Frankreich 2004 · 111 min. · FSK: ab 0 Regie: Agnès Jaoui Drehbuch: Agnès Jaoui, Jean-Pierre Bacri Kamera: Stéphane Fontaine Darsteller: Marilou Berry, Agnès Jaoui, Jean-Pierre Bacri, Laurent Grévill, Virginie Desarnauts u.a. |
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Fingerzeige von Agnès Jaoui |
Pierre Cassard ist Schriftsteller. Ein sehr erfolgreicher sogar. Trotz der über fünfzig Lebensjahre ist er immer noch attraktiv und der Star jeder Gesellschaft. Er kann es sich leisten, gelegentlich andere seine Autorität spüren zu lassen. Denn um ihn dreht es sich stets. Seine zweite Ehefrau, mit der er eine kleine Tochter hat, heißt Karine, ist Mitte Zwanzig, blond, groß und schlank. So wie Cassard die Frauen mag – auch wenn es ihm nicht immer auf die Haarfarbe ankommt. Schon aus erster Ehe hat Cassard eine Tochter. Hoffnungsvoll hatte er sie Lolita getauft. Jetzt ist sie Zwanzig, aber klein, rundlich und ohne Selbstvertrauen. Sie wäre gern Schauspielerin, nimmt Gesangsunterricht. Ihr Vater aber interessiert sich gar nicht für sie.
In Sachen gewichtiger Komödien ist das französische Kino seiner Konkurrenz meist weit voraus. Das Spinnen von leichten Handlungsfäden um den schwerwiegenden Kern einer Geschichte beherrscht man in Frankreich wie nirgends sonst. Dieses Jahr wurde in Cannes Schau mich an! mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnet. Aus der Übermacht an politisch ernsten Filmpreis-Gewinnern glänzt diese Auszeichnung 2004 ganz besonders heraus. Mit dem Autorenpaar Agnès Jaoui und Jean-Pierre Bacri hat es zudem zwei Hauptakteure der französischen Komödie getroffen. Beide arbeiten schon lange als Drehbuchschreiber und Schauspieler. Schau mich an! ist außerdem die zweite Regiearbeit von Agnès Jaoui, die seit ihrem Debüt Lust auf Anderes (2000), der mit vier Césars und einer Oskar-Nominierung bedacht wurde, die derzeit erfolgreichste Regisseurin Frankreichs ist.
Was schnell zum Familiendrama werden könnte, macht Jaoui von Anfang an zur Satire. Dass trauriger Ernst und charmanter Witz immer zur selben Sache gehören, beweist schon der sprechende Namen der Protagonistin. Lolita fühlt sich in ihrem fülligen Körper unwohl und verhält sich dementsprechend passiv. Der zerknautschte Hundeblick und der tapsigen Gang, mit dem Marilou Berry ihre Figur einsam durch die pulsierende Pariser Welt stapfen lässt, verschließen ihr viele Türen. Selbst wenn der Vater der Stargast einer schicken Premierenparty ist: Lolita schaffte es nicht am Türsteher vorbei. Auch ihre Gesangslehrerin Sylvia, von Agnès Jaoui selbst gespielt, möchte die launische Schülerin am liebsten los werden – aber nur so lange, bis Sylvia vom berühmten Schriftsteller-Vater erfährt. Hat die Gesangslehrerin doch mit Pierre einen recht erfolglosen Autor zum Ehemann. Die Beziehung zum berühmten Cassard wäre für seine Karriere natürlich hilfreich. So kommt es zum ereignisreichen Wochenende in Cassards Landhaus, wo die Männer ihre Machtspielchen beim Schach austragen, die Frauen aber in der Flucht nach Außen die Zweisamkeiten auf die Probe stellen.
Mit der scharfen Klinge des Humors seziert Schau mich an! das Objekt zwischenmenschliche Beziehung, das hier mit so vielen Gesichtern daher kommt. Die gradlinige Sylvia sagt Pierre, was zu tun ist. Der schafft es aber nicht so recht aus seiner Lethargie heraus. Auch Cassard gegenüber ist Pierre unterwürfig, setzt dafür sogar seine Ehe aufs Spiel. Eigennutz trifft auf Hinterhältigkeit, Stärke wird gegen Angepasstheit ausgespielt. Unter dem Anstrich einer Rohmerschen Lockerheit bringen die Dialoge so manch rauen Charakter an die Oberfläche. Urtyp des auf den ersten Blick integren Geschäftsmannes, in Wirklichkeit aber völlig lebensunfähigen Menschen ist Cassards Assistent Vincent: er redet seinem Chef ohne Sinn und Verstand nach dem Mund, und wenn Cassard Lust auf eine bestimmte Flasche Wein hat, dann fährt Vincent natürlich dafür durch ganz Paris.
Der Knotenpunkt aller ist der selbstverliebte Cassard. Unerhört bösartig spielt ihn Jean-Pierre Bacri den ganzen Film hindurch. Wenn ihm der Ton des Taxifahrers nicht gefällt, oder Karine die kleine Tochter seiner Meinung nach nicht richtig ernährt: Pierre erhebt dann die Stimme und den Blick Er hat die Macht, mit der er seinen Willen immer durchsetzen kann. Schau mich an! ist die detaillierte Anleitung dafür, wie man am besten zu einem skrupellosen Erfolgsmenschen wird. Lolita hat ihrem Vater und der Umwelt nur eine verdrückte Stimme und einen gesenkten Blick entgegen zu setzten. Einzig in der Musik traut sie sich aus sich heraus: herrliche Töne lässt sie da plötzlich erklingen. Aber auch damit kann der Vater nichts anfangen. Während ihres Auftritts in einer Kirche hat er einen literarischen Einfall und verlässt fluchtartig das Konzert, um sich danach mehr für eine andere Sängerin, eine ausnehmend hübsche, als für seine Tochter zu interessieren. Doch Lolita bekommt dadurch endlich die nötige Streit-Energie, die für das herzhafte Finale nötig ist.
Trotz der entspannten Erzählweise wird Schau mich an! von Problemen und Komplexen angetrieben, nimmt sich dieser ernsthafter an – Schubert und Monteverdi sorgen auch musikalisch für die nötige Schwere –, als man es von anderen Beziehungskomödien gewohnt ist. Gerade auch wenn sie vom Drehbuchschreiberpaar Bacri-Jaoui stammen. Waren ihr Smoking / No Smoking (1993) für Alain Resnais noch formale Kunstgriffe, balancierte schon Typisch Familie! (1996) für Cédric Klapisch zwischen trauriger und komischer Familienfarce. Vor allem aber Das Leben ist ein Chanson (1998), ebenfalls wieder unter der Regie von Resnais, legte eine ungeheuer humorvolle Leichtigkeit über den Reigen an einsamen Herzen, welche sich rührend um neue und alte Zweisamkeiten kümmern, dabei in jeder Szene ihre Gefühlslage in einem berühmten Chanson kund tun. Schau mich an! bietet weniger solcher Szenen, in denen die Schwermut in heiterem Gewand auftritt. Dagegen gibt es bissige Alltagsbeobachtungen: von Beziehungen mit anderen – und mit sich selbst.