ohne je Sonne, Hitze, geöffnete Bier­gärten anders kennen­ge­lernt zu haben denn aus mythisch raunenden Erzäh­lungen der Alten. Und nun also das erste Sommer­wo­chen­ende seit den Napo­leo­ni­schen Feldzügen, und da hat der Mensch an sich freilich anderes zu tun, als sich gleich wieder in rundum abge­dun­kelte Räume zu setzen.
Nur wir Cineasten lassen ja gerne mal andere für uns leben, und statt also am Eisbach zu hocken, gehen wir zum Surfen ins Kino, in Stacy Peraltas RIDING GIANTS, der mehr Zuschauer verdient gehabt hätte, als die Handvoll, die sich am Samstag nach­mittag ins Maxx 2 verirrte. Peraltas Film ist eine Doku über die Geschichte des »Big Wave«-Surfens, des seltsamen »Sports« (der mehr von einer Religion hat), bei dem sich Menschen auf mehr oder minder langen und breiten Brettern Wellen­berge hinun­ter­s­türzen, die durchaus Hochhaus-Dimen­sionen haben können. Zu Beginn scheint RIDING GIANTS noch mehr an der Subkultur der Surfer inter­es­siert zu sein, daran, warum und mit welchen Folgen sie sich in den USA der 1950er Jahre etablieren konnte. Aber dann wird das Ganze mehr und mehr zu einem Epos über große Helden, über Halb­götter des Surfens. (Der Titel läßt sich nicht zufällig auf zwei verschie­dene Arten lesen – »Giants« kann sich auf die Wellen genauso beziehen wie auf die Männer, die sie reiten...)
Voller Ehrfurcht werden ihre Namen geraunt, von Greg Noll bis Laird Hamilton, werden die Orte ihrer monu­men­talen Taten beschrieben, all die legen­dären Strände in Hawaii und Nord-Kali­for­nien. Und dann bekommt man sie – so denn Foto­gra­fien oder Filme exis­tieren von den histo­ri­schen »Rides« – zu sehen, diese Taten, von denen jede Gene­ra­tion welche voll­bringt, von denen die vorherige Gene­ra­tion nicht einmal zu träumen wagte.
Und der Film schafft es tatsäch­lich, einem zumindest eine Ahnung zu geben von der Tran­szen­denz, zu der sich diese eigent­lich hoch­gradig sinnfreie und unver­nünf­tige Tätigkeit des Big Wave-Surfens aufschwingen kann. Von dem exis­ten­zi­ellen High, dass diese Menschen erfahren, wenn sie da an den schäu­menden Lippen des Todes entlang­sausen. Und man lernt zumindest im Ansatz zu verstehen, warum sie oft ihr ganzes Leben struk­tu­rieren um die wenigen Sekunden herum, die so ein perfekter Ride dann dauert.

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Obwohl das Programm insgesamt dieses Jahr so viel inter­es­sante Filme bietet wie schon lange nicht mehr, ist trotzdem (zumindest für mich) die Retro mal wieder das Herzstück des Festivals. Weil aber doch ungewohnt viel anderes geguckt werden will, trifft es sich ganz gut, dass die Retro quasi zwei­ge­teilt ist und sich einer­seits einem meiner absoluten Lieb­lings­re­gies­seure widmet, ande­rer­seits einem Filme­ma­cher, dem ich (zumindest bisher) mit großer Wursch­tig­keit gegen­ü­ber­stehe und dessen Werke mir bis dato besten­falls ein »Ganz nett« entlocken konnten: Die Gebrüder Aki und Mika Kauris­mäki.
Weil man aber
a das wenige Wahre, Gute und Schöne, dass es auf dieser Welt gibt, bei jeder sich bietenden Gele­gen­heit hinrei­chend genießen und würdigen soll;
b jedoch stets versucht sein soll, seinen Horizont zu erweitern, seine bisherige Sicht der Dinge auf die Probe stellen soll;
habe ich mir für die Retro folgendes vorge­nommen:

MISSION STATEMENT
1. Soweit irgend möglich, ALLES von Aki anschauen. Das wenige, was ich noch nicht kenne, ist sowieso absolute Pflicht. Und die Filme, die ich schon drei, vier Mal gesehen habe sollen ein viertes, fünftes Mal der Gemüth­ser­göt­zung dienen.
2. Die Vorur­teile gegenüber Mika (dass er nämlich ein besten­falls mittel­mäßig talen­tierter, braver Lang­weiler sei) abbauen durch den zumindest selek­tiven Besuch auch möglichst vieler seiner Werke. Offenen Auges und Ohres sein dabei, und immer hoffen, dass das Genie bei einem Brüder­paar doch nicht ganz nur an den einen von beiden verteilt worden sein kann.
3. Versuchen, im Laufe des Filmfests wenigsten einen Wodka (oder aller­min­des­tens ein Bier) mit Aki Kauris­mäki zu trinken. Mika nur im äußersten Notfall als Ersatz akzep­tieren, und dann darauf achten, dass der Alko­hol­pegel unter jener Grenze bleibt, wo die Zunge so gelöst sein würde, dass ich ihm meine bisherige Meinung über sein Werk unvor­sich­tiger- und unhöf­li­cher­weise kundtäte...

Über den Erfolg dieser Mission wird in den kommenden Tagen zu berichten sein.

Thomas Willmann