21. Filmfest München 2004
Tagebuch, 7. Tag |
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NOBODY KNOWS (DAREMO SHIRANAI) | ||
(Foto: Rapid Eye Movies) |
Von Thomas Willmann
Manche auffälligen Gemeinsamkeiten, sinnfälligen Gruppierungen, postulierbaren Trends unter der Filmen im Programm wurden schon vorab vermeldet, wären auch gar nicht zu übersehen gewesen – die große Anzahl an Musik-Dokus beispielsweise. Viel schöner aber ist es bei einem Filmfest immer, auf eigene Faust und zufällig zu entdecken, dass es zwischen scheinbar weit entfernten Filmen Querverbindungen gibt, dass zwei, drei Werke plötzlich beginnen, miteinander zu kommunizieren, ohne dass da ein Plan, eine Absicht, ein Bewusstsein dahinter stecken könnte.
TARNATION, THE HEART IS DECEITFUL ABOVE ALL THINGS und NOBODY KNOWS (DAREMO SHIRANAI) sind völlig unterschiedliche Filme – eine Quasi-Dokumentation, zwei Spielfilme; zwei amerikanische Produktionen (davon eine mit europäischer Regiesseurin), eine japanische; drei aus ganz unterschiedlichen Ansätzen, Haltungen und Traditionen erwachsende Streifen. Aber in allen dreien geht es um (gelinde gesagt) schwierige Kindheiten, in allen dreien geht es um schwer gestörte Mütter.
Jonathan Caouettes TARNATION wurde angepriesen als der billigste Film, der auf dem Festival zu sehen sei – seit ein paar Jahren konkurrieren ja die Independent-Filmemacher ähnlich wie die großen Hollywood-Studios gerne mit Rekord-Budgets, nur dass hier die Latte eben immer tiefer gelegt werden muss. (Übrigens, liebe Filmfest-Katalogredaktion: »Tarnation« ist im Amerikanischen ein Ersatzwort für »Damnation«, das Leute benutzen, die sich scheuen, »richtig« zu fluchen. Das mit dem Tarantino-Anagramm ist purer Zufall und hat NIX mit dem Film zu tun...) Und es ist interessant, dass Caouette (der für den Film alleinverantwortlich ist) mit dieser Summe von angeblich unter $250 hausieren geht, dass er sie bewusst als Vermarktungs-Werkzeug einsetzt – wo der Film einen so persönlichen, tief ins Intimste gehenden Eindruck macht. Wie sich gerade diese Summe von exakt $218,32 (laut Filmfest-Katalog) errechnen soll, ist sowieso schleierhaft, denn Caouette hat den Film – großteils auf seine schon in der Kindheit begonnene Amateurfilmerei aus 20 Jahren zurückgreifend – komplett daheim am iMac zusammengepfriemelt.
Er erzählt – durch nüchterne, von Caouette selbst unpersönlich in der dritten Person sprechenden Texteinblendungen zu seinem Bildmaterial – von dem Mädchen (Caouettes Mutter), das schon in jüngsten Jahren so hübsch war, dass es Kinder-Fotomodell wurde; das dann psychische Probleme entwickelte, vom Dach sprang – und daraufhin über Jahre, Jahrzehnte mit Elektroschock-Therapie behandelt wurde, was dann tatsächlich irreparable Hirnschäden hervorrief. Er erzählt vom Sohn dieser Frau (gezeugt von einem Vater, der sich sehr bald für Jahrzehnte auf Nimmerwiedersehen verabschiedete) und seiner Horror-Kindheit, verbracht mal umherziehend mit der zunehmend unzurechnungsfähigen Mutter, mal in Pflegefamilien (die ihn missbrauchten), mal bei den Großeltern (von denen die Großmutter nicht minder therapiebedürftige Züge zeigte...). Er erzählt davon, wie dieser Junge sein Schwulsein entdeckt und auszuleben beginnt, wie er sich schließlich von der Familie lösen kann, nach New York geht und (schon immer ein Theater- und Filmfreak) dort zum Schauspieler wird. Und wie ihn die Familie schließlich doch wieder einholt, als seine Mutter durch eine Lithium-Überdosis vollends schwer hirngeschädigt wird und er versucht, sich um sie zu kümmern.
Vermutlich ist das alles dokumentarisch, autobiographisch; zumindest setzt der Film darauf, dass man ihm alles als Fakt abnimmt, was er behauptet, aber Garantien dafür gibt es nicht, und recht betrachtet macht der Film selbst auch nie explizit geltend, dass alles durch die Bank »wahr« sei, was er erzählt. Soviel scheint unbestreitbar (weil ein Fake von zu langer Hand vorbereitet, zu aufwendig und zu professionell hätte sein müssen, um etliches von dem in TARNATION zu sehenden Material liefern zu können): Caouettes Mutter litt seit langem an zunehmend gravierenden Hirnschäden, und in Caouettes Kindheit ist vieles sehr schief gelaufen. Aber Caouette ist offensichtlich seit jeher ein geborener Schauspieler; man sieht in schon als Elfjährigen für die Kamera spielen (die Rolle einer vom Ehemann geschlagenen und missbrauchten Südstaaten-White Trash-Frau... Calling Dr. Freud...).
Und so faszinierend TARNATION fraglos ist – man wird das Gefühl nicht ganz los, dass er nicht nur ein Stück Selbsttherapie ist, dessen Notwendigkeit nur zu verständlich scheint, dass es Caouette nicht nur darum geht, mit seinem traumatischen Psycho-Gepäck klarzukommen. Sondern dass der Film auch zu gewissem Grade eine Performance um seiner selbst willen ist, das er auch ein Rollen-Spiel Caouettes ist: Da ist ein Unterton von »Seht, was ich für ein krasses Schicksal hatte, und guckt, wie virtuos ich daraus Kunst mache!«. Soweit es Caouette selbst betrifft, ist es sein gutes Recht, seine heftigen Erfahrungen auszubeuten zu welch Zweck auch immer.
Ein unguter Beigeschmack bleibt bei dem Film nur, weil einen hin und wieder das Gefühl beschleicht, dass er dazu auch jene Menschen benutzt, die nicht mündig darüber mitentscheiden können, was TARNATION mit ihnen macht. In der vielleicht stärksten, aber auch problematischsten Szene beobachtet Caouettes Kamera lange, lange die Mutter, die nach der Lithium-Überdosis geradezu infantil geworden ist, wie sie herumalbert und spielt – anscheinend zur Weihnachtszeit im Wohnzimmer des inzwischen verwitweten Großvaters, der im Hintergrund an einem Tisch sitzt und versucht, sich aus der ganzen Sache herauszuhalten. Das radikale, berührende an der Szene ist, wie ewig der Film sie aushält, wie er einem ein Gefühl dafür gibt, dass diese Krankheit NICHT MEHR AUFHÖRT, dass es eben nicht mit ein paar Sekunden »verrücktem« Verhalten getan ist. Aber zugleich beginnt die Mutter merklich irgendwann, FÜR DIE KAMERA zu spielen – und man meint zu spüren, dass Caouette dies gerade recht ist, dass er durchaus bereit ist, dem Film zu liebe das »kranke« Verhalten der Mutter herauszufordern, zu fördern, zu steigern, auszudehnen. Die Szene endet damit, dass die Mutter aus dem Zimmer rennt; schwer zu interpretieren, ob als Spiel mit oder Flucht vor der Kamera – welche sie aber nicht entkommen lässt sondern ihr sofort hinterher eilt. Vielleicht ist das Caouettes Art, die behauptete Liebe zu seiner Mutter auszudrücken – der Mann lebt offenbar mit, für, durch die Kamera. Aber (nicht nur) dieser Moment in TARNATION fühlt sich – zumindest für mich – nach etwas viel Unbarmherzigerem an.
So krass und direkt das Persönliche, »Authentische« bei Jonathan Caouette herhalten muss als essentielles Rohmaterial seiner Vergangenheits- und Gegenwartsbewältigung, so explizit versucht Asia Argento es zu umgehen. THE HEART IS DECEITFUL ABOVE ALL THINGS ist Autobiographie »by proxy«, über Mittelsmann. Der Film beruht auf dem gleichnamigen Roman von J.T. Leroy, der darin offenbar seine eigene Kindheit relativ unverbrämt verarbeitet hat. Dieser Roman muss gleich zu Beginn im Bild als Kronzeuge herhalten – das titelgebende Motto (ein Bibelzitat aus dem Buch Jeremiah) erscheint nicht als kontextlose Schrift, sondern ist von der ersten Seite des Buchs abgefilmt. Und auch im Abspann sehen wir wieder den Roman, bekommen einzelne Stellen hingeblättert – und zwar anscheinend aus dem Exemplar, in das Asia Argento ihre Anmerkungen zur geplanten Verfilmung hineingeschrieben hat.
Möglicherweise eine verräterische Geste: Zugleich betont sie, dass die Geschichte eben die von J.T. Leroy ist und nicht die von Asia Argento; aber es ist sowohl bezeichnend, dass dem Film diese Absicherung so wichtig ist, und wir sehen eben nicht nur Leroys gedruckte Worte, sondern auch die Handschrift Argentos, sehen einen Text der über- und umschrieben ist mit dem Resultat eines ganz persönlichen Lesens. Es mag billige Küchenpsychologie sein, aber der Verdacht liegt mehr als nahe, dass Asia Argento in THE HEART IS DECEITFUL eigene Kindheitstraumata reflektiert. Dass ihre jungen Jahre dank ihres Vaters Dario eher verkorkst waren, hat sie ja schon hin und wieder zu Protokoll gegeben, man glaubt ihr’s auf’s Wort, und irgendwas MUSS ja auch schieflaufen, bzw. schiefgelaufen sein, wenn Papa die schauspielende Tochter z.B. in IL SINDROME DI STENDAHL als Frau besetzt, die von einem Serienkiller vergewaltigt wird (ein Akt, der keineswegs offscreen bleibt...).
Asia Argento, die Schauspielerin, gibt in ihrem Film – mit viel Mut zur Hässlichkeit – die Rolle der jungen, selbstzerstörerischen, heillos überforderten Mutter wider Willen, die ihren siebenjährigen Sohn von seinen Pflegeeltern zurückerobert, nur um ihm dann das Leben zur Hölle zu machen. Aber der Blick, das Herz von Asia Argento, der Filmemacherin, sind zweifelsohne ganz bei dem Kind. Ihre Stellvertreter in dem Film heißen Jimm Bennett (der den siebenjährigen Jeremiah spielt) und Dylan & Cole Sprouse (ein Zwillingspaar, das den um drei Jahre gealterten Knaben gibt).
Es ist sicher problematisch, die Werke einer selbständigen Künstlerin (und das ist sie inzwischen) wie Asia Argento immer im Vergleich zu und Kontext mit den Arbeiten des berühmten Vaters zu sehen, aber es fällt auch schwer, Asias filmischen Stil nicht zumindest teilweise als explizite Gegen-Reaktion auf den Darios wahrzunehmen: Wo der einstige Horror-Großmeister sein hyper-inszeniertes, hyper-stilisiertes und stets sadistisch überlegenes Spiel mit dem Publikum treibt, will Asia ganz und mit allen Mitteln eintauchen ins Gefühl, ergeben Film und Zuschauer sich gleichermaßen der Emotion des Moments. Wenn bei Dario angsterfüllte Augen in Großaufnahme zu sehen sind, dann weidet er sich höchstens am Leiden der Person, wenn ihn deren Gefühle überhaupt interessieren, dann geht es um kontrollierte Manipulation des Publikums, und dann hängt da vor allem immer sehr viel cineastische Selbstreflexion über den Akt des Sehens mit drin.
Wenn in Asias THE HEART IS DECEITFUL die Kamera ähnlich nah rangeht an die verschüchterten Augen des kleinen Jeremiah, dann wirkt das hingegen immer wie ein Versuch, so tief wie möglich einzudringen in das, was hinter diesen Augen vorgeht, dann will der Film selbst in den Kopf des Jungen kommen und die Zuschauer dorthin mitnehmen. Und zumindest bei dem kleinen Jimm Bennett funktioniert das auch beängstigend gut – was dieses Kind mit einem Blick ausdrücken kann, ist ungeheuer; während Dylan & Cole Sprouse ihre Sache zwar wirklich gut machen, aber bei ihnen schon spürbar mehr bewusstes Schauspiel, mehr distanziertes Handwerk dabei ist. Gemeinsam freilich ist Vater und Tochter Argento der grundsätzliche Drang zum überstarken Moment, zur großen Geste – der THE HEART IS DECEITFUL ABOVE ALL THINGS in seinen schwächeren Minuten ins Karrikaturhafte abgleiten läßt. Sicher, es ist in den ersten Sekunden lustig, Peter Fonda als hyperreligiösen Großvater, Ornella Muti als verkniffene, strenge Großmutter, Winona Ryder als übereifrige Kinderpsychologin zu sehen. Aber »lustig« sollte nicht der Punkt dieses Films sein, und in der grob geschnitzten Übertreibung dieser Figuren verliert Argento auch jede Wahrhaftigkeit.
Das könnte kaum weiter entfernt sein vom Stil Hirokazu Kore-Edas. Sein NOBODY KNOWS (DAREMO SHIRANAI) ist ein ungleich weniger überhitzter Film als TARNATION und THE HEART IS DECEITFUL..., ziemlich sicher auch ein viel weniger persönlich-autobiographisch angetriebener – aber keineswegs ein weniger berührender. Auf seine Weise ist er vielleicht sogar der eindringlichste dieser zufälligen Trias – er packt und schüttelt einem während des Sehens nie so heftig wie die anderen beiden, aber er klingt länger, klarer nach.
Die Gewalt, die die Mutter in diesem Film ihren Kindern antut, ist subtiler, hat keine böse Absicht, aber auch keinerlei Entschuldigung: Es beginnt geradezu surreal, mit dem Einzug der jungen Frau und zweier Kinder in eine neue Wohnung, und als die Möbelpacker weg sind, werden zwei Koffer geöffnet, in denen sich noch zwei jüngere Geschwister befinden – die unbemerkt ins Apartment geschmuggelt werden mussten, weil die Mutter fürchtete, die Wohnung sonst nicht zu bekommen. Bis auf den Ältesten bekommen die Kinder dann den Befehl, die Wohnung nie zu verlassen, nicht einmal auf den Balkon zu gehen, und sich ruhig zu verhalten. Und – was anderen Kindern paradiesisch erscheinen mag, aber für die vier zur Strafe wird – sie dürfen nicht mal in die Schule; ein paar Bücher, die die Mutter angeschafft hat, sollen daheim in Eigenregie für die nötige Bildung sorgen. Den Großteil des Tages arbeitet die Mutter, dann lernt sie einen neuen Mann kenne, bleibt länger weg. Und verabschiedet sich dann für Wochen, nur ein kurzes Brieflein und Geld hinterlassend.
Irgendwann (viel zu spät – Akira, der Älteste musste schon selbst auf die Suche nach neuem Geld gehen) taucht sie nochmal auf, bringt Geschenke, füllt die Kasse nach. Aber dann ist sie wieder weg und kommt nicht zurück – einen kurzen Hinweis gibt der Film später mal, dass sie einfach wo anders eine neue Familie gefunden und ihre alte aus dem Gedächtnis verbannt hat. Eine Weile schlagen sich die Kinder noch tapfer durch’s Leben, halten eine gewisse Ordnung aufrecht, aber dann verwahrlosen sie zunehmend.
Kore-Eda (AFTERLIFE) erzählt das ganz undramatisch, aber ohne Kühle. Anstatt in verschiedenen Szenen die emotionalen Höhen und Tiefen auszuloten, bestimmte Gefühle in bestimmten Momenten zu bündeln und hervorbrechen zu lassen, schafft er es, ein sehr präzises Grundgefühl zu destillieren, das gleichmäßig den gesamten Film durchzieht: Eine ganz genau abgestimmte Mischung aus (teils eigentlich widersprüchlichen Seelen-Farbtönen wie) Traurigkeit, Resignation, Hoffnung, Zärtlichkeit, Verspieltheit, Einsamkeit. Im Gegensatz zu den beiden anderen Filmen gibt es kaum plötzliche, bedrohliche Krisen – fast alles passiert graduell, kündigt sich langsam an; und Kore-Eda läßt es seinen Film hinnehmen gleich einem Kind, das von der Welt noch nicht viel kennen gelernt hat als seine eigenen Situation, das kaum Maßstäbe hat, an denen es die Anormalität dieser Situation messen könnte, und das daher die Dinge akzeptiert, wie sie sind, und nur gelegentlich ein ungutes Gefühl entwickelt, wenn es zu deutlich mitbekommt, das alle anderen NICHT so leben.
In NOBODY KNOWS wird dabei auch äußerst präsent, was in den anderen beiden Filmen auch teils latent mitschwingt, teils schlaglichtartig aufblitzt – nämlich wie sehr die Mutter selbst noch ein Kind ist, vielleicht sogar mehr, auf unreifere Art als ihr Nachwuchs. In NOBODY KNOWS spricht sie in diesem typischen, halb schmollenden, halb quiekenden japanischen Jungmädchen-Tonfall, macht ihren Umgang mit den Kindern wo immer es geht zum Spiel, und legt eine Weltsicht an den Tag, die auf so unreflektierte Art egozentrisch, so einfach strukturiert und auf so naive Weise frei von Verantwortungsgefühl ist, dass sie einer Fünfjährigen gehören könnte. Es ist dies letzlich vielleicht der größte Horror, der in allen drei dieser Filme steckt: Dass all diesen Kindern jener Puffer zur Welt genommen ist, den Eltern eigentlich darstellen sollten. Dass ihnen viel zu früh die Verantwortung aufgebürdet wird, ihre Überlebens-Regeln und -Strategien selbst zu finden. Und so wenig heftig NOBODY KNOWS an der Oberfläche im Vergleich mit den anderen beiden Werken scheinen mag – er ist an diesem fundamentalen Grauen genau deshalb viel intensiver dran.
Mit dem Entdecken thematischer (oder sonstiger) Gemeinsamkeiten scheinbar disparater Filmfestival-Beiträge ist es wie mit Verschwörungstheorien: Wenn man einmal anfängt die geheimen Verbindungen zu suchen, dann findet man sie plötzlich überall. Und so gehört in gewisser Hinsicht mindestens noch ein vierter Film in diese »Verkorkste Kindheiten«-Reihe, und zwar einer, dem man das auf den ersten Blick überhaupt nicht ansehen würde: Z CHANNEL – A MAGNIFICENT OBSESSION. Das ist eine Doku von Xan Cassavetes (der Tochter von John C. und Geena Rowlands) über einen legendären Pay-TV-Sender in Los Angeles, der Hollywoods Heimatstadt (hauptsächlich) in den ‘80er Jahren mit einer Art permanentem Filmfest versorgte.
Für den Cineasten ein in vielerlei Hinsicht gewinnbringender und faszinierender Film: Weil aus ihm eine Leidenschaft für das Kino in all seinen mannigfaltigen Spielarten spricht (der Z Channel war berühmt dafür, vom obskuren B-Picture über Hollywood-Klassiker bis zum europäischen Kunstfilm allem, was damals in den USA auf richtigen Leinwänden kaum Bleibe hatte, eine Heimat zu geben); weil man sofort unbändige Lust bekommt, zig Filme, die in Ausschnitten vertreten sind, mal wieder zu sehen oder sie überhaupt erst zu entdecken (ich hatte noch nie was von Stuart Cooper gehört und seinem Film OVERLORD, aber wenn jemand vom Filmmuseum München hier zuhört: Bitte, bitte, zeigt den mal!). Und weil der Z Channel – der wohl kaum jemandem außerhalb von L.A. bisher ein Begriff war – offenbar wirklich einen nicht unbescheidenen Platz in der jüngeren Filmgeschichte verdient hat. Nicht nur hat sein Programm anscheinend eine ganze Generation von Filmschaffenden und über Film Schreibenden entscheidend geprägt, hat vielen von ihnen ihren ersten Kontakt mit kompletten Traditionen von Kino außerhalb des US-Mainstreams verschafft. Es hat anscheinend auch solche Phänomene wie den »Director’s Cut« (mit) ins Leben gerufen, war verantwortlich dafür, dass Filme wie HEAVEN’S GATE, ONCE UPON A TIME IN AMERICA oder IL GATTOPARDO der Öffentlichkeit in jenen Fassungen zugänglich wurden, die von ihren Regiesseuren ursprünglich beabsichtigt waren.
Aber nicht nur die verspätete Wertschätzung solcher zunächst verkannter – (auch) weil erst nur verstümmelt zu sehender – Meisterwerke ist laut dieser Doku dem Z Channel zu verdanken, sondern auch beispielsweise SALVADOR und somit der entscheidende Schub für James Woods' und Oliver Stones Karrieren wäre ohne den engagierten Sender damals nach einer kurzen, unbeachteten Kinoauswertung sang- und klanglos untergegangen. Das alles also ein interessantes Kapitel Filmgeschichts-Schreibung.
Aber Z CHANNEL – A MAGNIFICENT OBSESSION erzählt noch eine andere, dunklere Story: Die von Jerry Harvey, dem enigmatischen Programmdirektor des Z Channel. Er war praktisch alleinverantwortlich dafür, was wann wie gezeigt wurde auf dem Sender; seiner allumfassenden Filmbesessenheit, seinem Geschmack und seiner Kompromisslosigkeit verdankte der Kanal sein Profil, sein Leben, seinen Erfolg. Harvey bleibt, obwohl die zentrale Figur des Film, in Xan Cassavetes' Doku eine Art graue Eminenz hinter einem undurchdringlichen Vorhang – der Mann, der sein wahres Leben auf der Leinwand, auf dem Bildschirm fand, war selbst notorisch kamerascheu, ein paar wenige Fotos, ein paar gemurmelte Sätze aus einem Radio-Interview, mehr Material von Harvey direkt blieb Cassavetes nicht zur Verfügung. Sonst gibt es nur die Aussagen der Freunde, Bekannten, Kollegen, für die aber anscheinend Harvey auch immer ein Stück weit ein Geheimnis blieb.
So versucht der Film auch gar nicht, für das größte Rätsel in Jerry Harveys Leben mehr zu finden als vermutbare Faktoren einer unerreichbar bleibenden Lösung: Warum hat Harvey seine Frau und (erst eine Stunde später) sich selbst erschossen? Es gibt in der Doku Skizzen zu Harveys Kindheit, und die eben lassen ahnen, dass diese nicht so völlig weit entfernt gewesen sein dürfte von den privaten Höllen aus TARNATION oder THE HEART IS DECEITFUL ABOVE ALL THINGS.
Und bei aller Verehrung, die in Z CHANNEL Jerry Harvey, dem Helden im Kampf um Öffentlichkeit für alle, auch die verdrängten Spielarten des Films, entgegengebracht wird, so läßt zumindest ein ehemaliger enger Freund am Ende die Frage anklingen, ob sich das alles so leicht voneinander trennen läßt. Ob die Persönlichkeit, die sich so obsessiv in Filmwelten zurückgezogen hat, dass diese ihr ganzes Leben wurden, wirklich ohne tiefere Verbindung sein konnte zu der Persönlichkeit, die am Ende das eigene Leben und das der Ehefrau auslöschten. Oder ob es da nicht einen gemeinsamen Ursprung, verwandte Triebkräfte gegeben haben muss. Fragen, die einem als Cineasten schon zu denken geben könnten – wenn man die Zeit hätte und nicht auf einem Filmfest wäre, wo man danach gleich in den dritten (vierte? fünften?) Film des Tages zu eilen hat...