USA/Kanada 2010 · 110 min. · FSK: ab 16 Regie: Zack Snyder Drehbuch: Zack Snyder, Steve Shibuya Kamera: Larry Fong Darsteller: Emily Browning, Abbie Cornish, Jena Malone, Vanessa Hudgens, Jamie Chung u.a. |
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Girlie-Horror-Picture-Show, irgendwo zwischen Internats-Martial-Art und Zombie-Film |
Ein Film für alle und keinen. Kein Film, der in irgendeiner Weise mit den Maßstäben des realistischen Erzählens gemessen werden könnte. Sondern Kino jenseits von Gut und Böse, ein Überfilm, an dem nichts halb und halb ist, der sich sub- und supratomar dem Rausch der Bilder ergeben hat. In diesem Sinn: Kino pur. Zugleich ein hochdifferenzierter, komplexer Kommentar zum derzeitigen Blockbusterkino und allem, was da so derzeit Erfolg hat. Ein Kommentar also zur Tendenz zum Cyberfilm, die mit Matrix ihren Ausgang nahm; zur Tendenz, Handlungen in irreale Räume zu verlagern, und am Ende dem ganzen Film den Boden unter den Füßen wegzuziehen: Inception, Shutter Island, davor schon Memento, Avatar. Ein Kommentar allerdings, der sich der reinsten Mittel des Kinos bedient: Der Bilder. Des Fetischismus. Und der Musik. Ein Stummfilm also gewissermaßen. Vor allem und garantiert aber ein Film, wie man ihn noch nicht gesehen hat.
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Der Sturm geht richtig los etwa nach 30 Minuten in diesem Film, mitten in Schützengräben, die denen des Ersten Weltkriegs ziemlich ähnlich sehen. Auch dies ist eine Materialschlacht. Zu Dutzenden schweben Kampfzeppeline recht niedrig über der Erde hinweg. Ein Ort ist dem Erdboden gleichgemacht, in seiner Mitte stehen die ausgebombten Reste einer gotischen Kathedrale. Sie sieht aus wie Notre Dame, aber da die Seine fehlt, dürfte dies, wenn überhaupt ein existierender Ort, eher Reims sein. Gekämpft wird gegen Krieger in deutschen Uniformen, aber es sind keine Menschen, sondern Zombies. Und da ihre Gegner fünf furchtlose junge Mädchen sind, die gegen sie mit Pistolen, Kampfkunst und Samuraischwertern antreten, erinnert man sich an den knapp zwei Jahre alten japanisch-russischen Anime First Squad – The Moment of Truth von Yoshiharu Ashino – der allerdings im Zweiten Weltkrieg angesiedelt war. Das alles ist ohne Frage auch die offenkundige Phantasie eines Fanboys mit zuviel Videogame-Erfahrungen. Aber noch viel mehr. Dieser Film ist eine Hymne auf diese furchtlosen Mädchen. Ein Spiel mit Chiffren. Der Versuch, etwas auszuprobieren, mit unbedingtem Willen zur Innovation zu inszenieren, und trotzdem für die Masse. Die Verwalter des »richtigen« Erzählens haben daran naturgemäß jetzt eine Menge auszusetzen. Denn »richtig« ist hier gar nichts.
Das allererste Bild stellt eigentlich schon klar, wo wir uns befinden, und wie der Film gesehen werden will: Es zeigt eine billige Theaterbühne, Vaudeville. Der Bühnenvorhang ist auf, die Kamera zoomt hinein, dazu läuft eine Coverversion des Eurythmics-Lieds »Sweet Dreams (Are Made of This)« – alles ist also Theater und Traumkino. Geht es noch eindeutiger? Dann beginnt ein furioser Anfang, der in ausgeblichenen, fast schwarzweißen Bildern und schnell hintereinander geschnittenen, knappen Szenen eine schmutzige Märchen-Geschichte erzählt. In der sind zwei kleine Mädchen nach dem Tod der Mutter einem bösen Stiefvater ausgesetzt. Der drangsaliert beide, tötet die jüngere, versucht die ältere zu missbrauchen, sie wehrt sich vehement, und nun wird die schwer Traumatisierte, die bald von allen nur Babydoll genannt wird, während wir ihren richtigen Namen nie erfahren, vom Stiefvater in ein Mädchenheim gebracht, das zugleich eine gutbewachte Nervenklinik ist. Die anderen Insassinnen in dieser Anstalt sind durchweg jung, hübsch und leicht bekleidet, die Wärter schmutzig, sadistisch und degeneriert – eine Phantasie ohne Zweifel, doch wer sie erträumt, das bleibt unklar.
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Girlies Werk und Teufels Beitrag. Das alles dauert nur wenige Minuten. Schon hier ein paar ungemein einprägsame, eindrucksvolle Bilder, wie das eines hellgrünen Auges, das schreckensgeweitet durch ein Schlüsselloch blickt, daneben zugleich der Eindruck des Überhitzten, des Zuviel. Kann Regisseur Zack Snyder das alles ernst meinen? Er kann. Nach 300 und Watchmen, die nicht ohne Grund viel kritisiert wurden, und doch das unbestreitbare Ausnahmetalent dieses Filmkünstlers sichtbar machten, ist sein neuer Film Sucker Punch nun eines der selten gewordenen US-Kinowerke, die völlig ohne Vorlage aus anderen Medien – wie Buch, Comic, Computerspiel – entstanden. Dieser Film ist eine Unverschämtheit im besten Sinn: ein offener Affront gegen das aalglatte Kino der Konventionen und der Nettigkeit, gegen alle, die The King’s Speech für große Kinokunst halten. Ein Punch mitten in die vom Mainstream eingeübten Erwartungen nach einer glatten, Erzähl-Gesetzen und Darstellungsüblichkeiten folgenden Geschichte, der immer wieder wie eine Abfolge von Videoclips wirkt (was für manche bestimmt ein schon Gegenargument ist) und zugleich doch ein Beispiel für die neue Generation des Blockbusterkinos. Denn was »Transformers« für die Maschinen ist, das ist dieser Film für die Menschen: Rasend und überbordend, drei, vier, fünf Blockbuster in einem, in gewissem Sinn zuviel und für manche bestimmt zu wenig – dabei jedenfalls von befremdender Faszination.
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Des Wahnsinns nette Bräute. Eine Konstellation wie aus einem Märchen, mit umgedrehten Vorzeichen: Eine holde blonde Unschuld, ein böser Stiefvater, ein schlimmes Schloss, das zum Gefängnis, zum Verließ wird. Alles Gothic. Zugleich ein Frauengefängnisfilm, wie man ihn seit den 70ern nicht mehr gesehen hat, Sexploitation, in deren Zentrum fünf des Wahnsinns geile Bräute stehen, girls with guns. They don’t need no education. Die Referenzen reichen hier von schmutzigen Lagerfilmen wie Caged, Caged Heat, 99 Women und Love Camp 7 bis zu dem anspruchsvollen Wedekind-Pastiche der Französin Lucile Hadzihalilovic, die unter dem Titel Innocence 2005 einen der cleversten und originellsten Mädcheninternatsfilme, überhaupt Mädchenfilme des letzten Jahrzehnts vorgelegt hatte. Auch Sucker Punch ist auf seine Weise ein emanzipatorischer Mädchenfilm. Man muss hier auch an die Tank Girl-Verfilmung von 1995 denken, nicht nur, weil hier auch Björk im Soundtrack vertreten war, auch weil ein Trauma der Selbstbefreiung von Weiblichkeit vorangeht, weil Frauen von fast allen Männern Gewalt und Vergewaltigungswünsche zu erwarten haben. Schon die Wahl der Hauptdarstellerin Emily Browning ist ein Zitat in diesem an Verweisen überquellenden Kino: Denn Browning spielte 2004 die Hauptrolle der Violet Baudelaire [http://www.youtube.com/watch?v=BKgi3RPIBlI] in der Lemony Snicket-Verfilmung A Series of Unfortunate Events [http://www.youtube.com/watch?v=Cbgde8Ns_G8] – auch dies ein Beispiel für feminine Souveränität und postfeministischen Girlism.
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»Alice with Machine Guns«. Alles scheint irgendwann in den späten vierziger oder den fünfziger Jahren zu spielen – Verweise auf den Film Noir gab es schon gleich zu Beginn und immer wieder, das Design ist insgesamt »Old School«, die Räume sind verbraucht und düster, die Möbel aus Holz und Leder, die Schlüssel aus Metall, die Telefone mit Kabeln versehen, und es gibt weder Computer noch Überwachungskameras. (Andererseits gibt es zumindest in den Tagträumen des Mädchens Babydoll Freisprechgeräte – aber das ist eine andere Geschichte, dazu später.) Wir zweifeln nicht an der neuen Insassin, denn wir wissen, dass ihr Stiefvater dafür bezahlt hat, dass ihr per Lobotomie zugleich Gedächtnis wie Persönlichkeit ausgetrieben werden. Wir erinnern uns: Lobotomie, das war jene heute unvorstellbar brutale Methode, mit der bis vor knapp 50 Jahren entsprechenden Patienten die Hirnhälften durchtrennt und diese damit »ruhiggestellt« wurden. Auch das also erinnert gemeinsam mit dem Schauplatz einer geschlossenen Nervenheilanstalt stark an Martin Scorseses Shutter Island – und tatsächlich ist der auch in seiner früh einsetzenden, sich lange nicht aufklärenden Verschmelzung mehrerer Realitätsebenen – Erinnerung? Tagträume? Wahnvorstellungen? – eines der offenen Vorbilder für diesen Film. Es gibt freilich noch viele mehr: Wie in Lewis Carolls Märchen »Alice im Wunderland« – »Alice with machine guns« hat es Snyder selbst genannt – reist ein Mädchen in eine Jenseitswelt, und begegnet dort allerlei merkwürdigen Kreaturen und multiplen Realitäten.
In ihrem logisch-narrativen Kern dreht sich die Geschichte darum, dass Babydoll mit vier weiteren Insassen die Flucht aus der Anstalt plant, aber nur fünf Tage Zeit hat, bevor ihr die finale Operation droht. Bald jedoch entfaltet sie sich auf insgesamt drei Realitätsebenen, die sich gegenseitig beeinflussen, und zwischen denen die Figuren recht frei hin- und herreisen können. Sucker Punch erinnert also auch stark an Christopher Nolans Traumthriller Inception, wirkt wie dessen bessere, konsequentere Variante – weil hier das Irreale des Träumens wirklich ernst genommen wird, weil Lust und Verrücktheit erkennbar sind, und Snyder im Gegensatz zu Nolan nie versucht, am Ende wieder säuberlich aufzuräumen und Ordnung zu schaffen.
Den Übergang zwischen den Welten ermöglicht in diesem Fall die »polnische Methode«, eine Art Tanztherapie. Da sollen die Patientinnen sich selbst in Trance verlieren, und so zu den Urgründen ihrer Psyche finden – zugleich wird diesem Tanz die Eigenschaft zugeschrieben, zur Tür zu einer zweiten Welt zu werden. Eine der Traumwelten, in die man sich dann hineinbegibt, ist eine vulkanische Landschaft. In ihrer Mitte ein tiefer Vulkankrater: »Sandalen am Krater lassen, wie Empedokles. Und dann hinab. Nicht denken: Wiederkehr. Nicht sagen: halb und halb.«
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Hanni und Nanni treffen Kill Bill. Die Maulwurfshügel der Abbildrealität werden hier von Anfang an freigegeben. Realistisch sind hier allenfalls die Empfindungen. Ansonsten ist dies keineswegs ein irgendwie realistisches Psychodrama über Figuren, die übers Kuckucksnest fliegen, sondern das, was man in Amerika einen »Mindfuck« nennt – ein Psychothriller mit phantastischen Elementen und eine Art Matrix für die Generation 2.0. Als ob da alles nicht schon mehr als genug wäre, versucht Snyder auch noch, mit dem virtuosen Zitatenkino eines Tarantino gleichzuziehen, es gar noch zu überbieten: So findet man hier mal offene Verweise, mal Spurenelemente von unter anderem dem surrealen Alptraumkino eines David Lynch, Sam Fuller’s Shock Corridor, japanischen Animes wie der Girlie-Serie »Sailor Moon« und den oben erwähnten Film von Yoshiharu Ashino, man erkennt offene Verweise auf den Ersten Weltkrieg und das Unglück der »Hindenburg«, auf Vietnam, Steampunk, und das Martial-Arts-Kino, zu Zombie-Filmen, B-Movies, auf Ophüls' Lola Montès und John Hustons Moulin Rouge... Ohne Frage: Das alles kann gewaltig nerven. Aber es fasziniert auch und ist im Gegensatz zu so vielem unverwechselbar. Man wird hier Kinobilder sehen, die man vielleicht nie sehen wollte, die man aber jedenfalls noch nie gesehen hat.
Und dieses Kino ist viel näher dran am Jahrmarkt, dem Ort, in dem die Ursprünge des Kinos liegen, als fast alles, was man in den letzten Jahren gesehen hat – ein Meisterwerk des B-Trash.
Dennoch gibt es auch eine Art Botschaft: »Reality is a prison. Your mind can set you free.« Das erklärt erst einmal nur der Trailer zum Film. Die Therapeutin wird deutlicher: »You are afraid. Don’t be. To reach your own paradise, just let go. What you are imagining, is what you control.« Es geht also um Selbstbefreiung durch Phantasie. Und um Standpunkte: »If you don’t stand for something, you'll fall for anything.« – Das dürfte für den Relativismus des Mehrheitspublikums die größte Provokation sein.
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Army of me. Sucker Punch, der in den USA gerade angelaufen ist und dort Kritik wie Publikum spaltet, ist damit zweifellos ein Ereignis: Ein Mädchen-Internatsfilm mit Martial-Arts-Elementen, ein stylischer Neo-Noir und eine Science-Fiction-Fantasy, Trash-Kino, das den schlechten Geschmack feiert, und ein opulentes Historienspektakel voller Bild-Referenzen. Gewollt naiv und zugleich ganz und gar selbstbewusst. Sucker Punch ist opernhaft, gnadenlos übertrieben, pathosgeladen, Überwältigungskino, dass sich sub- und supraatomar dem Rausch ergeben hat – dazu hört man dann immer wieder lange Poppassagen von Queen, Covers von Jefferson Airplanes Drogensong »White Rabbit«, von »Love Is the Drug«, von »Tomorrow Never Knows«, und gleich zweimal Björks Lied »Army of Me«. In dessen Text kann man Snyders Haltung entdecken: »You're alright/ There’s nothing wrong/ Self-sufficience please/ And get to work/ If you complain once more/ You'll meet an army of me.«