USA 2005 · 124 min. · FSK: ab 18 Regie: Frank Miller, Robert Rodriguez Drehbuch: Frank Miller Kamera: Robert Rodriguez Darsteller: Bruce Willis, Mickey Rourke, Jessica Alba, Clive Owen, Nick Stahl u.a. |
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Jenseits der Lektüre: Sin City mit Jessica Alba |
Woher kommt eigentlich dieses seltsame Verlangen nach Verfilmungen? Warum wollen die Leute, sobald ihnen ein Buch gefällt, dieses auch auf der Leinwand sehen?
Die Rede ist nicht von Regisseuren wie Hitchcock oder Kubrick, bei denen der Großteil ihrer Filme eine literarische Vorlage hat – die diese aber stets nur als Rohmaterial, als Stoff benutzen, der ihnen Ideen, Themen, Strukturen lieferte, aus denen sie dann sehr eigenständige, durch und durch »filmische« Werke schaffen. So wie ein Schubert Gedichte brauchte, die er vertonen konnte, ein Van Gogh reale Landschaften als Motive benötigte.
Die Rede ist von »werktreuen« Verfilmungen, die sich lediglich als Übersetzungen vom einen Medium ins andere begreifen. Es wäre ein Kurzschluss, im Fall von Bestseller-Adaptionen wie Harry Potter oder Lord Of The Rings mit dem kommerziellen Potential, mit der sozusagen »vorinstallierten Nutzerbasis« zu argumentieren. Denn – auch wenn damit die Motive der Investoren erklärbar sein mögen – das eigentliche Rätsel bleibt ja: Warum genügt den Menschen – und gerade den Fans eines Buches – nicht das Erlebnis der Lektüre? Warum braucht es eine Kino-Umsetzung – über die man sich meistens ohnehin nur beschwert sie sei »nicht wie das Buch«? Und warum werden Regisseure nicht müde, sich selbst an solch definitv, absolut und endgültig unverfilmbaren Romanen wie Moby-Dick, Ulysses oder À la recherche du temps perdu zu versuchen?
Es muss vermutlich mit einem unterbewussten (und unsinnigen) Gefühl eines grundlegenden Defizits des Mediums Literatur in unserer heutigen Kultur zusammenhängen: Uns gelten die fotografisch/audiovisuellen Medien Kino und Fernsehen als die vollständigsten Abbildungstechniken – die eigentliche Stärke der Literatur, sich nämlich nicht an Konkretes binden und nicht in fester Realzeit ablaufen zu müssen betrachtet man dagegen als Unvollständigkeit.
Diese Art von Verfilmung will eine vermeintliche Lücke schließen, will konkret machen, was im Kopf Spielraum hat, und ist rechteigentlich eine reine Illustrationskunst, das moderne Äquivalent zu seit dem Mittelalter geläufigen Buchbebilderungen.
Robert Rodriguez ist es nun mit Sin City gelungen, dieses Missverständnis noch einmal zu potenzieren: In seiner (verständlichen und berechtigten) Begeisterung über Frank Millers gleichnamige hard-boiled Comic-Serie – die ja nun schon eigene Bilder HAT – empfand er es offenbar als Manko, dass deren ultrastilisierte Bilder nicht bewegt sind. Und in seinem Bemühen um »Werktreue« hat er freiwillig ein Höchstmaß an kreativer Gestaltungsfreiheit abgegeben: Sein Film ist stolz darauf, jedes Panel und jeden Buchstaben aus den Comic-Vorlagen so identisch wie möglich auf die Leinwand gehievt zu haben, praktisch nichts weggelassen und nichts hinzugefügt zu haben.
Vergleichbar ist die Absurdität des Ganzen höchstens noch mit Gus van Sants Psycho-Remake, das Hitchcocks Vorbild (in Wahrheit auch nur angeblich) Einstellung für Einstellung reinszenierte – aber immerhin noch als subversives Stück Avantgarde-Kino lesbar war. Rodriguez' Sin City hingegen ist eine gut gemeinte, aber im Resultat reichlich entgleiste Transkriptionsarbeit: Quasi das umgekehrte Äquivalent zu jener hochgradig nutzlosen Erfindung der deutschen Filmwissenschaft – hervorgegangen aus der Germanistik und daher mit einem tief bildungsbürgerlichen Misstrauen gegenüber allem Visuellen und Sinnlichen beerbt –, den Filmprotokollen: Einer Fleißarbeit für Generationen von Studenten, bei der Filme in »objektiven« Text, Beschreibungen jedes Bilds und jedes Tons überführt werden sollen. Wobei zuverlässig zwei Dinge abhanden kommen: Die Essenz und das Feeling des transkribierten Werks.
Das Problem mit Robert Rodriguez ist, dass eigentlich viele seiner Prinzipien einem sehr sympathisch sein müssen, die konkreten künstlerischen Resultate aber meist ziemlich nerven.
Er ist ein Bastler und Tüftler; einer, der Orson Welles' Wort vom Kino als großartige Modelleisenbahn, als gigantisches Spielzeug hochhält; ein Nachfahre der Kinopioniere, die noch alles selbst gemacht haben, vom Drehbuch über Design und Kamera bis zum Schnitt; einer, der sich seine unabhängige Nische im Hollywood-System erkämpft und verteidigt hat. Einer, der weiß, dass das Kino auch ohne Millionenbudget für Spezialeffekte eine wunderbare Illusionsmaschine ist und oft ein geschickter Schnitt mehr im Kopf der Zuschauer ablaufen lassen kann als alle CGI-Animatoren von Industrial Light & Magic zusammen. Also eigentlich ein Mann ganz nach unserem Herzensgeschmack. (Mal von seiner gräßlichen Begeisterung für das komplett digitale Kino abgesehen.)
Auch der enorme Respekt, den er in Sin City der Vorlage entgegen bringt, ist ja zunächst mal etwas Löbliches. Rodriguez ist sogar aus der amerikanischen Regisseurs-Gewerkschaft ausgetreten, um Frank Miller als Co-Regisseur anheuern und in den Credits nennen zu dürfen. Der Film ist zweifelsohne eine »labor of love«, und allein deswegen würde man ihm ja gerne auch selbst mehr Liebe entgegenbringen.
Aber zwei Dinge haben Rodriguez schon immer davon abgehalten, bei allen erreichten Höhen (El Mariachi, Desperado) und bodenlosen Tiefen (The Faculty), endlich einmal was richtig Großes, Bleibendes abzuliefern.
Sein Selbstverständnis hat ihn stets daran gehindert, bisher auch nur einen einzigen seiner Filme wirklich ernst zu nehmen. Wie Stephen King, der auch gern behauptet, nur das literarische Äquivalent zu Big Mäcs abzuliefern und sich mit dieser Ansicht manchmal selbst ausbremst, bevor er seinem enormen erzählerischen Talent gerecht werden könnte, schlägt bei Rodriguez die angenehme Abwesenheit von Prätention um in eine Flucht vor Belangvollem. Es ist eine Sache, immer mal wieder gerne Filme abliefern zu wollen, die keinen anderen Anspruch an sich selbst stellen, als eine prima Achterbahnfahrt zu bieten. Aber Rodriguez macht nun seit zwölf Jahren Spielfilme, und nicht ein einziges Mal hatte man bisher das Gefühl, dass er was zu sagen hätte, dass er einen emotional wirklich berühren möchte, dass da etwas bleiben soll, fünf Minuten nachdem man das Kino verlassen hat. Alles will bei ihm immer nur cool und hip sein. Und gerade bei Sin City, wo es um einige ziemlich heftige Themen wie Kindesmissbrauch geht, reicht das nicht.
Und, zweites grundlegendes Problem: Rodriguez hat ums Verrecken kein Rhythmusgefühl. Es gelingen ihm allenfalls immer mal wieder wunderbare 5-Minuten-Sequenzen – es ist kein Zufall, dass eine seiner schönsten Arbeiten ein Kurzfilm-Segment aus dem Episodenfilm Four Rooms ist. Aber auf Langstrecken, auf Spielfilmlänge, fehlt ihm das Gespür für einen dramaturgisch befriedigenden Aufbau, für weitgreifende Spannungsbögen, für Höhepunkte. Weshalb seine Filme auch so oft auch gerade als die gewünschte Achterbahnfahrt versagen: Weil sie nur versuchen, einen Looping an den anderen zu reihen.
Das kommt auch daher, dass Schnitt für Rodriguez sowas ist wie die Noppen an den Lego-Steinen: Eine Möglichkeit, die Bausteine, mit denen er spielt, aneinanderzudocken. Es ist bezeichnend, dass Rodriguez sich den Schnitt so oft durch äußere Gegebenheiten diktieren lässt: Seine berühmt kostensparende und rasante Arbeitsweise beruht nicht zuletzt darauf, nicht lange an der Realisierung einer vorab für nötig befundenen Einstellung zu tüfteln, sondern zu sehen, was sich schnell und billig filmen lässt und wie man aus diesen (oft sehr kurzen) Elementen in der Montage die Illusion des gewünschten Geschehens zusammenstückelt.
Als Mittel Struktur, Balance, Musikalität in einen Film zu bringen, hat Rodriguez den Schnitt noch nicht entdeckt. Und das kommt wiederum in Sin City besonders zum Tragen, da der im Prinzip, auf drei großen Story-Arcs der Sin City-Comic-Reihe beruhend, ein leicht verschachtelter Episodenfilm ist – was unter den besten Bedingungen nicht leicht zu einem harmonischen Ganzen zu fügen ist.
Von besten Bedingungen ist dieser Film aber weit entfernt. Denn bei Sin City kommt zu alledem ein spezielles, grundlegendes Missverständnis: Der Glaube, dass die Treue zum Buchstaben automatisch zu einer Treue im Geist führt, und die Annahme, ein Comic sei nichts anderes als ein Storyboard.
Wie anfangs erwähnt: Sin City hängt sklavisch an seiner grafischen Vorlage. Als (erstaunlich weitgehend durchgehaltene) Grundregel gilt: Jedes Panel des Comics gibt im Film eine Einstellung, jede Sprechblase wird zum Dialog, jedes Textkästlein zum Voice Over. Der hyperstilisierte Schwarzweiß-Look mit gelegentlichen monochromen Farbelementen von Millers Zeichnungen wird durch Digitaltechnik weitestmöglich imitiert.
Doch dahinter steckt
eine mehr als naive Vorstellung davon, wie die Medien Film und Comic funktionieren, und wie Eins-zu-eins ihre Beziehung zueinander sei.
Was Rodriguez vollkommen ignoriert: Comic operiert als Medium vordringlich im (zweidimensionalen) Raum, Film in der Zeit. Es macht bei einem Comic einen gewaltigen Unterschied, wo auf einer Seite ein Panel steht, welche Rahmenform es hat, mit wievielen anderen Panels es sich die Seite teilt, wie symmetrisch oder unsymmetrisch ihre Aufteilung untereinander ist, etc. Frank Millers Sin City spielt meisterhaft mit dieser Dynamik, setzt z.B. einige wirklich eindrucksvolle dramaturgische Akzente durch Bilder, die plötzlich über eine ganze (oder gar: Doppel-)Seite gehen. In ihrem treudoofen Eifer, jedes Einzelbild deckungsgleich auf die Leinwand abzupausen, aber eben immer in voller Breitwandgröße und hübsch eins nach dem anderen, hat Rodriguez' Adaption dem nichts Vergleichbares entgegenzusetzen, beraubt Millers Material genau eines seiner wichtigsten Gestaltungsmittel und -merkmale.
Ähnlich die Entscheidung, keinen Buchstaben der Comics wegfallen zu lassen: Textkästen in Comics haben eine andere Funktion und Wirkung als ein Voice Over im Film, interagieren ganz anders mit den Bildern. Ein Voice Over hat einen viel distanzierenderen Effekt, degradiert das Visuelle mehr zur Illustration, weckt viel stärker den Eindruck von etwas bloß Erzähltem statt etwas Miterlebtem. Rodriguez' Sin City hält das Publikum mit seiner Erzählstimmen-Textlastigkeit über weite Strecken ziemlich außen vor, lässt einen nicht in die Gegenwart des Gezeigten eintauchen. Es ist das alte Leid vieler Adaptionen in ein anderes Medium: Je mehr ein Werk speziell in seinem Medium funktioniert, je mehr und gekonnter es dessen besonderen Mittel und Gegebenheiten nutzt, um so weniger bleibt man ihm in einem anderen Medium treu, wenn man nur positivistisch den vermeintlichen »Inhalt« rüberschaufelt, ohne dessen Wie und Warum zu beachten.
Gut, werden jetzt viele sagen, aber ich habe die Comics nie gelesen, also was juckt micht das alles? Es juckt erheblich, weil Sin City für sich genommen eben kein funktionierender Film ist. Weil sein oberstes Ziel war, in Treue fest zu Frank Millers Vorlage zu stehen, und er sich herzlich wenig Gedanken darüber gemacht hat, was er als eigenständiges Werk zu bieten hat.
Da ist zunächst Rodriguez' schon beschriebenes Problem mit dem Rhythmus, dass dadurch nicht besser geworden ist, dass er sich diesmal den Schnitt weitgehend von Millers Comics diktieren ließ. Da ist seine gewohnte Tendenz, Schauspieler eher als dekoratives Element zu benutzen. Immerhin hat er ein beachtliches Ensemble beieinander, das aus Darstellern besteht, die tatsächlich die nötige ikonographische Präsenz haben, um ihre Rolle im Wortsinn zu VERKÖRPERN, mehr als sie zu SPIELEN: Männer wie Bruce Willis, Mickey Rourke, Michael Madsen, Frauen wie Rosario Dawson sind großartige Film-TYPEN, die wie ihre Comic-Vorbilder beim ersten Anblick schon alles Wesentliche über ihre Figur erkennen lassen. Aber sie bleiben unter Rodriguez Führung auch nur Typen, werden keine Persönlichkeiten, und emotional bleibt ihr Schicksal gänzlich unberührend, sind auch Liebe, Obsessionen, Tod nicht mehr als kühle Design-Elemente in einem großen Versatzstück-Puzzle.
Es hilft dabei nicht, dass das Ausgangsmaterial nun auch schon seine rund 10 Jahre auf dem Buckel hat und nicht alles daran glücklich gealtert ist. Als die ersten Sin City-Bände erschienen, war in der Populärkultur die Serienkiller-Welle noch heftig am Wogen, und speziell die »That Yellow Bastard«-Story surfte freudig darauf mit.
Unsere Kultur ist inzwischen eine andere geworden, unsere Monster sind es auch, und die Fantasien dieser Story wirken heute seltsam fremd, antiquiert, unzugänglich. Inspiriert war Frank Miller damals vor allem von neo-noir, neo-hard boiled Autoren wie James Ellroy und Andrew Vachss, die als Erben von Chandler, Hammett und Konsorten die klassische urbane Härte, den Männerschweiß und die Melancholie des Genres mit den Serienkiller-Motiven eines Thomas Harriss, der Splatterfilm-Welle kreuzten. Damals war Miller damit auf der Höhe der Zeit, aber mit solch zeitlichem Abstand so 1:1 wieder aufgelegt, wirken z.B. die vom Killer als Trophäen an die Wand montierten Frauenköpfe nur noch wie ein Relikt. Es hat seine guten Gründe, dass Ellroy sich mit seiner (noch unvollendeten) American Underbelly-Trilogie längst in ganz andere Richtungen weiterentwickelt hat, während Vachss sich zunehmend in die Bedeutungslosigkeit schreibt.
Außerdem hat Millers Stilwille meistens (aber zugegebenermaßen auch nicht immer) selbst Serienkiller-Einlagen oder Ninja-Huren unter ein generelles Noir-Feeling gespannt bekommen. Gerade das Feeling, der Geist des Ganzen aber ist bei Rodriguez ein tendenziell anderer. Sein permanent zwangs-cooler, -hipper Blick (nicht zuletzt auf die exzessive Gewalt) bringt die unreifen Züge von Millers Werk viel stärker zum Tragen. Im Film kommt alles noch viel lauter, aufdringlicher, überzeichneter, pubertärer als im Comic. Sin City fühlt sich, im Gegensatz zu den Comics, über weite Strecken an wie ein reiner Actionfilm. Und paradoxerweise könnte man sagen: Der Film wirkt viel comichafter als seine Vorlage.
Dabei hätte gerade die Transformation ins Kino doch die Chance eröffnet, nochmal einzuklinken bei Millers ursprünglichen Inspirationsquellen, bei den Filmen der »Schwarzen Serie«, bei den Ursprüngen des hard boiled-Detektiv-Genres. Millers »graphic novels«, ihr markanter Zeichenstil sind zunächst einmal extrem überhöhte Hommagen an den film noir, an dessen dreckige, moralisch labyrinthische Schattenstadt-Welt, bevölkert von harten, gewalttätigen Männer mit einsamen Herzen
und von femme fatales.
Wäre da nicht viel spannender, produktiver als eine wortgetreue Übersetzung der Comics auf die Leinwand eine Art »Rückübersetzung« gewesen, ein bewussteres Vordringen zu den Vor-Bildern von Millers Vorlage? Bei Rodriguez sind diese filmischen Ahnen höchstens noch als Ende einer Hyperlink-Kette vorhanden. Sin City ist zutiefst »digitales« Kino: Ein Comic, gleichsam am Computer eingescannt, bildbearbeitet und animiert, gebadet in der
Gefühlskälte weißen Pixel-Regens. Ein Film ohne eigene Gedanken zum Kontext, zu der Geschichtlichkeit seines Materials.
Man mag das einen konsequent postmodernen Film nennen. Man kann man ihn als Phänomen durchaus sehr interessant finden. Mögen muss man ihn deshalb nicht.
Wie verfehlt Rodriguez Ansatz von Grund auf war, zeigen die wenigen Minuten, in denen ein anderer Regisseur die Zügel in die Hand nimmt: Rodriguez' alter Mentor und Kumpane Quentin Tarantino durfte für eine Sequenz als »Special Guest Director« antreten. Auch wenn man vorher nicht weiß, welche Sequenz das ist, erkennt man sie sofort. Es ist eigentlich eine der unscheinbareren Passagen in Sin City, eine Autofahrt nur (na ja, keine ganz normale). Aber plötzlich spürt
man einen Atem der Freiheit, ein Lösen aus den unsinnig strengen Fesseln der »Vorlagentreue«; plötzlich interessiert sich merklich jemand für die Schauspieler, für das Herz und den Rhythmus der Szene.
Es ist so ziemlich das einzige Mal in Sin City, wo aus der Aneinanderreihung von Bildern, aus der Ver-Filmung, ein Film wird.
Literaturverfilmungen sind manchmal wie Erzählungen für Freunde. Einer will in ihnen seine Begeisterung mitteilen. Und man will dem geschätzten Buch neue Leser gewinnen, Aufmerksamkeit verschaffen. Zum Problem wird das – dies liegt in der Natur der Sache – für die Leser, die das Buch kennen, und deren eigene Vorstellungen, deren Bilder im Kopf von den Bildern auf der Leinwand aufgefressen werden.
»Woher kommt eigentlich dieses seltsame Verlangen nach Verfilmungen?« fragt Thomas Willmann in seinem Sin City-Verriß für artechock. Es kommt, meine ich, aus dem gleichen Verlangen, warum man Freunden von einem tollen Film oder einem sagenhaft guten Buch oder einer super-CD oder einer wunderschönen Frau vorschwärmt. Man will seine Begeisterung teilen. Man will von dem reden, was man liebt, es im Augenblick des Erzählens wieder zum Leben erwecken. Man will
in es eintauchen, mit dem, wovon man erzählt, verschmelzen. »Warum genügt den Menschen – und gerade den Fans eines Buchs – nicht das Erlebnis der Lektüre?« fragt Willmann. Warum sollte es? Man verfilmt jedenfalls kein Buch, weil man das Fehlen seiner Verfilmung als Manko erlebt.
Willmanns Fragen und Einwände gegen Literaturverfilmungen überhaupt, und gegen den Film insbesondere sind gewichtig, es lohnt sich über sie nachzudenken und sie ernst zu nehmen. Allerdings
lohnt es sich auch, meine ich, die Verfilmung von Sin City im Besonderen, und Literaturverfilmungen im Allgemeinen zu verteidigen. Darum dieser Text. Aber der Reihe nach.
1. Niemand wird gezwungen, sich Literaturverfilmungen anzuschauen. Es kann, auch wenn der Film gut ist, ein schreckliches Erlebnis werden. So habe ich es bisher konsequent vermieden, mir Volker Schlöndorffs Homo Faber anzusehen. Nicht wegen Schlöndorff, gegen den ich im Gegensatz zu vielen anderen gar nichts habe. Sondern weil ich das Buch sehr schätze, und mir die Bilder in meinem Kopf bewahren will. Trotz Julie Delpy, die nicht nur eine tolle Schauspielerin und eine sehr hübsche Frau ist, sondern die ich mir auch als Sabeth gut vorstellen kann, die meinem Bild im Kopf nichts nimmt. Aber Sam Shepard als Walter Faber? Grausig. Nie und nimmer.
Es gibt wiederum andere Bücher, die kann man gar nicht verfilmen. Wenn man es doch tut, ist die Verfilmung notwendig so weit vom Original entfernt, dass es diesem gar nichts anhaben kann. Ich stelle mir vor, dass es Proust-Lesern so mit Raul Ruiz' Le temps retrouvé geht, und mit Schlöndorffs Un amour de
Swann. In beiden Fällen sind die Filme weit genug vom Roman entfernt, und geben doch eine atmosphärische Vorstellung, wirken wie eine Interpretation. Man kann sie lesen, so wie man das Vorwort zu einer Ausgabe liest, oder einen Aufsatz über Proust.
Mir geht es zum Beispiel auch so, bei King Vidors War and Peace von 1956. Obwohl ich mir Natasha nicht wie Audrey Hepburn, Pierre Besuchov
nicht wie Henri Fonda und Andrej Bolkonsky schon gar nicht wie Mel Ferrero vorgestellt habe, funktioniert der Film für sich genommen gut, und nimmt dem Roman nichts weg.
In den meisten Fällen aber wird man Literaturverfilmungen von Büchern sehen, die man nicht gelesen hat. Überhaupt sind viel mehr Filme, als man glaubt, Literaturverfilmungen. Da wird im besten Fall ein Interesse geweckt, das nicht vorhanden war.
2. Filme sind zunächst einmal Filme, und Bücher sind Bücher. Will sagen: auch wenn ein Film eine Literaturverfilmung ist, ist es wichtiger, was er als Film ist, und nicht, ob er eine adäquate Literaturverfilmung darstellt (was übrigens nicht das gleiche ist, wie eine Literaturverfilmung, die meiner Vorstellung entspricht).
Ich kann kaum glauben, dass Kollege Willmann Literatur gegenüber dem Film prinzipiell als höhere Kunst erachtet. Mir scheint aber, dass er im Fall von Sin City exakt so argumentiert. Er versucht, zu kategorisieren, und die good guys unter den Filmmachern, die eine Vorlage »stets nur als Rohmaterial, als Stoff benutzen, der ihnen Ideen, Themen, Strukturen lieferte, aus denen sie dann sehr eigenständige, durch und durch 'filmische' Werke schaffen«
von den bad guys zu unterscheiden, die Verfilmungen schaffen, »die sich lediglich als Übersetzungen vom einen Medium ins andere begreifen.«
Hinzu kommen noch die very bad guys, die sich nicht auf schnöde Kommerzware wie Harry Potter oder Lord of the Rings beschränken, sondern sich
Literatur vergreifen die so groß ist, dass sie »definitv, absolut und endgültig unverfilmbar« ist, wie Moby-Dick, Ulysses oder À la recherche du temps perdu.
Weil solche Behauptungen immer nur bis zum Beweis des Gegenteils gelten, finde ich, dass sie nichts bringen. Und im Fall von Proust haben Ruiz und Schlöndorff schon den Beweis erbracht, gerade weil sie mit der Vorlage frei umgehen, sie variieren. Natürlich können Filmkritiker ein langes Leben damit zubringen,
dass sie sich in solchen Fällen immer hinstellen, und sagen: Der Film ist nicht, wie das Buch. Aber das soll er doch auch nicht sein. Er ist wie der Film.
3. Literaturverfilmungen dürfen also, wie jeder andere Film, alles. Sie dürfen sich sklavisch an die Vorlage halten, sie können sich wüst über sie hinwegsetzen, sie verfälschen und absichtlich oder unabsichtlich missverstehen. Über ihre Qualität sagt das alles gar nichts aus.
4. Eine Comic-Verfilmung unterliegt besonderen Anforderungen, denn hier geht es ja nicht mehr allein um die Bilder im Kopf, hier gibt es auch Bilder auf Papier. Willmann wirft nun Roberto Rodriguez' Sin City nicht vor, er sei »nicht, wie das Buch«, im Gegenteil: er wirft ihm vor, er sei, wie das Buch: Eine Fleißarbeit, ohne Seele und Essenz.
5. Ich kenne das Buch nicht, aber ich kenne den Film, und bin von ihm begeistert. Großartig, die Augen öffnend. Während fast alle Comic-Verfilmungen biedere Interpretationen sind, gelingt es Rodriguez, die Essenz des Comics zu bewahren. Während die meisten Comic-Verfilmungen immergleiche Variationen der immergleichen Pubertätskrise heranwachsender Jungs darstellen, ist Sin City ein archaisches Rachedrama, da auf Grautöne auch jenseits der Bilder verzichtet. So etwas hat man lange nicht gesehen.
6. Die Art, wie Jessica Alba, Jamie King, Rosario Dawson und andere hier gefilmt werden, zeigt, was dem zeitgenössischen Film üblicherweise fehlt: Das Licht, dass einst Lauren Bacall, Veronica Lake und Barbara Stanwyk ausleuchtete und schöner machte, than life. Sin City ist ein Film, der Männer in Frage stellt, und Frauen verherrlicht.
Rodriguez ist sich des gewaltigen Unterschieds zwischen Comic und Film jederzeit bewusst. Rodriguez kopiert, aber er kopiert nicht von der Comic-Vorlage, sondern von Orson Welles' Filmen, dessen Einstellungen und Kamerafahrten hier zum Teil eins zu eins nachgestellt werden. Er hat mit Sin City einen Film gemacht, keinen Comic bewegt. Ein prototypisches Werk, Kino in Vollendung.
7. Die meisten Comic-Verfilmer wollen ihren Filme Tiefe geben. Rodriguez/Miller wissen die Oberfläche zu schätzen. Sie huldigen der Zweidimensionalität.
Kein Besserer, als Robert Rodriguez, der Regisseur von u.a. dem elegischen Desperado, dem hysterisch-ironischen From Dusk till Dawn, dem
prächtigen Once Upon a Time in Mexico, aber auch den wundervollen Spy Kids, könnte das verfilmen. Denn er hat schon immer comichaft erzählt.
Comichaft zu erzählen, bedeutet, mittels einer Reihung von Einzelbildern zu erzählen, die so genau komponiert sind, dass jedes für sich über sich hinausweist. Rodriguez und Miller gelingt genau dies, aber sie verwandeln die Zeichnungen in etwas, das ein Film ist, ohne eine „Ver“-Filmung zu werden – die dann ja notwendig animiert sein müsste. Der Regisseur wird dem einmaligen Stil der Vorlage gerecht. Im Comic sind Lichteffekte und Kontraste, auch Sichtbarkeiten
möglich, die mit der Kamera ohne Tricks nicht gelingen können. Daher agierten die Darsteller vor einem »Green Screen« im Studio, gefilmt wurde mit HD-Videokameras, danach wurden die Aufnahmen nachbearbeitet und coloriert. Denn auch Schwarzweiß – darin liegt der Hauptunterschied zu Millers Vorlage, ist bei Rodriguez eine Farbe. Daher begegnet man einer nächtlichen Schattenwelt in gleißendem Schwarzweiß und doch voller sanfter Grautöne, mitunter erhitzt durch saftiges Rot und
bissiges Gelb.
Vom »digitalen Zwischenfilmreich« hat ein Kritiker gesprochen, und diese magische Formulierung trifft die Magie des Leinwandgeschehens ganz gut. Erstmals erlebt man so etwas wie eine graphic novel als Film – ein Meilenstein; ungesehene Bilder. Voller Eigenleben, komponiert mit viel Gefühl für Rhythmus, für dramaturgische Höhepunkte. So ist dies ein ganz autonomer Film geworden, ein Kunstwerk aus eigenem Recht. Und zugleich war eine Comic-Adaption noch
nie so werkgetreu und liebevoll wie diese. Paradoxerweise hat sich Rodriguez gerade indem er den Geist der Vorlage aufnimmt, ihm treu bleibt, von dieser emanzipiert. Weil er sie konsequent in Bewegung verwandelt, ohne ihren Charakter zu verfälschen.
So ist dies alles mehr künstlerisches Experiment als Blockbuster. Konzept-Kino und ein Autorenfilm par excellence.
8. Thomas Willmanns allgemeine Ausfälle gegen Rodriguez verdienen zwar auch eine Entgegnung, aber dafür ist hier kein Platz und nicht der Ort. Natürlich ist The Faculty nicht bodenlos, und natürlich ist es völlig falsch, an Rodriguez immer wieder nur die frühen El Mariachi und Desperado zu loben, die in vieler Hinsicht keineswegs perfekt sind. Aber was soll es vor allem, gegen einen Regisseur der die Welt ironisch und spielerisch betrachtet, plötzlich die eigene Sehnsucht nach Härte und Schwere auszuspielen – die Sin City durchaus ein Stück weit befriedigen könnte –, »wirklichen« Ernst einzufordern, wo der Verzicht auf diesen Ernst gerade die Tugend ist, und nach dem »Großen«, »Bleibenden« zu fragen? Ich könnte es mir jetzt einfach machen, und sagen: Sin City ist etwas Großes, Bleibendes. Das finde ich tatsächlich. Aber viel schlimmer, weil bieder und reaktionär finde ich überhaupt dieses Einfordern von »Größe«. Es mag Bereiche geben, wo das anders ist, aber in der Kunst kommt es wirklich nicht auf die Größe an – sondern auf die Haltung.
9. Sin City ist ein Film, der unter den Kritikern endlich einmal wieder fein säuberlich die Speu vom Weizen trennt. Dabei geht es nicht ums Gut-finden, sondern um die Bereitschaft, nein: die Fähigkeit, sich auf das einzulassen, was Rodriguez/Miller hier tun. Obwohl: Man hätte es auch ungefähr vorausahnen können: Der Spiegel sieht nur »Sado-Phantasien« und kann seinen Neid kaum verbergen. Auf BR-online wird gefragt: »Aber wo ist der Inhalt?« Und wir glauben sogar, dass ihn die Kollegin trotz langer Suche wirklich nicht gefunden hat. Aber ist dies das Problem des Films?
10. »Der Look ist alles«, schreibt wiederum ein anderer Kritiker, und das klingt so, als ob das etwas Böses wäre, als ob Look als solches böse wäre. Und es klingt, als ob es überhaupt Filme ohne Look gäbe, als ob man zwischen Substanz und Look überhaupt sinnvoll unterscheiden könnte. Kann man nicht, und kann man weniger denn je in einem Film, in dem die Substanz mit dem Look zusammenfällt. Es klingt, als ob »formvollendet« für den Autor per se mit »sinnlos« gleichgesetzt werden muss,
ob die guten Filme die wären, in denen es gar nicht um die Bilder geht, in denen diese wieder die gute alte Vehikelfunktion bekommen, das Mittel sein sollen, um eine Geschichte zu erzählen, nicht Teil dieser Geschichte selbst. Das ist die protestantische Sicht aufs Kino, die Sicht, die fein zwischen reinen und unreinen Bildern zu unterscheiden weiß, die den Bildern kein Leben und damit nicht die Möglichkeit zur Verunreinigung zugesteht.
Sin City ist in
diesem Sinne ein katholischer Film, und das ist auch gut so.
11. Moralische Vorurteile prallen an diesem Film ab. Nur eine seiner Stärken. Sin City ist ein konsequent retromoderner Film. Hassen muss man ihn deshalb nicht.
»This is the old days« heißt es einmal, »the all or nothin' days. They're back.« Ist das Amoral? Vielleicht. Vielleicht ist manchem Kritiker aber auch nur einfach unwohl bei dieser Dekonstruktion von Männlichkeit, bei der Entfaltung ihrer Krise. Denn Sin
City ist ja auch ein Film über Männer und ihre Rollen. Männlichkeit wird in Sin City traurig und kompliziert. Sie wirken wir Ritter, die noch einmal ihre schon rostige Rüstung anlegen müssen, die nur widerwillig noch die alten Tugenden, die abgewirtschaftete Ehre und den überholten Ehrgeiz leben. Der menschliche Rest des Films ist natürlich die Energie, mit der hier Männer sich zugrunderichten – für Frauen, die oft blond sind, und manchmal tot.
Weder mit dem alten Heroismus, aber schon gar nicht mit der neuen Softiness geht es hier gut aus. Kein Film für braves akademisches Penälertum. Und auch nicht wirklich ein Film für die Nerds.
12. Die besten Passagen von Sin City sind jene, in denen Rodriguez der Filmgeschichte am nächsten ist: Wenn er Millers Vorlage durch die Brille seiner Vorbilder, durch den klassischen Film Noir betrachtet. Aber Rodriguez tut mehr. Er erinnert daran, dass dieser Film Noir selbst eine Inspirationsquelle hatte: Den deutschen Expressionismus der ersten Nachkriegszeit, in Literatur und Malerei, in den Cartoons des Zeichners Will Eisner, vor allem aber die Leinwand-Welten von Caligari und Nosferatu, der Femmes Fatales von Papst und ihrer neusachlichen Transformation in die Großstadtsymponien von Ruttmann, Lang und Siodmak. Rodriguez hat von diesen Vorbildern die Kunst zu Stilisieren gelernt, die Kunst der Abstraktion und den grotesken Humor. Sein Film ist eine Hommage an die dunklen Schattenwelten und Seelenlandschaften des Expressionismus, schwarze Depressionsphantasien, Nahaufnahmen des Schreckens.
13. Ein Kino der Bilder, der reinen Form. Exaltiert und überdeutlich, überaus stilisiert und überaus abstrakt. Zugleich äußerst brutal. Man sollte nicht darum herum reden: Wer Sin City besucht, wird Augenzeuge aller sieben Todsünden und weiterer 12, die er zuvor nicht kannte. Man erlebt Vergewaltigung, Kastration, Kannibalismus, Enthauptung, Tod durch elektrischen Stuhl, durch Hängen, abgehackte Glieder, Pädophilie, Folter in allen möglichen Formen. Man sieht aber auch reine Liebe, Glück, Treue, Freundschaft, Zärtlichkeit, Mitleid und Aufopferung für andere. Eine Achterbahn der Gefühle, deren tieferer Sinn wie der eines der düstereren Shakespeare-Dramen – auch nichts für zarte Gemüter – darin liegt, das Panorama des Menschlichen in allen Facetten auszuleuchten. In der aufregenden, einzigartigen Formsprache, in der das hier geschieht, und in seiner Konsequenz ist Sin City ein Dokument der Aggression und der Verzweiflung, die unsere Gegenwart grundiert. Mit anderen Worten: Ein Meisterwerk!
14. Rodriguez zeigt sich – nicht erst in Sin City – als lupenreiner Auteur. Als Filmregisseur, der vollkommene Kontrolle über sein Kunstwerk hat, höchst innovativ in Bildern und Storytelling auch sehr konsequent darin ist, seine Visionen auf die Leinwand zu bringen. Darauf muss man achten; das muss man hoch schätzen.
15. Indem er unseren Blick lenkt und mit ungesehenen Bildern und Perspektiven füttert, ist Sin City, was jeder gute Film sein muss: Ein Film über das Sehen selbst. Eine Selbstreflexion der Popkultur, ihrer Brutalität und Exaltiertheit, ihrer Grelle und ihrer Leidenschaften. Wer nach der Gewalt fragt, und sich über »ultrabrutale« Szenen entrüstet, muss sich fragen, warum ihn as hier stört, aber nicht bei den nicht weniger brutalen, nur konsumierbarer gemachten Hollywood-Mainstream? Und er muss sich Georg Seeßlens Frage anläßlich Riefenstahls 100tem Geburtstag noch einmal stellen: Wieviel Faschismus steckt in unserer Popkultur? »Cover your eyes, Nancy! I don’t want you to see this.« schreit Willis ganz zu Beginn des Films ein kleines Mädchen an. Das Hinsehen hat seinen Preis. Wegsehen aber auch.