Oeconomia

Deutschland 2020 · 89 min. · FSK: ab 0
Regie: Carmen Losmann
Drehbuch:
Kamera: Dirk Lütter
Schnitt: Henk Drees, Carmen Losmann
Filmszene »Oeconomia«
Eine so glänzende wie präzise Analyse unserer gegenwärtigen Finanzwelt.
(Foto: NEUE VISIONEN)

Der sterbliche Gott

Unseren täglichen Kredit gib uns heute: Carmen Losmanns Oeconomia taucht ein ins Phantasma unseres Wirtschaftens und berührt den Elefant im Raum

»Der Typus des kapi­ta­lis­ti­schen reli­giösen Denkens findet sich großartig in der Philo­so­phie Nietz­sches ausge­spro­chen. Der Gedanke des Über­men­schen verlegt den apoka­lyp­ti­schen 'Sprung' nicht in die Umkehr, Sühne, Reinigung, Buße, sondern in die scheinbar stetige, in der letzten Spanne aber spren­gende, diskon­ti­nu­ier­liche Stei­ge­rung. ... Und ähnlich Marx: der nicht umkeh­rende Kapi­ta­lismus wird mit Zins und Zinses­zins, als welche Funktion der Schuld (siehe die dämo­ni­sche Zwei­deu­tig­keit dieses Begriffs) sind, Sozia­lismus.«
- Walter Bejamin »Kapi­ta­lismus als Religion«

Geld oder »gelt« bedeutet Opfer. »Wie wird Geld produ­ziert?« – das ist scheinbar eine Kinder­frage, die ein wenig zum Lachen reizt. Genau genommen aber eines der kompli­zier­testen Probleme der Wirt­schafts­welt.

Was ist Geld? Wie entsteht Geld? Wo kommt das Geld her? Wie kommt das Geld in die Welt? Diese Fragen, von denen dieser Film ausgeht, und die er virtuos entfaltet, sind irgendwie fast zu einfach, so einfach, dass sie auf den aller­ersten ober­fläch­li­chen Blick geradezu naiv anmuten mögen, danach erscheinen sie schwer verständ­lich und wahn­sinnig kompli­ziert. Doch am Ende gelingt es dem Film, dass der Zuschauer einer Antwort nahe kommt oder zumindest die Fragen richtig versteht.

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Ein Best­seller dieses Herbstes trägt den Titel Das Ende des Geldes, wie wir es kennen (C.H.Beck Verlag). Das wirft die Frage auf: Kennen wir das Geld überhaupt?
Klar: Sehr allgemein formu­liert ist Geld eine soziale Über­ein­kunft, die sich im Laufe der Geschichte fort­wäh­rend verändert. In der Geschichte der Mensch­heit war Geld ein Schmier­mittel des Waren­ver­kehrs. Ein Symbol.

Gerade wandelt es sich plötzlich: Überall auf den Bank­konten verschwinden die Zinsen für die Sparer. Zum Teil muss man Gebühren bezahlen – was eher dazu führt, dass manche Menschen ihr Geld unter dem Kopf­kissen bunkern, anstatt dazu, dass sie es in digitale Nullen verwan­deln. Ganz offen­sicht­lich sind größere Teile der Gesell­schaft daran inter­es­siert, dass wir nicht mehr mit Geld bezahlen. Oder anders gesagt, dass unser Geld komplett virtua­li­siert ist, also nicht mehr anfassbar in Form von Scheinen und Münzen, sondern nur noch ein Zahlen­spiel auf einer digitalen Karte.
Das muss nicht so sein. Ausge­rechnet im Kapi­ta­lismus-Paradies USA regt sich Gegenwind: In Städten wie New York und San Francisco bewog der Bürger­wille die Politik, bargeld­lose Restau­rants und Geschäfte zu verbieten. Bargeld ist ein Bürger­recht. Bargeld ist eine Freiheit, die es zu vertei­digen gilt.

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Dieser Film ist mutig, denn er hat sich ein abstraktes Thema vorge­nommen, er ist gleich­zeitig sinnlich und klug.
Oeconomia ist eine über­ra­schende und erstaun­lich unter­halt­same Reise in die Finanz­welt. Reise­füh­rerin ist die 1978 geborene Doku­men­tar­film­re­gis­seurin Carmen Losmann. Die Regis­seurin hat es nicht leicht gehabt, einen direkten Zugang zu vielen Managern der Spit­zen­ebenen der deutschen Wirt­schaft zu bekommen. Darum bedient sie sich gezwun­ge­ner­maßen, aber zum Nutzen des Films dreier Abstrak­ti­ons­ebenen oder Vorge­hens­weisen:

Erstens Tele­fo­nate, in denen es zu Diskus­sionen mit der anderen Seite kommt oder in denen Inter­views und Zusam­men­ar­beiten abgesagt werden – sie stellt nach mit Schau­spie­lern und insoweit anony­mi­siert, dass man nicht sofort weiß um wen es sich handelt. Wir Zuschauer müssen ihr hier vertrauen, dass sie das Erfahrene und Erlebte korrekt und doku­men­ta­risch unver­fälscht wieder­gibt.

Die zweite Ebene ereignet sich dann bei den Inter­views, die sie führen kann. Sie lässt die Inter­views nämlich auch dann weiter laufen, wenn es Unter­bre­chungen gibt, sie schneidet nicht weg, wo die Gesprächs­partner ratlos wirken, wo sie Bemer­kungen machen wie, dies sei eine schwie­rige Frage oder »können wir diese Frage vertagen?«, oder in denen sie von ihrem Assis­tenten bzw. PR-Berater, der im Off sitzt, unter­bro­chen werden, oder Antwort­mö­g­lich­keiten zuge­spro­chen bekommen.
Besonders lustig ist dies im Fall eines Managers der Euro­päi­schen Zentral­bank. Der wird von seinem Pres­se­spre­cher korri­giert, und korri­giert dann aber wiederum diesen, und sagt sinngemäß: »Nein, nein Sie verstehen das nicht richtig. Es ist viel kompli­zierter.«

Losmann findet Mittel und Wege, um die sehr abstrakten Dinge, von denen sie erzählt, sichtbar und zum Teil sinnlich erfahrbar zu machen: Manchmal ganz direkt mit aufre­gender unge­wöhn­li­cher Computer-Grafik, manchmal indirekt durch die Reak­tionen anderer Menschen, die sie sichtbar macht.

Zum Beispiel eine Runde von Experten, die wie ein grie­chi­scher Chor das kommen­tieren und spiegeln und auch verstärken, was geschieht, und sagen, was wir auf der Leinwand aus nahe­lie­genden Gründen nicht zu hundert Prozent sehen können. So geht dieser Film weit über die bekannten Kritiken am Wirt­schafts­wachstum als heiliger Kuh des post­in­dus­tri­ellen Kapi­ta­lismus hinaus.

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Wir lernen Stück für Stück den »Elefant im Raum« kennen: Nämlich die Art und Weise, wie Geld buchs­täb­lich aus dem Nichts durch ein paar Compu­ter­striche doppelter Buch­füh­rung geschaffen wird: Geld entsteht durch Schulden. Durch Kredite. Indem eine Bank einem Kunden einen Kredit gewährt, mit dem sie einen Gewinn erwartet.
Banken setzen das Geld in die Welt. Per Mausklick, per Druck – nicht etwa weil dem ein reales Guthaben gegenüber stünde.

Am über­ra­schendsten an dieser Reise durch die abge­ho­bene Welt einiger Chef­etagen der deutschen Wirt­schaft ist diese Antwort: Geld ist vor allem virtuell. Das wenigste Geld existiert so wie wir es uns immer noch aus jahr­hun­der­te­alter Gewohn­heit vorstellen: In Form von Münzen und Scheinen, als Symbol für einen Gegenwert. Das meiste existiert in Form von Zahlen in Bilanz­pa­pieren.
Und Gewinne sind nur möglich, wenn jemand anderer Schulden macht.
Im Prinzip handelt es sich um ein absurdes Null­sum­men­spiel, bei dem Zahlen zwischen Soll und Haben hin und herge­schoben werden. »Es funk­tio­niert so lange es funk­tio­niert« – lautet das fata­lis­ti­sche Fazit dieses unter­halt­samen, inhalts­rei­chen Films.

Geld ist der sterb­liche Gott unseres Zeit­al­ters. Ein Gott, nicht weil wir ihn alle anbeten, sondern weil er sich uns nicht zeigt, weil er in seinem Wesen für uns alle immer unsichtbar bleibt. Sterblich, weil das Geld verschwindet. Weil es sein Wesen grund­le­gend wandelt, und am Morgen nach dieser Verwand­lung nicht mehr zu denken ist.

Dieser Film ist stel­len­weise ziemlich witzig, und stel­len­weise bewusst belehrend. Es ist ein Film, dem es gelingt, ein schwie­riges Thema verständ­lich zu machen. Aber es ist auch ein Film, der sich dem Zuschauer nicht anbiedert.
Carmen Losmanns Talent ist es, in verein­fachten, relativ leicht verständ­li­chen Aussagen den schieren System­wahn­sinn unserer heutigen Finanz­wirt­schaft fest­zu­halten. Das Ergebnis zeigt, wie virtuell und absurd unser Wirt­schaften inzwi­schen geworden ist. Oeconomia ist eine so glänzende wie präzise Analyse unserer gegen­wär­tigen Finanz­welt.