Deutschland 2019 · 102 min. · FSK: ab 12 Regie: Christina Ebelt Drehbuch: Christina Ebelt, Franziska Krentzien Kamera: Bernhard Keller Darsteller: Franziska Hartmann, Claudio Magno, Kai Ivo Baulitz, Marita Breuer, Davina Donaldson u.a. |
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Grausam-gnadenlos, schmutzig-realistisch, zärtlich und einfühlsam |
Aus der bildungsbürgerlichen Sicherheits- und Babyblase heraus betrachtet scheint die letzte Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe völlig surreal, nach der etwa 1,2 Millionen Menschen in Deutschland 2018 kein Heim hatten. Eine eindringliche Reportage der Süddeutschen Zeitung vom 5. August 2019 konzentrierte sich auf die Frauen unter den Wohnungslosen, die immer wieder auf »Wohnprostitution« ausweichen müssen, um auf dem »platten« Wohnungsmarkt nicht nur in deutschen Großstädten überhaupt eine Chance zu haben, irgendwo unterzukommen. Es kann jeden treffen, doch vorzugsweise trifft es alleinerziehende Frauen. Und wie es die trifft, das zeigt noch besser als Lisa Schnells Reportage Christina Ebelts großartiges Spielfilmdebüt Sterne über uns.
Ebelts Film, der seine Uraufführung auf dem diesjährigen Münchner Filmfest in der Sektion Neues Deutsches Kino hatte, reihte sich fast perfekt in eine beeindruckende Phalanx von jungen deutschen Filmen ein, die sich darauf konzentrierten, der Selbstermächtigung von Frauen in unserer Gesellschaft einen facettenreiches Spiegel zu geben, der durch so unterschiedliche Produktionen wie Elisa Mishtos Stillstehen, Jan-Ole Gersters Lara, Tom Sommerlattes »Neo-Western« Bruder Schwester Herz und Ilker Çataks Es gilt das gesprochene Wort komplexer kaum hätte sein können.
Doch gerade neben Sophie Kluges Golden Twenties, Mariko Minoguchis Mein Ende. Dein Anfang und erst recht Florian Gottschicks Rest in Greece, die alle etwas Traumwandlerisches, Transzendentales vermitteln, in denen sich keine Frau ums Geld kümmern muss, keine wirklich am Abgrund steht, auch wenn ihr Leben ungeahnte Abgründe aufweist, war Ebelts Sterne über uns so allein und einzigartig, wie der Titel es suggeriert.
So allein, wie die Frau, wie Melli (Franziska Hartmann), die in Ebelts Film gegen die Windmühlen der Wohnungsnot ebenso ankämpft wie die des Alleinerziehens.
Aber nicht allein wegen des schauspielerischen Parforceritts von Franziska Hartmann als junger, alleinerziehender Mutter und angehender Stewardess ist Sterne über uns ein unbedingtes Muss, wenn man etwas über den neuen deutschen Film und die so gerne verdrängte dunkle Seite unserer deutschen Gegenwart erfahren will.
Nein, auch die eigentliche Geschichte, die Christina Ebelt hier souverän erzählt, hat es in sich. Denn Ebelt zeigt in ihrer Erzählung nicht nur, wie schmal und porös die Grenze zwischen reich und arm, aufgefangen und abgestürzt in Deutschland verläuft, sondern fächert über Melli und ihren Sohn Ben (Claudio Magno) auch die ganzen persönlichen Abhängigkeiten und Alltagsnischen auf, die mal mehr oder weniger zu Bedeutungs- und Rettungsträgern werden können.
Und wie Franziska Hartmann im Stewardess-Kostüm immer wieder aus dem Zeltversteck eines Stadtwaldes zur Arbeit am Flughafen und in die vertrockneten Amtsstuben unseres Landes stakst und dabei versucht, wenigstens ihre Contenance zu bewahren, wo sie sonst doch schon alles verloren hat, ist grausam-gnadenloses, schmutzig-realistisches, zärtliches und einfühlsames, kurzum: tolles Kino, dem ebenso wie Ken Loachs neuem Film Sorry we missed you der gesellschaftskritische Humor eines Bernhard Sinkel und seiner Lina Braake oder Die Interessen der Bank können nicht die Interessen sein, die Lina Braake hat wohl zurecht abhanden gekommen ist.