02.07.2004
21. Filmfest München 2004

Tagebuch, 7. Tag

Daremo Shiranai
NOBODY KNOWS (DAREMO SHIRANAI)
(Foto: Rapid Eye Movies)

Familienangelegenheiten

Von Thomas Willmann

Manche auffäl­ligen Gemein­sam­keiten, sinn­fäl­ligen Grup­pie­rungen, postu­lier­baren Trends unter der Filmen im Programm wurden schon vorab vermeldet, wären auch gar nicht zu übersehen gewesen – die große Anzahl an Musik-Dokus beispiels­weise. Viel schöner aber ist es bei einem Filmfest immer, auf eigene Faust und zufällig zu entdecken, dass es zwischen scheinbar weit entfernten Filmen Quer­ver­bin­dungen gibt, dass zwei, drei Werke plötzlich beginnen, mitein­ander zu kommu­ni­zieren, ohne dass da ein Plan, eine Absicht, ein Bewusst­sein dahinter stecken könnte.

TARNATION, THE HEART IS DECEITFUL ABOVE ALL THINGS und NOBODY KNOWS (DAREMO SHIRANAI) sind völlig unter­schied­liche Filme – eine Quasi-Doku­men­ta­tion, zwei Spiel­filme; zwei ameri­ka­ni­sche Produk­tionen (davon eine mit europäi­scher Regies­seurin), eine japa­ni­sche; drei aus ganz unter­schied­li­chen Ansätzen, Haltungen und Tradi­tionen erwach­sende Streifen. Aber in allen dreien geht es um (gelinde gesagt) schwie­rige Kind­heiten, in allen dreien geht es um schwer gestörte Mütter.

Jonathan Caouettes TARNATION wurde ange­priesen als der billigste Film, der auf dem Festival zu sehen sei – seit ein paar Jahren konkur­rieren ja die Inde­pen­dent-Filme­ma­cher ähnlich wie die großen Hollywood-Studios gerne mit Rekord-Budgets, nur dass hier die Latte eben immer tiefer gelegt werden muss. (Übrigens, liebe Filmfest-Kata­log­re­dak­tion: »Tarnation« ist im Ameri­ka­ni­schen ein Ersatz­wort für »Damnation«, das Leute benutzen, die sich scheuen, »richtig« zu fluchen. Das mit dem Tarantino-Anagramm ist purer Zufall und hat NIX mit dem Film zu tun...) Und es ist inter­es­sant, dass Caouette (der für den Film allein­ver­ant­wort­lich ist) mit dieser Summe von angeblich unter $250 hausieren geht, dass er sie bewusst als Vermark­tungs-Werkzeug einsetzt – wo der Film einen so persön­li­chen, tief ins Intimste gehenden Eindruck macht. Wie sich gerade diese Summe von exakt $218,32 (laut Filmfest-Katalog) errechnen soll, ist sowieso schlei­er­haft, denn Caouette hat den Film – großteils auf seine schon in der Kindheit begonnene Amateur­fil­merei aus 20 Jahren zurück­grei­fend – komplett daheim am iMac zusam­men­ge­pfrie­melt.

Er erzählt – durch nüchterne, von Caouette selbst unper­sön­lich in der dritten Person spre­chenden Text­ein­blen­dungen zu seinem Bild­ma­te­rial – von dem Mädchen (Caouettes Mutter), das schon in jüngsten Jahren so hübsch war, dass es Kinder-Foto­mo­dell wurde; das dann psychi­sche Probleme entwi­ckelte, vom Dach sprang – und daraufhin über Jahre, Jahr­zehnte mit Elek­tro­schock-Therapie behandelt wurde, was dann tatsäch­lich irrepa­rable Hirn­schäden hervor­rief. Er erzählt vom Sohn dieser Frau (gezeugt von einem Vater, der sich sehr bald für Jahr­zehnte auf Nimmer­wie­der­sehen verab­schie­dete) und seiner Horror-Kindheit, verbracht mal umher­zie­hend mit der zunehmend unzu­rech­nungs­fähigen Mutter, mal in Pfle­ge­fa­mi­lien (die ihn miss­brauchten), mal bei den Großel­tern (von denen die Groß­mutter nicht minder thera­pie­be­dürf­tige Züge zeigte...). Er erzählt davon, wie dieser Junge sein Schwul­sein entdeckt und auszu­leben beginnt, wie er sich schließ­lich von der Familie lösen kann, nach New York geht und (schon immer ein Theater- und Filmfreak) dort zum Schau­spieler wird. Und wie ihn die Familie schließ­lich doch wieder einholt, als seine Mutter durch eine Lithium-Überdosis vollends schwer hirn­ge­schä­digt wird und er versucht, sich um sie zu kümmern.

Vermut­lich ist das alles doku­men­ta­risch, auto­bio­gra­phisch; zumindest setzt der Film darauf, dass man ihm alles als Fakt abnimmt, was er behauptet, aber Garantien dafür gibt es nicht, und recht betrachtet macht der Film selbst auch nie explizit geltend, dass alles durch die Bank »wahr« sei, was er erzählt. Soviel scheint unbe­streitbar (weil ein Fake von zu langer Hand vorbe­reitet, zu aufwendig und zu profes­sio­nell hätte sein müssen, um etliches von dem in TARNATION zu sehenden Material liefern zu können): Caouettes Mutter litt seit langem an zunehmend gravie­renden Hirn­schäden, und in Caouettes Kindheit ist vieles sehr schief gelaufen. Aber Caouette ist offen­sicht­lich seit jeher ein geborener Schau­spieler; man sieht in schon als Elfjäh­rigen für die Kamera spielen (die Rolle einer vom Ehemann geschla­genen und miss­brauchten Südstaaten-White Trash-Frau... Calling Dr. Freud...).

Und so faszi­nie­rend TARNATION fraglos ist – man wird das Gefühl nicht ganz los, dass er nicht nur ein Stück Selbst­the­rapie ist, dessen Notwen­dig­keit nur zu vers­tänd­lich scheint, dass es Caouette nicht nur darum geht, mit seinem trau­ma­ti­schen Psycho-Gepäck klar­zu­kommen. Sondern dass der Film auch zu gewissem Grade eine Perfor­mance um seiner selbst willen ist, das er auch ein Rollen-Spiel Caouettes ist: Da ist ein Unterton von »Seht, was ich für ein krasses Schicksal hatte, und guckt, wie virtuos ich daraus Kunst mache!«. Soweit es Caouette selbst betrifft, ist es sein gutes Recht, seine heftigen Erfah­rungen auszu­beuten zu welch Zweck auch immer.

Ein unguter Beige­schmack bleibt bei dem Film nur, weil einen hin und wieder das Gefühl beschleicht, dass er dazu auch jene Menschen benutzt, die nicht mündig darüber mitent­scheiden können, was TARNATION mit ihnen macht. In der viel­leicht stärksten, aber auch proble­ma­tischsten Szene beob­achtet Caouettes Kamera lange, lange die Mutter, die nach der Lithium-Überdosis geradezu infantil geworden ist, wie sie herum­al­bert und spielt – anschei­nend zur Weih­nachts­zeit im Wohn­zimmer des inzwi­schen verwit­weten Groß­va­ters, der im Hinter­grund an einem Tisch sitzt und versucht, sich aus der ganzen Sache heraus­zu­halten. Das radikale, berüh­rende an der Szene ist, wie ewig der Film sie aushält, wie er einem ein Gefühl dafür gibt, dass diese Krankheit NICHT MEHR AUFHÖRT, dass es eben nicht mit ein paar Sekunden »verrücktem« Verhalten getan ist. Aber zugleich beginnt die Mutter merklich irgend­wann, FÜR DIE KAMERA zu spielen – und man meint zu spüren, dass Caouette dies gerade recht ist, dass er durchaus bereit ist, dem Film zu liebe das »kranke« Verhalten der Mutter heraus­zu­for­dern, zu fördern, zu steigern, auszu­dehnen. Die Szene endet damit, dass die Mutter aus dem Zimmer rennt; schwer zu inter­pre­tieren, ob als Spiel mit oder Flucht vor der Kamera – welche sie aber nicht entkommen lässt sondern ihr sofort hinterher eilt. Viel­leicht ist das Caouettes Art, die behaup­tete Liebe zu seiner Mutter auszu­drü­cken – der Mann lebt offenbar mit, für, durch die Kamera. Aber (nicht nur) dieser Moment in TARNATION fühlt sich – zumindest für mich – nach etwas viel Unbarm­her­zi­gerem an.

So krass und direkt das Persön­liche, »Authen­ti­sche« bei Jonathan Caouette herhalten muss als essen­ti­elles Rohma­te­rial seiner Vergan­gen­heits- und Gegen­warts­be­wäl­ti­gung, so explizit versucht Asia Argento es zu umgehen. THE HEART IS DECEITFUL ABOVE ALL THINGS ist Auto­bio­gra­phie »by proxy«, über Mittels­mann. Der Film beruht auf dem gleich­na­migen Roman von J.T. Leroy, der darin offenbar seine eigene Kindheit relativ unver­brämt verar­beitet hat. Dieser Roman muss gleich zu Beginn im Bild als Kronzeuge herhalten – das titel­ge­bende Motto (ein Bibel­zitat aus dem Buch Jeremiah) erscheint nicht als kontext­lose Schrift, sondern ist von der ersten Seite des Buchs abgefilmt. Und auch im Abspann sehen wir wieder den Roman, bekommen einzelne Stellen hinge­blät­tert – und zwar anschei­nend aus dem Exemplar, in das Asia Argento ihre Anmer­kungen zur geplanten Verfil­mung hinein­ge­schrieben hat.

Mögli­cher­weise eine verrä­te­ri­sche Geste: Zugleich betont sie, dass die Geschichte eben die von J.T. Leroy ist und nicht die von Asia Argento; aber es ist sowohl bezeich­nend, dass dem Film diese Absi­che­rung so wichtig ist, und wir sehen eben nicht nur Leroys gedruckte Worte, sondern auch die Hand­schrift Argentos, sehen einen Text der über- und umschrieben ist mit dem Resultat eines ganz persön­li­chen Lesens. Es mag billige Küchen­psy­cho­logie sein, aber der Verdacht liegt mehr als nahe, dass Asia Argento in THE HEART IS DECEITFUL eigene Kind­heits­trau­mata reflek­tiert. Dass ihre jungen Jahre dank ihres Vaters Dario eher verkorkst waren, hat sie ja schon hin und wieder zu Protokoll gegeben, man glaubt ihr’s auf’s Wort, und irgendwas MUSS ja auch schief­laufen, bzw. schief­ge­laufen sein, wenn Papa die schau­spie­lende Tochter z.B. in IL SINDROME DI STENDAHL als Frau besetzt, die von einem Seri­en­killer verge­wal­tigt wird (ein Akt, der keines­wegs offscreen bleibt...).

Asia Argento, die Schau­spie­lerin, gibt in ihrem Film – mit viel Mut zur Häss­lich­keit – die Rolle der jungen, selbst­zer­stö­re­ri­schen, heillos über­for­derten Mutter wider Willen, die ihren sieben­jäh­rigen Sohn von seinen Pfle­ge­el­tern zurück­er­obert, nur um ihm dann das Leben zur Hölle zu machen. Aber der Blick, das Herz von Asia Argento, der Filme­ma­cherin, sind zwei­fels­ohne ganz bei dem Kind. Ihre Stell­ver­treter in dem Film heißen Jimm Bennett (der den sieben­jäh­rigen Jeremiah spielt) und Dylan & Cole Sprouse (ein Zwil­lings­paar, das den um drei Jahre geal­terten Knaben gibt).

Es ist sicher proble­ma­tisch, die Werke einer selb­stän­digen Künst­lerin (und das ist sie inzwi­schen) wie Asia Argento immer im Vergleich zu und Kontext mit den Arbeiten des berühmten Vaters zu sehen, aber es fällt auch schwer, Asias filmi­schen Stil nicht zumindest teilweise als explizite Gegen-Reaktion auf den Darios wahr­zu­nehmen: Wo der einstige Horror-Groß­meister sein hyper-insze­niertes, hyper-stili­siertes und stets sadis­tisch über­le­genes Spiel mit dem Publikum treibt, will Asia ganz und mit allen Mitteln eintau­chen ins Gefühl, ergeben Film und Zuschauer sich glei­cher­maßen der Emotion des Moments. Wenn bei Dario angst­er­füllte Augen in Groß­auf­nahme zu sehen sind, dann weidet er sich höchstens am Leiden der Person, wenn ihn deren Gefühle überhaupt inter­es­sieren, dann geht es um kontrol­lierte Mani­pu­la­tion des Publikums, und dann hängt da vor allem immer sehr viel cine­as­ti­sche Selbst­re­fle­xion über den Akt des Sehens mit drin.

Wenn in Asias THE HEART IS DECEITFUL die Kamera ähnlich nah rangeht an die verschüch­terten Augen des kleinen Jeremiah, dann wirkt das hingegen immer wie ein Versuch, so tief wie möglich einzu­dringen in das, was hinter diesen Augen vorgeht, dann will der Film selbst in den Kopf des Jungen kommen und die Zuschauer dorthin mitnehmen. Und zumindest bei dem kleinen Jimm Bennett funk­tio­niert das auch beängs­ti­gend gut – was dieses Kind mit einem Blick ausdrü­cken kann, ist ungeheuer; während Dylan & Cole Sprouse ihre Sache zwar wirklich gut machen, aber bei ihnen schon spürbar mehr bewusstes Schau­spiel, mehr distan­ziertes Handwerk dabei ist. Gemeinsam freilich ist Vater und Tochter Argento der grund­sätz­liche Drang zum über­starken Moment, zur großen Geste – der THE HEART IS DECEITFUL ABOVE ALL THINGS in seinen schwächeren Minuten ins Karri­ka­tur­hafte abgleiten läßt. Sicher, es ist in den ersten Sekunden lustig, Peter Fonda als hyper­re­li­giösen Großvater, Ornella Muti als verknif­fene, strenge Groß­mutter, Winona Ryder als übereif­rige Kinder­psy­cho­login zu sehen. Aber »lustig« sollte nicht der Punkt dieses Films sein, und in der grob geschnitzten Über­trei­bung dieser Figuren verliert Argento auch jede Wahr­haf­tig­keit.

Das könnte kaum weiter entfernt sein vom Stil Hirokazu Kore-Edas. Sein NOBODY KNOWS (DAREMO SHIRANAI) ist ein ungleich weniger über­hitzter Film als TARNATION und THE HEART IS DECEITFUL..., ziemlich sicher auch ein viel weniger persön­lich-auto­bio­gra­phisch ange­trie­bener – aber keines­wegs ein weniger berüh­render. Auf seine Weise ist er viel­leicht sogar der eindring­lichste dieser zufäl­ligen Trias – er packt und schüttelt einem während des Sehens nie so heftig wie die anderen beiden, aber er klingt länger, klarer nach.

Die Gewalt, die die Mutter in diesem Film ihren Kindern antut, ist subtiler, hat keine böse Absicht, aber auch keinerlei Entschul­di­gung: Es beginnt geradezu surreal, mit dem Einzug der jungen Frau und zweier Kinder in eine neue Wohnung, und als die Möbel­pa­cker weg sind, werden zwei Koffer geöffnet, in denen sich noch zwei jüngere Geschwister befinden – die unbemerkt ins Apartment geschmug­gelt werden mussten, weil die Mutter fürchtete, die Wohnung sonst nicht zu bekommen. Bis auf den Ältesten bekommen die Kinder dann den Befehl, die Wohnung nie zu verlassen, nicht einmal auf den Balkon zu gehen, und sich ruhig zu verhalten. Und – was anderen Kindern para­die­sisch erscheinen mag, aber für die vier zur Strafe wird – sie dürfen nicht mal in die Schule; ein paar Bücher, die die Mutter ange­schafft hat, sollen daheim in Eigen­regie für die nötige Bildung sorgen. Den Großteil des Tages arbeitet die Mutter, dann lernt sie einen neuen Mann kenne, bleibt länger weg. Und verab­schiedet sich dann für Wochen, nur ein kurzes Brieflein und Geld hinter­las­send.

Irgend­wann (viel zu spät – Akira, der Älteste musste schon selbst auf die Suche nach neuem Geld gehen) taucht sie nochmal auf, bringt Geschenke, füllt die Kasse nach. Aber dann ist sie wieder weg und kommt nicht zurück – einen kurzen Hinweis gibt der Film später mal, dass sie einfach wo anders eine neue Familie gefunden und ihre alte aus dem Gedächtnis verbannt hat. Eine Weile schlagen sich die Kinder noch tapfer durch’s Leben, halten eine gewisse Ordnung aufrecht, aber dann verwahr­losen sie zunehmend.

Kore-Eda (AFTERLIFE) erzählt das ganz undra­ma­tisch, aber ohne Kühle. Anstatt in verschie­denen Szenen die emotio­nalen Höhen und Tiefen auszu­loten, bestimmte Gefühle in bestimmten Momenten zu bündeln und hervor­bre­chen zu lassen, schafft er es, ein sehr präzises Grund­ge­fühl zu destil­lieren, das gleich­mäßig den gesamten Film durch­zieht: Eine ganz genau abge­stimmte Mischung aus (teils eigent­lich wider­sprüch­li­chen Seelen-Farbtönen wie) Trau­rig­keit, Resi­gna­tion, Hoffnung, Zärt­lich­keit, Verspielt­heit, Einsam­keit. Im Gegensatz zu den beiden anderen Filmen gibt es kaum plötz­liche, bedroh­liche Krisen – fast alles passiert graduell, kündigt sich langsam an; und Kore-Eda läßt es seinen Film hinnehmen gleich einem Kind, das von der Welt noch nicht viel kennen gelernt hat als seine eigenen Situation, das kaum Maßstäbe hat, an denen es die Anor­ma­lität dieser Situation messen könnte, und das daher die Dinge akzep­tiert, wie sie sind, und nur gele­gent­lich ein ungutes Gefühl entwi­ckelt, wenn es zu deutlich mitbe­kommt, das alle anderen NICHT so leben.

In NOBODY KNOWS wird dabei auch äußerst präsent, was in den anderen beiden Filmen auch teils latent mitschwingt, teils schlag­licht­artig aufblitzt – nämlich wie sehr die Mutter selbst noch ein Kind ist, viel­leicht sogar mehr, auf unreifere Art als ihr Nachwuchs. In NOBODY KNOWS spricht sie in diesem typischen, halb schmol­lenden, halb quie­kenden japa­ni­schen Jung­mäd­chen-Tonfall, macht ihren Umgang mit den Kindern wo immer es geht zum Spiel, und legt eine Weltsicht an den Tag, die auf so unre­flek­tierte Art egozen­trisch, so einfach struk­tu­riert und auf so naive Weise frei von Verant­wor­tungs­ge­fühl ist, dass sie einer Fünf­jäh­rigen gehören könnte. Es ist dies letzlich viel­leicht der größte Horror, der in allen drei dieser Filme steckt: Dass all diesen Kindern jener Puffer zur Welt genommen ist, den Eltern eigent­lich darstellen sollten. Dass ihnen viel zu früh die Verant­wor­tung aufge­bürdet wird, ihre Über­le­bens-Regeln und -Stra­te­gien selbst zu finden. Und so wenig heftig NOBODY KNOWS an der Ober­fläche im Vergleich mit den anderen beiden Werken scheinen mag – er ist an diesem funda­men­talen Grauen genau deshalb viel inten­siver dran.

Mit dem Entdecken thema­ti­scher (oder sonstiger) Gemein­sam­keiten scheinbar dispa­rater Film­fes­tival-Beiträge ist es wie mit Verschwörungs­theo­rien: Wenn man einmal anfängt die geheimen Verbin­dungen zu suchen, dann findet man sie plötzlich überall. Und so gehört in gewisser Hinsicht mindes­tens noch ein vierter Film in diese »Verkorkste Kind­heiten«-Reihe, und zwar einer, dem man das auf den ersten Blick überhaupt nicht ansehen würde: Z CHANNEL – A MAGNIFICENT OBSESSION. Das ist eine Doku von Xan Cassa­vetes (der Tochter von John C. und Geena Rowlands) über einen legen­dären Pay-TV-Sender in Los Angeles, der Holly­woods Heimat­stadt (haupt­säch­lich) in den ‘80er Jahren mit einer Art perma­nentem Filmfest versorgte.

Für den Cineasten ein in vielerlei Hinsicht gewinn­brin­gender und faszi­nie­render Film: Weil aus ihm eine Leiden­schaft für das Kino in all seinen mannig­fal­tigen Spiel­arten spricht (der Z Channel war berühmt dafür, vom obskuren B-Picture über Hollywood-Klassiker bis zum europäi­schen Kunstfilm allem, was damals in den USA auf richtigen Lein­wänden kaum Bleibe hatte, eine Heimat zu geben); weil man sofort unbändige Lust bekommt, zig Filme, die in Ausschnitten vertreten sind, mal wieder zu sehen oder sie überhaupt erst zu entdecken (ich hatte noch nie was von Stuart Cooper gehört und seinem Film OVERLORD, aber wenn jemand vom Film­mu­seum München hier zuhört: Bitte, bitte, zeigt den mal!). Und weil der Z Channel – der wohl kaum jemandem außerhalb von L.A. bisher ein Begriff war – offenbar wirklich einen nicht unbe­schei­denen Platz in der jüngeren Film­ge­schichte verdient hat. Nicht nur hat sein Programm anschei­nend eine ganze Gene­ra­tion von Film­schaf­fenden und über Film Schrei­benden entschei­dend geprägt, hat vielen von ihnen ihren ersten Kontakt mit kompletten Tradi­tionen von Kino außerhalb des US-Main­streams verschafft. Es hat anschei­nend auch solche Phänomene wie den »Director’s Cut« (mit) ins Leben gerufen, war verant­wort­lich dafür, dass Filme wie HEAVEN’S GATE, ONCE UPON A TIME IN AMERICA oder IL GATTOPARDO der Öffent­lich­keit in jenen Fassungen zugäng­lich wurden, die von ihren Regies­seuren ursprüng­lich beab­sich­tigt waren.

Aber nicht nur die verspä­tete Wert­schät­zung solcher zunächst verkannter – (auch) weil erst nur vers­tüm­melt zu sehender – Meis­ter­werke ist laut dieser Doku dem Z Channel zu verdanken, sondern auch beispiels­weise SALVADOR und somit der entschei­dende Schub für James Woods' und Oliver Stones Karrieren wäre ohne den enga­gierten Sender damals nach einer kurzen, unbe­ach­teten Kino­aus­wer­tung sang- und klanglos unter­ge­gangen. Das alles also ein inter­es­santes Kapitel Film­ge­schichts-Schrei­bung.

Aber Z CHANNEL – A MAGNIFICENT OBSESSION erzählt noch eine andere, dunklere Story: Die von Jerry Harvey, dem enig­ma­ti­schen Programm­di­rektor des Z Channel. Er war praktisch allein­ver­ant­wort­lich dafür, was wann wie gezeigt wurde auf dem Sender; seiner allum­fas­senden Film­be­ses­sen­heit, seinem Geschmack und seiner Kompro­miss­lo­sig­keit verdankte der Kanal sein Profil, sein Leben, seinen Erfolg. Harvey bleibt, obwohl die zentrale Figur des Film, in Xan Cassa­vetes' Doku eine Art graue Eminenz hinter einem undurch­dring­li­chen Vorhang – der Mann, der sein wahres Leben auf der Leinwand, auf dem Bild­schirm fand, war selbst notorisch kame­ra­scheu, ein paar wenige Fotos, ein paar gemur­melte Sätze aus einem Radio-Interview, mehr Material von Harvey direkt blieb Cassa­vetes nicht zur Verfügung. Sonst gibt es nur die Aussagen der Freunde, Bekannten, Kollegen, für die aber anschei­nend Harvey auch immer ein Stück weit ein Geheimnis blieb.

So versucht der Film auch gar nicht, für das größte Rätsel in Jerry Harveys Leben mehr zu finden als vermut­bare Faktoren einer uner­reichbar blei­benden Lösung: Warum hat Harvey seine Frau und (erst eine Stunde später) sich selbst erschossen? Es gibt in der Doku Skizzen zu Harveys Kindheit, und die eben lassen ahnen, dass diese nicht so völlig weit entfernt gewesen sein dürfte von den privaten Höllen aus TARNATION oder THE HEART IS DECEITFUL ABOVE ALL THINGS.

Und bei aller Verehrung, die in Z CHANNEL Jerry Harvey, dem Helden im Kampf um Öffent­lich­keit für alle, auch die verdrängten Spiel­arten des Films, entge­gen­ge­bracht wird, so läßt zumindest ein ehema­liger enger Freund am Ende die Frage anklingen, ob sich das alles so leicht vonein­ander trennen läßt. Ob die Persön­lich­keit, die sich so obsessiv in Film­welten zurück­ge­zogen hat, dass diese ihr ganzes Leben wurden, wirklich ohne tiefere Verbin­dung sein konnte zu der Persön­lich­keit, die am Ende das eigene Leben und das der Ehefrau auslöschten. Oder ob es da nicht einen gemein­samen Ursprung, verwandte Trieb­kräfte gegeben haben muss. Fragen, die einem als Cineasten schon zu denken geben könnten – wenn man die Zeit hätte und nicht auf einem Filmfest wäre, wo man danach gleich in den dritten (vierte? fünften?) Film des Tages zu eilen hat...