Sin City

USA 2005 · 124 min. · FSK: ab 18
Regie: Frank Miller, Robert Rodriguez
Drehbuch:
Kamera: Robert Rodriguez
Darsteller: Bruce Willis, Mickey Rourke, Jessica Alba, Clive Owen, Nick Stahl u.a.
Jenseits der Lektüre: Sin City mit Jessica Alba

Total Ver-Filmt

Woher kommt eigent­lich dieses seltsame Verlangen nach Verfil­mungen? Warum wollen die Leute, sobald ihnen ein Buch gefällt, dieses auch auf der Leinwand sehen?

Die Rede ist nicht von Regis­seuren wie Hitchcock oder Kubrick, bei denen der Großteil ihrer Filme eine lite­ra­ri­sche Vorlage hat – die diese aber stets nur als Rohma­te­rial, als Stoff benutzen, der ihnen Ideen, Themen, Struk­turen lieferte, aus denen sie dann sehr eigen­s­tän­dige, durch und durch »filmische« Werke schaffen. So wie ein Schubert Gedichte brauchte, die er vertonen konnte, ein Van Gogh reale Land­schaften als Motive benötigte.

Die Rede ist von »werk­treuen« Verfil­mungen, die sich lediglich als Über­set­zungen vom einen Medium ins andere begreifen. Es wäre ein Kurz­schluss, im Fall von Best­seller-Adap­tionen wie Harry Potter oder Lord Of The Rings mit dem kommer­zi­ellen Potential, mit der sozusagen »vorin­stal­lierten Nutzer­basis« zu argu­men­tieren. Denn – auch wenn damit die Motive der Inves­toren erklärbar sein mögen – das eigent­liche Rätsel bleibt ja: Warum genügt den Menschen – und gerade den Fans eines Buches – nicht das Erlebnis der Lektüre? Warum braucht es eine Kino-Umsetzung – über die man sich meistens ohnehin nur beschwert sie sei »nicht wie das Buch«? Und warum werden Regis­seure nicht müde, sich selbst an solch definitv, absolut und endgültig unver­film­baren Romanen wie Moby-Dick, Ulysses oder À la recherche du temps perdu zu versuchen?

Es muss vermut­lich mit einem unter­be­wussten (und unsin­nigen) Gefühl eines grund­le­genden Defizits des Mediums Literatur in unserer heutigen Kultur zusam­men­hängen: Uns gelten die foto­gra­fisch/audio­vi­su­ellen Medien Kino und Fernsehen als die voll­s­tän­digsten Abbil­dungs­tech­niken – die eigent­liche Stärke der Literatur, sich nämlich nicht an Konkretes binden und nicht in fester Realzeit ablaufen zu müssen betrachtet man dagegen als Unvoll­s­tän­dig­keit.

Diese Art von Verfil­mung will eine vermeint­liche Lücke schließen, will konkret machen, was im Kopf Spielraum hat, und ist rech­tei­gent­lich eine reine Illus­tra­ti­ons­kunst, das moderne Äqui­va­lent zu seit dem Mittel­alter geläu­figen Buch­be­bil­de­rungen.

Robert Rodriguez ist es nun mit Sin City gelungen, dieses Miss­ver­s­tändnis noch einmal zu poten­zieren: In seiner (vers­tänd­li­chen und berech­tigten) Begeis­te­rung über Frank Millers gleich­na­mige hard-boiled Comic-Serie – die ja nun schon eigene Bilder HAT – empfand er es offenbar als Manko, dass deren ultras­ti­li­sierte Bilder nicht bewegt sind. Und in seinem Bemühen um »Werktreue« hat er frei­willig ein Höchstmaß an kreativer Gestal­tungs­frei­heit abgegeben: Sein Film ist stolz darauf, jedes Panel und jeden Buch­staben aus den Comic-Vorlagen so identisch wie möglich auf die Leinwand gehievt zu haben, praktisch nichts wegge­lassen und nichts hinzu­ge­fügt zu haben.

Vergleichbar ist die Absur­dität des Ganzen höchstens noch mit Gus van Sants Psycho-Remake, das Hitch­cocks Vorbild (in Wahrheit auch nur angeblich) Einstel­lung für Einstel­lung reinsze­nierte – aber immerhin noch als subver­sives Stück Avant­garde-Kino lesbar war. Rodriguez' Sin City hingegen ist eine gut gemeinte, aber im Resultat reichlich entgleiste Tran­skrip­ti­ons­ar­beit: Quasi das umge­kehrte Äqui­va­lent zu jener hoch­gradig nutzlosen Erfindung der deutschen Film­wis­sen­schaft – hervor­ge­gangen aus der Germa­nistik und daher mit einem tief bildungs­bür­ger­li­chen Miss­trauen gegenüber allem Visuellen und Sinn­li­chen beerbt –, den Film­pro­to­kollen: Einer Fleiß­ar­beit für Gene­ra­tionen von Studenten, bei der Filme in »objek­tiven« Text, Beschrei­bungen jedes Bilds und jedes Tons überführt werden sollen. Wobei zuver­lässig zwei Dinge abhanden kommen: Die Essenz und das Feeling des tran­skri­bierten Werks.

Das Problem mit Robert Rodriguez ist, dass eigent­lich viele seiner Prin­zi­pien einem sehr sympa­thisch sein müssen, die konkreten künst­le­ri­schen Resultate aber meist ziemlich nerven.

Er ist ein Bastler und Tüftler; einer, der Orson Welles' Wort vom Kino als großar­tige Modell­ei­sen­bahn, als gigan­ti­sches Spielzeug hochhält; ein Nachfahre der Kino­pio­niere, die noch alles selbst gemacht haben, vom Drehbuch über Design und Kamera bis zum Schnitt; einer, der sich seine unab­hän­gige Nische im Hollywood-System erkämpft und vertei­digt hat. Einer, der weiß, dass das Kino auch ohne Millio­nen­budget für Spezi­al­ef­fekte eine wunder­bare Illu­si­ons­ma­schine ist und oft ein geschickter Schnitt mehr im Kopf der Zuschauer ablaufen lassen kann als alle CGI-Anima­toren von Indus­trial Light & Magic zusammen. Also eigent­lich ein Mann ganz nach unserem Herzens­ge­schmack. (Mal von seiner gräß­li­chen Begeis­te­rung für das komplett digitale Kino abgesehen.)

Auch der enorme Respekt, den er in Sin City der Vorlage entgegen bringt, ist ja zunächst mal etwas Löbliches. Rodriguez ist sogar aus der ameri­ka­ni­schen Regis­seurs-Gewerk­schaft ausge­treten, um Frank Miller als Co-Regisseur anheuern und in den Credits nennen zu dürfen. Der Film ist zwei­fels­ohne eine »labor of love«, und allein deswegen würde man ihm ja gerne auch selbst mehr Liebe entge­gen­bringen.

Aber zwei Dinge haben Rodriguez schon immer davon abge­halten, bei allen erreichten Höhen (El Mariachi, Desperado) und boden­losen Tiefen (The Faculty), endlich einmal was richtig Großes, Blei­bendes abzu­lie­fern.

Sein Selbst­ver­s­tändnis hat ihn stets daran gehindert, bisher auch nur einen einzigen seiner Filme wirklich ernst zu nehmen. Wie Stephen King, der auch gern behauptet, nur das lite­ra­ri­sche Äqui­va­lent zu Big Mäcs abzu­lie­fern und sich mit dieser Ansicht manchmal selbst ausbremst, bevor er seinem enormen erzäh­le­ri­schen Talent gerecht werden könnte, schlägt bei Rodriguez die angenehme Abwe­sen­heit von Präten­tion um in eine Flucht vor Belang­vollem. Es ist eine Sache, immer mal wieder gerne Filme abliefern zu wollen, die keinen anderen Anspruch an sich selbst stellen, als eine prima Achter­bahn­fahrt zu bieten. Aber Rodriguez macht nun seit zwölf Jahren Spiel­filme, und nicht ein einziges Mal hatte man bisher das Gefühl, dass er was zu sagen hätte, dass er einen emotional wirklich berühren möchte, dass da etwas bleiben soll, fünf Minuten nachdem man das Kino verlassen hat. Alles will bei ihm immer nur cool und hip sein. Und gerade bei Sin City, wo es um einige ziemlich heftige Themen wie Kindes­miss­brauch geht, reicht das nicht.

Und, zweites grund­le­gendes Problem: Rodriguez hat ums Verrecken kein Rhyth­mus­ge­fühl. Es gelingen ihm allen­falls immer mal wieder wunder­bare 5-Minuten-Sequenzen – es ist kein Zufall, dass eine seiner schönsten Arbeiten ein Kurzfilm-Segment aus dem Episo­den­film Four Rooms ist. Aber auf Langstre­cken, auf Spiel­film­länge, fehlt ihm das Gespür für einen drama­tur­gisch befrie­di­genden Aufbau, für weit­grei­fende Span­nungs­bögen, für Höhe­punkte. Weshalb seine Filme auch so oft auch gerade als die gewünschte Achter­bahn­fahrt versagen: Weil sie nur versuchen, einen Looping an den anderen zu reihen.

Das kommt auch daher, dass Schnitt für Rodriguez sowas ist wie die Noppen an den Lego-Steinen: Eine Möglich­keit, die Bausteine, mit denen er spielt, anein­an­der­zu­do­cken. Es ist bezeich­nend, dass Rodriguez sich den Schnitt so oft durch äußere Gege­ben­heiten diktieren lässt: Seine berühmt kosten­spa­rende und rasante Arbeits­weise beruht nicht zuletzt darauf, nicht lange an der Reali­sie­rung einer vorab für nötig befun­denen Einstel­lung zu tüfteln, sondern zu sehen, was sich schnell und billig filmen lässt und wie man aus diesen (oft sehr kurzen) Elementen in der Montage die Illusion des gewünschten Gesche­hens zusam­men­s­tü­ckelt.

Als Mittel Struktur, Balance, Musi­ka­lität in einen Film zu bringen, hat Rodriguez den Schnitt noch nicht entdeckt. Und das kommt wiederum in Sin City besonders zum Tragen, da der im Prinzip, auf drei großen Story-Arcs der Sin City-Comic-Reihe beruhend, ein leicht verschach­telter Episo­den­film ist – was unter den besten Bedin­gungen nicht leicht zu einem harmo­ni­schen Ganzen zu fügen ist.

Von besten Bedin­gungen ist dieser Film aber weit entfernt. Denn bei Sin City kommt zu alledem ein spezi­elles, grund­le­gendes Miss­ver­s­tändnis: Der Glaube, dass die Treue zum Buch­staben auto­ma­tisch zu einer Treue im Geist führt, und die Annahme, ein Comic sei nichts anderes als ein Story­board.

Wie anfangs erwähnt: Sin City hängt sklavisch an seiner grafi­schen Vorlage. Als (erstaun­lich weit­ge­hend durch­ge­hal­tene) Grund­regel gilt: Jedes Panel des Comics gibt im Film eine Einstel­lung, jede Sprech­blase wird zum Dialog, jedes Text­käst­lein zum Voice Over. Der hyper­sti­li­sierte Schwarz­weiß-Look mit gele­gent­li­chen mono­chromen Farb­ele­menten von Millers Zeich­nungen wird durch Digi­tal­technik weitest­mög­lich imitiert.
Doch dahinter steckt eine mehr als naive Vorstel­lung davon, wie die Medien Film und Comic funk­tio­nieren, und wie Eins-zu-eins ihre Beziehung zuein­ander sei.

Was Rodriguez voll­kommen ignoriert: Comic operiert als Medium vordring­lich im (zwei­di­men­sio­nalen) Raum, Film in der Zeit. Es macht bei einem Comic einen gewal­tigen Unter­schied, wo auf einer Seite ein Panel steht, welche Rahmen­form es hat, mit wievielen anderen Panels es sich die Seite teilt, wie symme­trisch oder unsym­me­trisch ihre Auftei­lung unter­ein­ander ist, etc. Frank Millers Sin City spielt meis­ter­haft mit dieser Dynamik, setzt z.B. einige wirklich eindrucks­volle drama­tur­gi­sche Akzente durch Bilder, die plötzlich über eine ganze (oder gar: Doppel-)Seite gehen. In ihrem treu­doofen Eifer, jedes Einzel­bild deckungs­gleich auf die Leinwand abzu­pausen, aber eben immer in voller Breit­wand­größe und hübsch eins nach dem anderen, hat Rodriguez' Adaption dem nichts Vergleich­bares entge­gen­zu­setzen, beraubt Millers Material genau eines seiner wich­tigsten Gestal­tungs­mittel und -merkmale.

Ähnlich die Entschei­dung, keinen Buch­staben der Comics wegfallen zu lassen: Text­kästen in Comics haben eine andere Funktion und Wirkung als ein Voice Over im Film, inter­agieren ganz anders mit den Bildern. Ein Voice Over hat einen viel distan­zie­ren­deren Effekt, degra­diert das Visuelle mehr zur Illus­tra­tion, weckt viel stärker den Eindruck von etwas bloß Erzähltem statt etwas Miter­lebtem. Rodriguez' Sin City hält das Publikum mit seiner Erzähl­stimmen-Text­las­tig­keit über weite Strecken ziemlich außen vor, lässt einen nicht in die Gegenwart des Gezeigten eintau­chen. Es ist das alte Leid vieler Adap­tionen in ein anderes Medium: Je mehr ein Werk speziell in seinem Medium funk­tio­niert, je mehr und gekonnter es dessen beson­deren Mittel und Gege­ben­heiten nutzt, um so weniger bleibt man ihm in einem anderen Medium treu, wenn man nur posi­ti­vis­tisch den vermeint­li­chen »Inhalt« rüber­schau­felt, ohne dessen Wie und Warum zu beachten.

Gut, werden jetzt viele sagen, aber ich habe die Comics nie gelesen, also was juckt micht das alles? Es juckt erheblich, weil Sin City für sich genommen eben kein funk­tio­nie­render Film ist. Weil sein oberstes Ziel war, in Treue fest zu Frank Millers Vorlage zu stehen, und er sich herzlich wenig Gedanken darüber gemacht hat, was er als eigen­s­tän­diges Werk zu bieten hat.

Da ist zunächst Rodriguez' schon beschrie­benes Problem mit dem Rhythmus, dass dadurch nicht besser geworden ist, dass er sich diesmal den Schnitt weit­ge­hend von Millers Comics diktieren ließ. Da ist seine gewohnte Tendenz, Schau­spieler eher als deko­ra­tives Element zu benutzen. Immerhin hat er ein beacht­li­ches Ensemble beiein­ander, das aus Darstel­lern besteht, die tatsäch­lich die nötige ikono­gra­phi­sche Präsenz haben, um ihre Rolle im Wortsinn zu VERKÖRPERN, mehr als sie zu SPIELEN: Männer wie Bruce Willis, Mickey Rourke, Michael Madsen, Frauen wie Rosario Dawson sind großar­tige Film-TYPEN, die wie ihre Comic-Vorbilder beim ersten Anblick schon alles Wesent­liche über ihre Figur erkennen lassen. Aber sie bleiben unter Rodriguez Führung auch nur Typen, werden keine Persön­lich­keiten, und emotional bleibt ihr Schicksal gänzlich unberüh­rend, sind auch Liebe, Obses­sionen, Tod nicht mehr als kühle Design-Elemente in einem großen Versatz­stück-Puzzle.

Es hilft dabei nicht, dass das Ausgangs­ma­te­rial nun auch schon seine rund 10 Jahre auf dem Buckel hat und nicht alles daran glücklich gealtert ist. Als die ersten Sin City-Bände erschienen, war in der Popu­lär­kultur die Seri­en­killer-Welle noch heftig am Wogen, und speziell die »That Yellow Bastard«-Story surfte freudig darauf mit.

Unsere Kultur ist inzwi­schen eine andere geworden, unsere Monster sind es auch, und die Fantasien dieser Story wirken heute seltsam fremd, anti­quiert, unzu­gäng­lich. Inspi­riert war Frank Miller damals vor allem von neo-noir, neo-hard boiled Autoren wie James Ellroy und Andrew Vachss, die als Erben von Chandler, Hammett und Konsorten die klas­si­sche urbane Härte, den Männer­schweiß und die Melan­cholie des Genres mit den Seri­en­killer-Motiven eines Thomas Harriss, der Splat­ter­film-Welle kreuzten. Damals war Miller damit auf der Höhe der Zeit, aber mit solch zeit­li­chem Abstand so 1:1 wieder aufgelegt, wirken z.B. die vom Killer als Trophäen an die Wand montierten Frau­en­köpfe nur noch wie ein Relikt. Es hat seine guten Gründe, dass Ellroy sich mit seiner (noch unvoll­endeten) American Under­belly-Trilogie längst in ganz andere Rich­tungen weiter­ent­wi­ckelt hat, während Vachss sich zunehmend in die Bedeu­tungs­lo­sig­keit schreibt.

Außerdem hat Millers Stilwille meistens (aber zuge­ge­be­ner­maßen auch nicht immer) selbst Seri­en­killer-Einlagen oder Ninja-Huren unter ein gene­relles Noir-Feeling gespannt bekommen. Gerade das Feeling, der Geist des Ganzen aber ist bei Rodriguez ein tenden­ziell anderer. Sein permanent zwangs-cooler, -hipper Blick (nicht zuletzt auf die exzessive Gewalt) bringt die unreifen Züge von Millers Werk viel stärker zum Tragen. Im Film kommt alles noch viel lauter, aufdring­li­cher, über­zeich­neter, puber­tärer als im Comic. Sin City fühlt sich, im Gegensatz zu den Comics, über weite Strecken an wie ein reiner Action­film. Und para­do­xer­weise könnte man sagen: Der Film wirkt viel comich­after als seine Vorlage.

Dabei hätte gerade die Trans­for­ma­tion ins Kino doch die Chance eröffnet, nochmal einzu­klinken bei Millers ursprüng­li­chen Inspi­ra­ti­ons­quellen, bei den Filmen der »Schwarzen Serie«, bei den Ursprüngen des hard boiled-Detektiv-Genres. Millers »graphic novels«, ihr markanter Zeichen­stil sind zunächst einmal extrem überhöhte Hommagen an den film noir, an dessen dreckige, moralisch laby­rin­thi­sche Schat­ten­stadt-Welt, bevölkert von harten, gewalt­tä­tigen Männer mit einsamen Herzen und von femme fatales.
Wäre da nicht viel span­nender, produk­tiver als eine wort­ge­treue Über­set­zung der Comics auf die Leinwand eine Art »Rücküber­set­zung« gewesen, ein bewuss­teres Vordringen zu den Vor-Bildern von Millers Vorlage? Bei Rodriguez sind diese filmi­schen Ahnen höchstens noch als Ende einer Hyperlink-Kette vorhanden. Sin City ist zutiefst »digitales« Kino: Ein Comic, gleichsam am Computer einge­scannt, bild­be­ar­beitet und animiert, gebadet in der Gefühls­kälte weißen Pixel-Regens. Ein Film ohne eigene Gedanken zum Kontext, zu der Geschicht­lich­keit seines Materials.

Man mag das einen konse­quent post­mo­dernen Film nennen. Man kann man ihn als Phänomen durchaus sehr inter­es­sant finden. Mögen muss man ihn deshalb nicht.

Wie verfehlt Rodriguez Ansatz von Grund auf war, zeigen die wenigen Minuten, in denen ein anderer Regisseur die Zügel in die Hand nimmt: Rodriguez' alter Mentor und Kumpane Quentin Tarantino durfte für eine Sequenz als »Special Guest Director« antreten. Auch wenn man vorher nicht weiß, welche Sequenz das ist, erkennt man sie sofort. Es ist eigent­lich eine der unschein­ba­reren Passagen in Sin City, eine Autofahrt nur (na ja, keine ganz normale). Aber plötzlich spürt man einen Atem der Freiheit, ein Lösen aus den unsinnig strengen Fesseln der »Vorla­gen­treue«; plötzlich inter­es­siert sich merklich jemand für die Schau­spieler, für das Herz und den Rhythmus der Szene.
Es ist so ziemlich das einzige Mal in Sin City, wo aus der Anein­an­der­rei­hung von Bildern, aus der Ver-Filmung, ein Film wird.

Schwarz ist auch eine Farbe

Wegsehen hat seinen Preis: Sin City ist Kino in Voll­endung

Lite­ra­tur­ver­fil­mungen sind manchmal wie Erzäh­lungen für Freunde. Einer will in ihnen seine Begeis­te­rung mitteilen. Und man will dem geschätzten Buch neue Leser gewinnen, Aufmerk­sam­keit verschaffen. Zum Problem wird das – dies liegt in der Natur der Sache – für die Leser, die das Buch kennen, und deren eigene Vorstel­lungen, deren Bilder im Kopf von den Bildern auf der Leinwand aufge­fressen werden.

»Woher kommt eigent­lich dieses seltsame Verlangen nach Verfil­mungen?« fragt Thomas Willmann in seinem Sin City-Verriß für artechock. Es kommt, meine ich, aus dem gleichen Verlangen, warum man Freunden von einem tollen Film oder einem sagenhaft guten Buch oder einer super-CD oder einer wunder­schönen Frau vorschwärmt. Man will seine Begeis­te­rung teilen. Man will von dem reden, was man liebt, es im Augen­blick des Erzählens wieder zum Leben erwecken. Man will in es eintau­chen, mit dem, wovon man erzählt, verschmelzen. »Warum genügt den Menschen – und gerade den Fans eines Buchs – nicht das Erlebnis der Lektüre?« fragt Willmann. Warum sollte es? Man verfilmt jeden­falls kein Buch, weil man das Fehlen seiner Verfil­mung als Manko erlebt.
Willmanns Fragen und Einwände gegen Lite­ra­tur­ver­fil­mungen überhaupt, und gegen den Film insbe­son­dere sind gewichtig, es lohnt sich über sie nach­zu­denken und sie ernst zu nehmen. Aller­dings lohnt es sich auch, meine ich, die Verfil­mung von Sin City im Beson­deren, und Lite­ra­tur­ver­fil­mungen im Allge­meinen zu vertei­digen. Darum dieser Text. Aber der Reihe nach.

1. Niemand wird gezwungen, sich Lite­ra­tur­ver­fil­mungen anzu­schauen. Es kann, auch wenn der Film gut ist, ein schreck­li­ches Erlebnis werden. So habe ich es bisher konse­quent vermieden, mir Volker Schlön­dorffs Homo Faber anzusehen. Nicht wegen Schlön­dorff, gegen den ich im Gegensatz zu vielen anderen gar nichts habe. Sondern weil ich das Buch sehr schätze, und mir die Bilder in meinem Kopf bewahren will. Trotz Julie Delpy, die nicht nur eine tolle Schau­spie­lerin und eine sehr hübsche Frau ist, sondern die ich mir auch als Sabeth gut vorstellen kann, die meinem Bild im Kopf nichts nimmt. Aber Sam Shepard als Walter Faber? Grausig. Nie und nimmer.

Es gibt wiederum andere Bücher, die kann man gar nicht verfilmen. Wenn man es doch tut, ist die Verfil­mung notwendig so weit vom Original entfernt, dass es diesem gar nichts anhaben kann. Ich stelle mir vor, dass es Proust-Lesern so mit Raul Ruiz' Le temps retrouvé geht, und mit Schlön­dorffs Un amour de Swann. In beiden Fällen sind die Filme weit genug vom Roman entfernt, und geben doch eine atmo­s­phä­ri­sche Vorstel­lung, wirken wie eine Inter­pre­ta­tion. Man kann sie lesen, so wie man das Vorwort zu einer Ausgabe liest, oder einen Aufsatz über Proust.
Mir geht es zum Beispiel auch so, bei King Vidors War and Peace von 1956. Obwohl ich mir Natasha nicht wie Audrey Hepburn, Pierre Besuchov nicht wie Henri Fonda und Andrej Bolkonsky schon gar nicht wie Mel Ferrero vorge­stellt habe, funk­tio­niert der Film für sich genommen gut, und nimmt dem Roman nichts weg.
In den meisten Fällen aber wird man Lite­ra­tur­ver­fil­mungen von Büchern sehen, die man nicht gelesen hat. Überhaupt sind viel mehr Filme, als man glaubt, Lite­ra­tur­ver­fil­mungen. Da wird im besten Fall ein Interesse geweckt, das nicht vorhanden war.

2. Filme sind zunächst einmal Filme, und Bücher sind Bücher. Will sagen: auch wenn ein Film eine Lite­ra­tur­ver­fil­mung ist, ist es wichtiger, was er als Film ist, und nicht, ob er eine adäquate Lite­ra­tur­ver­fil­mung darstellt (was übrigens nicht das gleiche ist, wie eine Lite­ra­tur­ver­fil­mung, die meiner Vorstel­lung entspricht).

Ich kann kaum glauben, dass Kollege Willmann Literatur gegenüber dem Film prin­zi­piell als höhere Kunst erachtet. Mir scheint aber, dass er im Fall von Sin City exakt so argu­men­tiert. Er versucht, zu kate­go­ri­sieren, und die good guys unter den Film­ma­chern, die eine Vorlage »stets nur als Rohma­te­rial, als Stoff benutzen, der ihnen Ideen, Themen, Struk­turen lieferte, aus denen sie dann sehr eigen­s­tän­dige, durch und durch 'filmische' Werke schaffen« von den bad guys zu unter­scheiden, die Verfil­mungen schaffen, »die sich lediglich als Über­set­zungen vom einen Medium ins andere begreifen.«
Hinzu kommen noch die very bad guys, die sich nicht auf schnöde Kommer­z­ware wie Harry Potter oder Lord of the Rings beschränken, sondern sich Literatur vergreifen die so groß ist, dass sie »definitv, absolut und endgültig unver­filmbar« ist, wie Moby-Dick, Ulysses oder À la recherche du temps perdu.
Weil solche Behaup­tungen immer nur bis zum Beweis des Gegen­teils gelten, finde ich, dass sie nichts bringen. Und im Fall von Proust haben Ruiz und Schlön­dorff schon den Beweis erbracht, gerade weil sie mit der Vorlage frei umgehen, sie variieren. Natürlich können Film­kri­tiker ein langes Leben damit zubringen, dass sie sich in solchen Fällen immer hinstellen, und sagen: Der Film ist nicht, wie das Buch. Aber das soll er doch auch nicht sein. Er ist wie der Film.

3. Lite­ra­tur­ver­fil­mungen dürfen also, wie jeder andere Film, alles. Sie dürfen sich sklavisch an die Vorlage halten, sie können sich wüst über sie hinweg­setzen, sie verfäl­schen und absicht­lich oder unab­sicht­lich miss­ver­stehen. Über ihre Qualität sagt das alles gar nichts aus.

4. Eine Comic-Verfil­mung unter­liegt beson­deren Anfor­de­rungen, denn hier geht es ja nicht mehr allein um die Bilder im Kopf, hier gibt es auch Bilder auf Papier. Willmann wirft nun Roberto Rodriguez' Sin City nicht vor, er sei »nicht, wie das Buch«, im Gegenteil: er wirft ihm vor, er sei, wie das Buch: Eine Fleiß­ar­beit, ohne Seele und Essenz.

5. Ich kenne das Buch nicht, aber ich kenne den Film, und bin von ihm begeis­tert. Großartig, die Augen öffnend. Während fast alle Comic-Verfil­mungen biedere Inter­pre­ta­tionen sind, gelingt es Rodriguez, die Essenz des Comics zu bewahren. Während die meisten Comic-Verfil­mungen immer­gleiche Varia­tionen der immer­glei­chen Puber­täts­krise heran­wach­sender Jungs darstellen, ist Sin City ein archai­sches Rache­drama, da auf Grautöne auch jenseits der Bilder verzichtet. So etwas hat man lange nicht gesehen.

6. Die Art, wie Jessica Alba, Jamie King, Rosario Dawson und andere hier gefilmt werden, zeigt, was dem zeit­genös­si­schen Film übli­cher­weise fehlt: Das Licht, dass einst Lauren Bacall, Veronica Lake und Barbara Stanwyk ausleuch­tete und schöner machte, than life. Sin City ist ein Film, der Männer in Frage stellt, und Frauen verherr­licht.

Rodriguez ist sich des gewal­tigen Unter­schieds zwischen Comic und Film jederzeit bewusst. Rodriguez kopiert, aber er kopiert nicht von der Comic-Vorlage, sondern von Orson Welles' Filmen, dessen Einstel­lungen und Kame­ra­fahrten hier zum Teil eins zu eins nach­ge­stellt werden. Er hat mit Sin City einen Film gemacht, keinen Comic bewegt. Ein proto­ty­pi­sches Werk, Kino in Voll­endung.

7. Die meisten Comic-Verfilmer wollen ihren Filme Tiefe geben. Rodriguez/Miller wissen die Ober­fläche zu schätzen. Sie huldigen der Zwei­di­men­sio­na­lität.
Kein Besserer, als Robert Rodriguez, der Regisseur von u.a. dem elegi­schen Desperado, dem hyste­risch-ironi­schen From Dusk till Dawn, dem präch­tigen Once Upon a Time in Mexico, aber auch den wunder­vollen Spy Kids, könnte das verfilmen. Denn er hat schon immer comichaft erzählt.

Comichaft zu erzählen, bedeutet, mittels einer Reihung von Einzel­bil­dern zu erzählen, die so genau kompo­niert sind, dass jedes für sich über sich hinaus­weist. Rodriguez und Miller gelingt genau dies, aber sie verwan­deln die Zeich­nungen in etwas, das ein Film ist, ohne eine „Ver“-Filmung zu werden – die dann ja notwendig animiert sein müsste. Der Regisseur wird dem einma­ligen Stil der Vorlage gerecht. Im Comic sind Licht­ef­fekte und Kontraste, auch Sicht­bar­keiten möglich, die mit der Kamera ohne Tricks nicht gelingen können. Daher agierten die Darsteller vor einem »Green Screen« im Studio, gefilmt wurde mit HD-Video­ka­meras, danach wurden die Aufnahmen nach­be­ar­beitet und coloriert. Denn auch Schwarz­weiß – darin liegt der Haupt­un­ter­schied zu Millers Vorlage, ist bei Rodriguez eine Farbe. Daher begegnet man einer nächt­li­chen Schat­ten­welt in gleißendem Schwarz­weiß und doch voller sanfter Grautöne, mitunter erhitzt durch saftiges Rot und bissiges Gelb.
Vom »digitalen Zwischen­film­reich« hat ein Kritiker gespro­chen, und diese magische Formu­lie­rung trifft die Magie des Lein­wand­ge­sche­hens ganz gut. Erstmals erlebt man so etwas wie eine graphic novel als Film – ein Meilen­stein; unge­se­hene Bilder. Voller Eigen­leben, kompo­niert mit viel Gefühl für Rhythmus, für drama­tur­gi­sche Höhe­punkte. So ist dies ein ganz autonomer Film geworden, ein Kunstwerk aus eigenem Recht. Und zugleich war eine Comic-Adaption noch nie so werk­ge­treu und liebevoll wie diese. Para­do­xer­weise hat sich Rodriguez gerade indem er den Geist der Vorlage aufnimmt, ihm treu bleibt, von dieser eman­zi­piert. Weil er sie konse­quent in Bewegung verwan­delt, ohne ihren Charakter zu verfäl­schen.
So ist dies alles mehr künst­le­ri­sches Expe­ri­ment als Block­buster. Konzept-Kino und ein Auto­ren­film par excel­lence.

8. Thomas Willmanns allge­meine Ausfälle gegen Rodriguez verdienen zwar auch eine Entgeg­nung, aber dafür ist hier kein Platz und nicht der Ort. Natürlich ist The Faculty nicht bodenlos, und natürlich ist es völlig falsch, an Rodriguez immer wieder nur die frühen El Mariachi und Desperado zu loben, die in vieler Hinsicht keines­wegs perfekt sind. Aber was soll es vor allem, gegen einen Regisseur der die Welt ironisch und spie­le­risch betrachtet, plötzlich die eigene Sehnsucht nach Härte und Schwere auszu­spielen – die Sin City durchaus ein Stück weit befrie­digen könnte –, »wirk­li­chen« Ernst einzu­for­dern, wo der Verzicht auf diesen Ernst gerade die Tugend ist, und nach dem »Großen«, »Blei­benden« zu fragen? Ich könnte es mir jetzt einfach machen, und sagen: Sin City ist etwas Großes, Blei­bendes. Das finde ich tatsäch­lich. Aber viel schlimmer, weil bieder und reak­ti­onär finde ich überhaupt dieses Einfor­dern von »Größe«. Es mag Bereiche geben, wo das anders ist, aber in der Kunst kommt es wirklich nicht auf die Größe an – sondern auf die Haltung.

9. Sin City ist ein Film, der unter den Kritikern endlich einmal wieder fein säuber­lich die Speu vom Weizen trennt. Dabei geht es nicht ums Gut-finden, sondern um die Bereit­schaft, nein: die Fähigkeit, sich auf das einzu­lassen, was Rodriguez/Miller hier tun. Obwohl: Man hätte es auch ungefähr voraus­ahnen können: Der Spiegel sieht nur »Sado-Phan­ta­sien« und kann seinen Neid kaum verbergen. Auf BR-online wird gefragt: »Aber wo ist der Inhalt?« Und wir glauben sogar, dass ihn die Kollegin trotz langer Suche wirklich nicht gefunden hat. Aber ist dies das Problem des Films?

10. »Der Look ist alles«, schreibt wiederum ein anderer Kritiker, und das klingt so, als ob das etwas Böses wäre, als ob Look als solches böse wäre. Und es klingt, als ob es überhaupt Filme ohne Look gäbe, als ob man zwischen Substanz und Look überhaupt sinnvoll unter­scheiden könnte. Kann man nicht, und kann man weniger denn je in einem Film, in dem die Substanz mit dem Look zusam­men­fällt. Es klingt, als ob »form­voll­endet« für den Autor per se mit »sinnlos« gleich­ge­setzt werden muss, ob die guten Filme die wären, in denen es gar nicht um die Bilder geht, in denen diese wieder die gute alte Vehi­kel­funk­tion bekommen, das Mittel sein sollen, um eine Geschichte zu erzählen, nicht Teil dieser Geschichte selbst. Das ist die protes­tan­ti­sche Sicht aufs Kino, die Sicht, die fein zwischen reinen und unreinen Bildern zu unter­scheiden weiß, die den Bildern kein Leben und damit nicht die Möglich­keit zur Verun­rei­ni­gung zugesteht.
Sin City ist in diesem Sinne ein katho­li­scher Film, und das ist auch gut so.

11. Mora­li­sche Vorur­teile prallen an diesem Film ab. Nur eine seiner Stärken. Sin City ist ein konse­quent retro­mo­derner Film. Hassen muss man ihn deshalb nicht.
»This is the old days« heißt es einmal, »the all or nothin' days. They're back.« Ist das Amoral? Viel­leicht. Viel­leicht ist manchem Kritiker aber auch nur einfach unwohl bei dieser Dekon­struk­tion von Männ­lich­keit, bei der Entfal­tung ihrer Krise. Denn Sin City ist ja auch ein Film über Männer und ihre Rollen. Männ­lich­keit wird in Sin City traurig und kompli­ziert. Sie wirken wir Ritter, die noch einmal ihre schon rostige Rüstung anlegen müssen, die nur wider­willig noch die alten Tugenden, die abge­wirt­schaf­tete Ehre und den über­holten Ehrgeiz leben. Der mensch­liche Rest des Films ist natürlich die Energie, mit der hier Männer sich zugrun­de­richten – für Frauen, die oft blond sind, und manchmal tot. Weder mit dem alten Heroismus, aber schon gar nicht mit der neuen Softiness geht es hier gut aus. Kein Film für braves akade­mi­sches Penä­lertum. Und auch nicht wirklich ein Film für die Nerds.

12. Die besten Passagen von Sin City sind jene, in denen Rodriguez der Film­ge­schichte am nächsten ist: Wenn er Millers Vorlage durch die Brille seiner Vorbilder, durch den klas­si­schen Film Noir betrachtet. Aber Rodriguez tut mehr. Er erinnert daran, dass dieser Film Noir selbst eine Inspi­ra­ti­ons­quelle hatte: Den deutschen Expres­sio­nismus der ersten Nach­kriegs­zeit, in Literatur und Malerei, in den Cartoons des Zeichners Will Eisner, vor allem aber die Leinwand-Welten von Caligari und Nosferatu, der Femmes Fatales von Papst und ihrer neusach­li­chen Trans­for­ma­tion in die Groß­stadt­sym­po­nien von Ruttmann, Lang und Siodmak. Rodriguez hat von diesen Vorbil­dern die Kunst zu Stili­sieren gelernt, die Kunst der Abstrak­tion und den grotesken Humor. Sein Film ist eine Hommage an die dunklen Schat­ten­welten und Seelen­land­schaften des Expres­sio­nismus, schwarze Depres­si­ons­phan­ta­sien, Nahauf­nahmen des Schre­ckens.

13. Ein Kino der Bilder, der reinen Form. Exaltiert und über­deut­lich, überaus stili­siert und überaus abstrakt. Zugleich äußerst brutal. Man sollte nicht darum herum reden: Wer Sin City besucht, wird Augen­zeuge aller sieben Todsünden und weiterer 12, die er zuvor nicht kannte. Man erlebt Verge­wal­ti­gung, Kastra­tion, Kanni­ba­lismus, Enthaup­tung, Tod durch elek­tri­schen Stuhl, durch Hängen, abge­hackte Glieder, Pädo­philie, Folter in allen möglichen Formen. Man sieht aber auch reine Liebe, Glück, Treue, Freund­schaft, Zärt­lich­keit, Mitleid und Aufop­fe­rung für andere. Eine Achter­bahn der Gefühle, deren tieferer Sinn wie der eines der düste­reren Shake­speare-Dramen – auch nichts für zarte Gemüter – darin liegt, das Panorama des Mensch­li­chen in allen Facetten auszu­leuchten. In der aufre­genden, einzig­ar­tigen Form­sprache, in der das hier geschieht, und in seiner Konse­quenz ist Sin City ein Dokument der Aggres­sion und der Verzweif­lung, die unsere Gegenwart grundiert. Mit anderen Worten: Ein Meis­ter­werk!

14. Rodriguez zeigt sich – nicht erst in Sin City – als lupen­reiner Auteur. Als Film­re­gis­seur, der voll­kom­mene Kontrolle über sein Kunstwerk hat, höchst innovativ in Bildern und Story­tel­ling auch sehr konse­quent darin ist, seine Visionen auf die Leinwand zu bringen. Darauf muss man achten; das muss man hoch schätzen.

15. Indem er unseren Blick lenkt und mit unge­se­henen Bildern und Perspek­tiven füttert, ist Sin City, was jeder gute Film sein muss: Ein Film über das Sehen selbst. Eine Selbst­re­fle­xion der Popkultur, ihrer Bruta­lität und Exal­tiert­heit, ihrer Grelle und ihrer Leiden­schaften. Wer nach der Gewalt fragt, und sich über »ultrab­ru­tale« Szenen entrüstet, muss sich fragen, warum ihn as hier stört, aber nicht bei den nicht weniger brutalen, nur konsu­mier­barer gemachten Hollywood-Main­stream? Und er muss sich Georg Seeßlens Frage anläßlich Riefen­stahls 100tem Geburtstag noch einmal stellen: Wieviel Faschismus steckt in unserer Popkultur? »Cover your eyes, Nancy! I don’t want you to see this.« schreit Willis ganz zu Beginn des Films ein kleines Mädchen an. Das Hinsehen hat seinen Preis. Wegsehen aber auch.