USA 2020 · 92 min. · FSK: ab 16 Regie: Ilya Naishuller Drehbuch: Derek Kolstad Kamera: Pawel Pogorzelski Darsteller: Bob Odenkirk, Alexey Serebryakov, Connie Nielsen, Christopher Lloyd, Michael Ironside u.a. |
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Ein so überraschend wie gelungener toxischer Remix... | ||
(Foto: Universal) |
»I might have overcorrected« – Hutch Mansell (Bob Odenkirk) in Nobody
Es braucht manchmal nicht viel, um ein unwürdiges Alltagsleben in seiner ganzen Armseligkeit zu zeigen. Ilya Naishuller zerbricht es in staccatoartige Segmente, in denen er Hutch Mansell (Bob Odenkirk) in seiner Familie, auf dem Weg zur Arbeit und wieder zurück zeigt. Wie ein guter Aquarellist betont Naishuller die wichtigsten Defizite: Momente aus Beziehungen und einer Erwerbsarbeit, die schon in ihrem Entstehen zu ereignislosen Partikeln verglühen und in der die Müllabfuhr nur zu einer weiteren Degradierung der eigenen Persönlichkeit beiträgt.
Bis genau das passiert, was jeder von uns ja insgeheim auch für seinen Alltag, so armselig er auch ist, hofft. Dass der Alltag sich ändert, dass wir uns ändern, unseren unterdrückten Leidenschaftten mehr Raum geben, dass wir etwas Besseres sind, als die Welt und wir selbst in uns sehen. Für Hutch ist es ein stümperhafter, nächtlicher Einbruch eines Täterpärchens ins eigene Haus, den er noch gelassen hinnimmt, aber dann doch einen alten Furor ins sich spürt, als er merkt, dass auch das liebste Spielzeug seiner kleinen Tochter entwendet wurde. Er macht sich auf die Suche nach den Tätern – eine Suche, die ihn mit seiner dunklen Vergangenheit konfrontieren und schließlich befreien wird, denn wie jeder Stammtischpsychologe weiß, müssen wir unsere Vergangenheit annehmen lernen, um in unserer fragilen, von außen und innen bedrohten Gegenwart glücklich zu sein.
Das mag nicht sonderlich neu klingen, sondern nach dem, was das sogenannte Vigilante-Genre auch bisher schon geschaffen hat, Geschichten über einfache Menschen, die nach einem Angriff auf sich, Freunde, die Familie oder Gesellschaft das Recht in ihre Hand nehmen und sich an den Tätern oder gleich der ganzen Gesellschaft rächen, damit wir sch(l)ussendlich wieder in einer besseren Welt aufwachen können. Sei es Michael Winners »Klassiker« Death Wish (Ein Mann sieht rot, 1974) mit Charles Bronson, Martin Scorseses Taxi Driver (1976) mit Robert de Niro, Arthur Penns Target (1985) mit Gene Hackman und Matt Dillon, Michael Douglas in Joel Schumachers Falling Down (1993) oder in den letzten Jahren dann neue oder reaktivierte Franchise-Formate wie Keanu Reeves in John Wick (ab 2014), The Equalizer 2 (2018) mit Denzel Washington oder Rambo: Last Blood (2019) mit Sylvester Stallone – sie alle sind moralisch fragwürdige Angriffe auf unsere Zivilgesellschaft und Demokratie, befreien uns aber gleichzeitig von unserer Angst, dem Bösen nicht widerstehen zu können und zu schwach zu sein. Es sind Stellvertreter unserer selbst, die dann am stärksten werden, wenn unsere Gesellschaft am schwächsten und unsere Ängste am größten sind.
Ilya Naishullers Nobody fügt sich nahtlos in die Reihe der oben genannten Filme ein. Und das nicht nur, weil John Wick-Drehbuchautor Derek Kolstad mit an Bord ist und sich einige Kernelemente der John Wick-Reihe auch in Nobody wiederfinden – so wie etwa das erzählerische Leitmotiv des entwendeten Spielzeugs der Tochter, das in John Wick der Hund ist, den der Titelheld kurz vor dem Tod seiner Frau von ihr geschenkt bekommen hat. Sondern auch, weil Kolstad und Naishuller nicht nur alte Vigilante-Klassiker zitieren, sondern über den Hauptdarsteller Odenkirk die wohl erfolgreichste und beste Vigilante-Serie der letzten Jahre, Breaking Bad, referenzieren. Odenkirk, der dort noch Anwalt ist und von Rache oder Gewalt nichts wissen will, wird in Nobody zu dem, der er in Breaking Bad und dem Spin-off Better Call Saul nie hat sein können, weil die Rolle bereits an Walter White vergeben war.
Doch wie auch schon Better Call Saul, das weit mehr als ein Spin-off ist, entwickelt sich auch Nobody zu weit mehr als nur einer Referenz auf Klassiker des Genres und Breaking Bad, sondern emanzipiert sich sehr schnell zu einer eigenen Form. Denn schnell wird deutlich, dass wir uns zum einen zwar auf dem moralisch dünnen Eis eines alten Genres bewegen, zum anderen aber über die vielschichtige schauspielerische Leistung von Odenkirk und ein auch dialogisch scharf getaktetes Drehbuch in schwarz-humorige Thriller-Weiten eintauchen, die am ehesten an die Coen-Brüder erinnern, an Filme wie Fargo und vielleicht noch mehr an die von den Coen-Brüdern produzierte Serie Fargo.
Dieser toxische Remix ist so überraschend wie gelungen und wird mit so ungewöhnlichen Rollenbesetzungen durch Aleksei Valeryevich Serebryakov (Leviathan) und Christopher Lloyd (Back to the Future) in seiner Absurdität noch einmal gesteigert, so dass bei all der grotesken, brachialen Zerstörungswut und Gewalt mit ihrer triefend-ironischen Anbiederung an die Lobgesänge der National Rifle Association die kreative Gewalt und der ausgelebte Spass, hier etwas völlig Neues aus einem alten Genre zu schaffen, bei weitem überwiegen.