Sucker Punch

USA/Kanada 2010 · 110 min. · FSK: ab 16
Regie: Zack Snyder
Drehbuch: ,
Kamera: Larry Fong
Darsteller: Emily Browning, Abbie Cornish, Jena Malone, Vanessa Hudgens, Jamie Chung u.a.
Girlie-Horror-Picture-Show, irgendwo zwischen Internats-Martial-Art und Zombie-Film

Vom Fetischcharakter der Kino-Welt

Ein Film für alle und keinen. Kein Film, der in irgend­einer Weise mit den Maßstäben des realis­ti­schen Erzählens gemessen werden könnte. Sondern Kino jenseits von Gut und Böse, ein Überfilm, an dem nichts halb und halb ist, der sich sub- und supra­tomar dem Rausch der Bilder ergeben hat. In diesem Sinn: Kino pur. Zugleich ein hoch­dif­fe­ren­zierter, komplexer Kommentar zum derzei­tigen Block­bus­ter­kino und allem, was da so derzeit Erfolg hat. Ein Kommentar also zur Tendenz zum Cyberfilm, die mit Matrix ihren Ausgang nahm; zur Tendenz, Hand­lungen in irreale Räume zu verlagern, und am Ende dem ganzen Film den Boden unter den Füßen wegzu­ziehen: Inception, Shutter Island, davor schon Memento, Avatar. Ein Kommentar aller­dings, der sich der reinsten Mittel des Kinos bedient: Der Bilder. Des Feti­schismus. Und der Musik. Ein Stummfilm also gewis­ser­maßen. Vor allem und garan­tiert aber ein Film, wie man ihn noch nicht gesehen hat.

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Der Sturm geht richtig los etwa nach 30 Minuten in diesem Film, mitten in Schüt­zen­gräben, die denen des Ersten Welt­kriegs ziemlich ähnlich sehen. Auch dies ist eine Mate­ri­al­schlacht. Zu Dutzenden schweben Kampf­zep­pe­line recht niedrig über der Erde hinweg. Ein Ort ist dem Erdboden gleich­ge­macht, in seiner Mitte stehen die ausge­bombten Reste einer gotischen Kathe­drale. Sie sieht aus wie Notre Dame, aber da die Seine fehlt, dürfte dies, wenn überhaupt ein exis­tie­render Ort, eher Reims sein. Gekämpft wird gegen Krieger in deutschen Uniformen, aber es sind keine Menschen, sondern Zombies. Und da ihre Gegner fünf furcht­lose junge Mädchen sind, die gegen sie mit Pistolen, Kampf­kunst und Samu­rai­schwer­tern antreten, erinnert man sich an den knapp zwei Jahre alten japanisch-russi­schen Anime First Squad – The Moment of Truth von Yoshiharu Ashino – der aller­dings im Zweiten Weltkrieg ange­sie­delt war. Das alles ist ohne Frage auch die offen­kun­dige Phantasie eines Fanboys mit zuviel Videogame-Erfah­rungen. Aber noch viel mehr. Dieser Film ist eine Hymne auf diese furcht­losen Mädchen. Ein Spiel mit Chiffren. Der Versuch, etwas auszu­pro­bieren, mit unbe­dingtem Willen zur Inno­va­tion zu insze­nieren, und trotzdem für die Masse. Die Verwalter des »richtigen« Erzählens haben daran natur­gemäß jetzt eine Menge auszu­setzen. Denn »richtig« ist hier gar nichts.

Das aller­erste Bild stellt eigent­lich schon klar, wo wir uns befinden, und wie der Film gesehen werden will: Es zeigt eine billige Thea­ter­bühne, Vaude­ville. Der Bühnen­vor­hang ist auf, die Kamera zoomt hinein, dazu läuft eine Cover­ver­sion des Euryth­mics-Lieds »Sweet Dreams (Are Made of This)« – alles ist also Theater und Traumkino. Geht es noch eindeu­tiger? Dann beginnt ein furioser Anfang, der in ausgeb­li­chenen, fast schwarz­weißen Bildern und schnell hinter­ein­ander geschnit­tenen, knappen Szenen eine schmut­zige Märchen-Geschichte erzählt. In der sind zwei kleine Mädchen nach dem Tod der Mutter einem bösen Stief­vater ausge­setzt. Der drang­sa­liert beide, tötet die jüngere, versucht die ältere zu miss­brau­chen, sie wehrt sich vehement, und nun wird die schwer Trau­ma­ti­sierte, die bald von allen nur Babydoll genannt wird, während wir ihren richtigen Namen nie erfahren, vom Stief­vater in ein Mädchen­heim gebracht, das zugleich eine gutbe­wachte Nerven­klinik ist. Die anderen Insas­sinnen in dieser Anstalt sind durchweg jung, hübsch und leicht bekleidet, die Wärter schmutzig, sadis­tisch und dege­ne­riert – eine Phantasie ohne Zweifel, doch wer sie erträumt, das bleibt unklar.

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Girlies Werk und Teufels Beitrag. Das alles dauert nur wenige Minuten. Schon hier ein paar ungemein einpräg­same, eindrucks­volle Bilder, wie das eines hell­grünen Auges, das schre­ckens­ge­weitet durch ein Schlüs­sel­loch blickt, daneben zugleich der Eindruck des Über­hitzten, des Zuviel. Kann Regisseur Zack Snyder das alles ernst meinen? Er kann. Nach 300 und Watchmen, die nicht ohne Grund viel kriti­siert wurden, und doch das unbe­streit­bare Ausnah­me­ta­lent dieses Film­künst­lers sichtbar machten, ist sein neuer Film Sucker Punch nun eines der selten gewor­denen US-Kinowerke, die völlig ohne Vorlage aus anderen Medien – wie Buch, Comic, Compu­ter­spiel – entstanden. Dieser Film ist eine Unver­schämt­heit im besten Sinn: ein offener Affront gegen das aalglatte Kino der Konven­tionen und der Nettig­keit, gegen alle, die The King’s Speech für große Kinokunst halten. Ein Punch mitten in die vom Main­stream eingeübten Erwar­tungen nach einer glatten, Erzähl-Gesetzen und Darstel­lungs­üb­lich­keiten folgenden Geschichte, der immer wieder wie eine Abfolge von Video­clips wirkt (was für manche bestimmt ein schon Gegen­ar­gu­ment ist) und zugleich doch ein Beispiel für die neue Gene­ra­tion des Block­bus­ter­kinos. Denn was »Trans­for­mers« für die Maschinen ist, das ist dieser Film für die Menschen: Rasend und über­bor­dend, drei, vier, fünf Block­buster in einem, in gewissem Sinn zuviel und für manche bestimmt zu wenig – dabei jeden­falls von befrem­dender Faszi­na­tion.

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Des Wahnsinns nette Bräute. Eine Konstel­la­tion wie aus einem Märchen, mit umge­drehten Vorzei­chen: Eine holde blonde Unschuld, ein böser Stief­vater, ein schlimmes Schloss, das zum Gefängnis, zum Verließ wird. Alles Gothic. Zugleich ein Frau­en­gefäng­nis­film, wie man ihn seit den 70ern nicht mehr gesehen hat, Sexploi­ta­tion, in deren Zentrum fünf des Wahnsinns geile Bräute stehen, girls with guns. They don’t need no education. Die Refe­renzen reichen hier von schmut­zigen Lager­filmen wie Caged, Caged Heat, 99 Women und Love Camp 7 bis zu dem anspruchs­vollen Wedekind-Pastiche der Französin Lucile Hadzi­ha­li­lovic, die unter dem Titel Innocence 2005 einen der cleversten und origi­nellsten Mädchen­in­ter­nats­filme, überhaupt Mädchen­filme des letzten Jahr­zehnts vorgelegt hatte. Auch Sucker Punch ist auf seine Weise ein eman­zi­pa­to­ri­scher Mädchen­film. Man muss hier auch an die Tank Girl-Verfil­mung von 1995 denken, nicht nur, weil hier auch Björk im Sound­track vertreten war, auch weil ein Trauma der Selbst­be­freiung von Weib­lich­keit vorangeht, weil Frauen von fast allen Männern Gewalt und Verge­wal­ti­gungs­wün­sche zu erwarten haben. Schon die Wahl der Haupt­dar­stel­lerin Emily Browning ist ein Zitat in diesem an Verweisen über­quel­lenden Kino: Denn Browning spielte 2004 die Haupt­rolle der Violet Baude­laire [http://www.youtube.com/watch?v=BKgi3RPIBlI] in der Lemony Snicket-Verfil­mung A Series of Unfor­t­u­nate Events [http://www.youtube.com/watch?v=Cbgde8Ns_G8] – auch dies ein Beispiel für feminine Souver­änität und post­fe­mi­nis­ti­schen Girlism.

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»Alice with Machine Guns«. Alles scheint irgend­wann in den späten vierziger oder den fünfziger Jahren zu spielen – Verweise auf den Film Noir gab es schon gleich zu Beginn und immer wieder, das Design ist insgesamt »Old School«, die Räume sind verbraucht und düster, die Möbel aus Holz und Leder, die Schlüssel aus Metall, die Telefone mit Kabeln versehen, und es gibt weder Computer noch Über­wa­chungs­ka­meras. (Ande­rer­seits gibt es zumindest in den Tagträumen des Mädchens Babydoll Frei­sprech­geräte – aber das ist eine andere Geschichte, dazu später.) Wir zweifeln nicht an der neuen Insassin, denn wir wissen, dass ihr Stief­vater dafür bezahlt hat, dass ihr per Lobotomie zugleich Gedächtnis wie Persön­lich­keit ausge­trieben werden. Wir erinnern uns: Lobotomie, das war jene heute unvor­stellbar brutale Methode, mit der bis vor knapp 50 Jahren entspre­chenden Patienten die Hirn­hälften durch­trennt und diese damit »ruhig­ge­stellt« wurden. Auch das also erinnert gemeinsam mit dem Schau­platz einer geschlos­senen Nerven­heil­an­stalt stark an Martin Scorseses Shutter Island – und tatsäch­lich ist der auch in seiner früh einset­zenden, sich lange nicht aufklä­renden Verschmel­zung mehrerer Realitäts­ebenen – Erin­ne­rung? Tagträume? Wahn­vor­stel­lungen? – eines der offenen Vorbilder für diesen Film. Es gibt freilich noch viele mehr: Wie in Lewis Carolls Märchen »Alice im Wunder­land« – »Alice with machine guns« hat es Snyder selbst genannt – reist ein Mädchen in eine Jenseits­welt, und begegnet dort allerlei merk­wür­digen Kreaturen und multiplen Realitäten.

In ihrem logisch-narra­tiven Kern dreht sich die Geschichte darum, dass Babydoll mit vier weiteren Insassen die Flucht aus der Anstalt plant, aber nur fünf Tage Zeit hat, bevor ihr die finale Operation droht. Bald jedoch entfaltet sie sich auf insgesamt drei Realitäts­ebenen, die sich gegen­seitig beein­flussen, und zwischen denen die Figuren recht frei hin- und herreisen können. Sucker Punch erinnert also auch stark an Chris­to­pher Nolans Traum­thriller Inception, wirkt wie dessen bessere, konse­quen­tere Variante – weil hier das Irreale des Träumens wirklich ernst genommen wird, weil Lust und Verrückt­heit erkennbar sind, und Snyder im Gegensatz zu Nolan nie versucht, am Ende wieder säuber­lich aufzu­räumen und Ordnung zu schaffen.

Den Übergang zwischen den Welten ermög­licht in diesem Fall die »polnische Methode«, eine Art Tanz­the­rapie. Da sollen die Pati­en­tinnen sich selbst in Trance verlieren, und so zu den Urgründen ihrer Psyche finden – zugleich wird diesem Tanz die Eigen­schaft zuge­schrieben, zur Tür zu einer zweiten Welt zu werden. Eine der Traum­welten, in die man sich dann hinein­be­gibt, ist eine vulka­ni­sche Land­schaft. In ihrer Mitte ein tiefer Vulkan­krater: »Sandalen am Krater lassen, wie Empe­do­kles. Und dann hinab. Nicht denken: Wieder­kehr. Nicht sagen: halb und halb.«

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Hanni und Nanni treffen Kill Bill. Die Maul­wurfs­hügel der Abbild­rea­lität werden hier von Anfang an frei­ge­geben. Realis­tisch sind hier allen­falls die Empfin­dungen. Ansonsten ist dies keines­wegs ein irgendwie realis­ti­sches Psycho­drama über Figuren, die übers Kuckucks­nest fliegen, sondern das, was man in Amerika einen »Mindfuck« nennt – ein Psycho­thriller mit phan­tas­ti­schen Elementen und eine Art Matrix für die Gene­ra­tion 2.0. Als ob da alles nicht schon mehr als genug wäre, versucht Snyder auch noch, mit dem virtuosen Zita­ten­kino eines Tarantino gleich­zu­ziehen, es gar noch zu über­bieten: So findet man hier mal offene Verweise, mal Spuren­ele­mente von unter anderem dem surrealen Alptraum­kino eines David Lynch, Sam Fuller’s Shock Corridor, japa­ni­schen Animes wie der Girlie-Serie »Sailor Moon« und den oben erwähnten Film von Yoshiharu Ashino, man erkennt offene Verweise auf den Ersten Weltkrieg und das Unglück der »Hinden­burg«, auf Vietnam, Steampunk, und das Martial-Arts-Kino, zu Zombie-Filmen, B-Movies, auf Ophüls' Lola Montès und John Hustons Moulin Rouge... Ohne Frage: Das alles kann gewaltig nerven. Aber es faszi­niert auch und ist im Gegensatz zu so vielem unver­wech­selbar. Man wird hier Kino­bilder sehen, die man viel­leicht nie sehen wollte, die man aber jeden­falls noch nie gesehen hat.

Und dieses Kino ist viel näher dran am Jahrmarkt, dem Ort, in dem die Ursprünge des Kinos liegen, als fast alles, was man in den letzten Jahren gesehen hat – ein Meis­ter­werk des B-Trash.

Dennoch gibt es auch eine Art Botschaft: »Reality is a prison. Your mind can set you free.« Das erklärt erst einmal nur der Trailer zum Film. Die Thera­peutin wird deut­li­cher: »You are afraid. Don’t be. To reach your own paradise, just let go. What you are imagining, is what you control.« Es geht also um Selbst­be­freiung durch Phantasie. Und um Stand­punkte: »If you don’t stand for something, you'll fall for anything.« – Das dürfte für den Rela­ti­vismus des Mehr­heits­pu­bli­kums die größte Provo­ka­tion sein.

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Army of me. Sucker Punch, der in den USA gerade ange­laufen ist und dort Kritik wie Publikum spaltet, ist damit zwei­fellos ein Ereignis: Ein Mädchen-Inter­nats­film mit Martial-Arts-Elementen, ein styli­scher Neo-Noir und eine Science-Fiction-Fantasy, Trash-Kino, das den schlechten Geschmack feiert, und ein opulentes Histo­ri­en­spek­takel voller Bild-Refe­renzen. Gewollt naiv und zugleich ganz und gar selbst­be­wusst. Sucker Punch ist opernhaft, gnadenlos über­trieben, pathos­ge­laden, Über­wäl­ti­gungs­kino, dass sich sub- und supraa­tomar dem Rausch ergeben hat – dazu hört man dann immer wieder lange Poppas­sagen von Queen, Covers von Jefferson Airplanes Drogen­song »White Rabbit«, von »Love Is the Drug«, von »Tomorrow Never Knows«, und gleich zweimal Björks Lied »Army of Me«. In dessen Text kann man Snyders Haltung entdecken: »You're alright/ There’s nothing wrong/ Self-suffi­ci­ence please/ And get to work/ If you complain once more/ You'll meet an army of me.«