S/D/N/F 2014 · 100 min. · FSK: ab 12 Regie: Roy Andersson Drehbuch: Roy Andersson Kamera: István Borbás, Gergely Pálos Darsteller: Holger Andersson, Nisse Vestblom, Charlotta Larsson, Viktor Gyllenberg, Lotti Törnros u.a. |
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Ein Mann steht im Museum, die Frau denkt über das Leben nach |
Am Ende steht der Anfang: wenn die Leinwand wieder weiß geworden ist, sitzt man selbst da und denkt nach über das Welttheater-Leben, das 100 Minuten lang zuvor an einem vorbeigezogen ist. In unzähligen Alltags-, Geschichts- oder Phantasieszenen – das lässt sich bisweilen kaum trennen.
Am Anfang steht das Ende: der Regisseur Roy Andersson verabschiedet sich mit Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach in einem Zwischentitel, weiß auf schwarz, von seiner »Trilogie über das Menschsein«. Kurz darauf scheiden drei Menschen ungewollt und undramatisch aus dem Leben, in nebensächlichen, profanen Momenten wie dem Bezahlen eines Essens an einer Kantinenkasse oder dem Öffnen einer Weinflasche. In diesem Spannungsverhältnis baut Andersson auch die nachfolgenden Szenen auf: das Banale – man könnte auch sagen: das Alltägliche – vermengt sich mit dem Dramatischen, dem Überlebensgroßen.
Erstmals innerhalb dieser Trilogie (auch die ersten Teile Songs from the Second Floor und Das jüngste Gewitter bestanden aus einem Potpurri an Einzelszenen) bildet das Wirken zweier Protagonisten ein fortlaufendes, ansatzweise auch handlungstreibendes Narrativ innerhalb des Films. Die Scherzartikelverkäufer Jonathan und Sam klappern mit einem kleinen Sortiment begrenzt unterhaltsamer Artikeln verschiedenste Geschäfte und potentielle Kunden ab. Vampirzähne und groteske Masken wollen sie Leuten verkaufen, denen es aber entweder am Willen zum einfältigen Humor oder an der finanziellen Potenz fehlt. Ihr Chef setzt sie unter Druck, der schließlich auch zu einem Zerwürfnis zwischen ihnen führt. Irgendetwas, die Einsamkeit oder die Hundetreue, hält sie letztlich beieinander. Die Anlehnung an die Hauptfiguren aus Samuel Becketts Warten auf Godot ist offensichtlich, ohne dass sie zu einer bloßen Imitation würde, denn hier handelt es sich durchaus um lebende Wesen, die verletzlich sind oder wehmütig und dies auch in ihren spärlichen Worten auszudrücken vermögen oder in ihrer vielsagend-eingefrorenen Physiognomie. Diese merkwürdig versteinerten, wie bleischwere Luftballons daherkommenden Gestalten stehen beispielhaft für das Figurenarsenal, das Anderssons Filme auszeichnet. Seine Menschen sind gefrorene Emotionen, ihre Körper und Gesichter verdichtete Momente der Trauer oder des heimlichen Glücks, beobachtet mit sachlicher Anteilnahme.
Anderssons filmische Augen sehen überrealistische Bilder, die auf den Millimeter genau kadriert und ausgestaltet sind. Fast immer arbeiten sie mit Fluchtlinien in die Tiefe und einer Betonung diagonaler Linien. Die Kamera bewegt sich nie, die Personen können im Vordergrund stehen und scheinen dennoch weit entfernt vom Betrachter. Ob ein im Versuchslabor gequältes Äffchen gefilmt wird oder ein Mann, der aus einem Fenster lehnend eine Zigarette raucht und dabei von einer jüngeren, leicht bekleideten Frau hinter seinem Rücken betrachtet wird – in beiden Fällen ist die Perspektive die eines neutralen Neugierigen, dem nichts Menschliches oder Unmenschliches fremd ist.
Darüber hinaus ist dieser Film einer der wenigen Filme überhaupt seit Anbruch des digitalen Filmemachens, der vermittelt, welche Möglichkeiten die digitale Fotografie bereithält und der sie zugleich vollendet beherrscht. In keiner der 39 Szenen (so viele sind es tatsächlich insgesamt) gibt es, sei es im Vorder-, Mittel- oder Hintergrund, eine Stelle, die nicht gestochen scharf erscheint. Dies ist eine Gegebenheit, die man in der Malerei vorfinden kann, etwa bei den von Andersson verehrten Künstlern der Neuen Sachlichkeit, aber bislang noch nie in einem Film so konsequent-konzise verwirklicht worden ist. Das Moment des Überrealistischen gibt den Szenen eine berückende Präsenz, während die gleichsam traumartige Farbgestaltung sie in die Sphäre des Unwirklichen entrückt. Meist liegt eine staubgraue Schicht über den Räumen, die wenigen leuchtenden Farben (das Gelb einer Königshose oder die verhaltene Blau eines Himmels) sind im Wortsinn Lichtblicke.
Vor sieben Jahren hatte Andersson Das jüngste Gewitter fertiggestellt, sieben Jahre davor Songs from the Second Floor. Es wäre eine zu schöne Unterstellung, passend zu seinem der burlesken Pointe nicht abgeneigten Stil, dass Andersson die Gleichmäßigkeit auch bei der Veröffentlichung seiner Filme schätzt. Tatsächlich hat die lange Entstehungszeit, so betont Andersson in Interviews, mit der schwierigen Vereinbarkeit von völliger künstlerischer Freiheit und finanzieller Realisierbarkeit zu tun. Andersson dreht über mehrere Monate verteilt überwiegend in seinem eigenen Studio in Stockholm, feilt lange an der Ausstattung und Bildgestaltung (erschwerend kam bei diesem Film die Erkrankung von Anderssons ungarischem Kameramann István Borbás hinzu, weshalb ein zweiter nahtlos eingesprungener Kameramann, Gergely Pálos, sich den Credit teilt) sowie an manchen Szenen von sagenhafter Choreographie. Die längste Einstellung in Eine Taube sitzt auf einem Zweig…, die geschätzt knapp zehn Minuten dauert, beginnt mit einer Genreszene in einem tristen Vorstadtcafé, in die Jonathan und Sam förmlich hineinstolpern, um auch hier ihre Waren zu verkaufen. Nach wenigen Minuten zieht im Hintergrund auf der Straße, die man durch drei größere Fenster sieht, plötzlich ein Armeeregiment in historischen Kostümen vorbei, einige Minuten lang, währenddessen der schwedische König Karl XII. auf dem Pferd das Café betritt, begleitet von seiner Gefolgschaft. Kurz darauf kommt es zu einer Annäherung zwischen ihm und einem bleichen jungen Mann hinter der Theke. Eine kurze, vage Berührung wird zum Sinnlichsten und Rührendsten, was der Film seinen Figuren zugesteht.
Der Termin des Kinostarts dieses eigenwilligen, nachsichtigen Kompendiums des Menschlichen könnte nicht besser gewählt sein: ganz zu Beginn eines neuen Jahres, das erneut 365mal die Möglichkeit bietet, sich zwischen den Stunden der Bettschwere zu irren, verirren, am Leben teilzuhaben oder es sein zu lassen.
»Eine Taube saß auf einem Zweig und dachte über die Existenz des Menschen nach. Piep.« Diesen Witz liest man als Schrifttafel, noch bevor der Film beginnt. Dann folgen drei knappe Szenen, die durch den Zwischentitel »Begegnung mit dem Tod« eingeleitet werden. Zuerst will ein Ehepaar zu Abend essen. Sie geht in die Küche, singt ein Lied. Er versucht, eine Weinflasche zu öffnen, strengt sich an, ruft nach ihr, bricht zusammen, ruft nochmal nach ihr, stirbt dabei, ruft ein weiteres Mal
nach ihr. Doch sie hört es nicht, sondern singt ihr fröhliches Lied. Zynismus oder tragische Weltsicht? »Begegnung mit dem Tod 2« zeigt ein Krankenhausbett. Darin liegt eine sterbende Alte; drei Kinder, auch schon grau geworden, umringen sie. Sie hält ihre Handtasche umklammert. Die Kinder wollen das, was darin ist, und versuchen ihr die Tasche zu entreißen – was scheitert. Sie zeigt nur ein Lebenszeichen, wenn es ums Geld geht. Sarkasmus oder Verzweiflung? Dann »Begegnung mit
dem Tod 3«: Der Speisesaal eines Kreuzfahrtschiffs. Ein Toter liegt am Boden. Der Kapitän und ein Arzt sind bei ihm. Die Gäste im Saal schweigen. Die Serviererin fragt: »Und was mache ich jetzt mit dem Essen? Er hat schon bezahlt.« Der Kapitän: »Wir können nicht zweimal kassieren.«
Dann ein Tanzsaal: Flamenco-Unterricht, zwei Männer und fünf Frauen, die dicke Flamenco-Lehrerin ist offenkundig in den jungen Mann im Vordergrund verliebt. Er weist ihre Avancen zurück. Später sehen wir
ein Treffen und ihre Zurückweisung durch ihn in einem Restaurant, ihre Verzweiflung, die Blicke der anderen Leute. Peinlich berührt. Das Ich und die Anderen; die anderen, die die Hölle sind für das Ich, und das Ich, dass sich selbst ein Gelächter ist, »oder eine schmerzliche Scham«, wie Nietzsche schrieb. Das sind Themen, die sich durch diesen Film ziehen, noch deutlicher, als schon durch die anderen von Roy Andersson.
Nach diesem Prolog folgt hundert Minuten lang kurze Szene auf kurze Szene, die nun allerdings nur vage miteinander verbunden sind, durch Wiederholung der Themen und Orte, Wiederkehr von Figuren. Zwei Running Gags: Nämlich immer wieder Telefongespräche, in denen die zu Sehenden immer je zweimal sagen: »Schön zu hören, dass es dir gut geht.« Gegen Ende des Films ist darunter auch ein potentieller Selbstmörder; er hat die Pistole schon an seinem Kopf. Das alles soll uns wohl sagen,
dass solche Rituale blöd sind, dass wir über unsere Gefühle nicht wirklich reden. Stimmt. Aber vielleicht hält genau das, die Zivilisierung der Emotionen die Gesellschaft zusammen, eine Gesellschaft, die der Film zu verachten scheint, nicht zu lieben.
Zweiter Running Gag: Zwei Humoristen, genauer gesagt Vertreter von Scherzartikeln, die nie etwas verkaufen, aber offene Rechnungen kassieren und eintreiben wollen, und irgendwann selbst mit Schuldeintreibern konfrontiert sind.
Das könnten wir verstehen als Aussage: Wir leben alle in einer Ökonomie der offenen Rechnungen.
Man kann diese Szenen je nach Temperament und Geschmack als gespielte Witze betrachten, als kleine sarkastische Reflexionen über menschliche Schwächen, oder auch als tiefere Einsichten über die Absurdität unseres Daseins.
Am besten gelungen sind die schrilleren, artifizielleren Szenen. Etwa: Ein Lokal der Gegenwart wird plötzlich von Soldaten des frühen 18. Jahrhundert heimgesucht. Sie räumen die Kneipe, verweisen alle Frauen des Orts und König Karl XII., der unglückliche strahlende Feldherr des »Großen Nordischen Kriegs« betritt das Lokal. Der Film zeigt ihn als effeminierten Jüngling, der den Barmann in sein Schlafzimmer beordert. Vielleicht doch ein eher etwas billiger Witz. Ansonsten ist die Szene großartig, weil zwei Welten aufeinanderkrachen, und man sich vorstellen kann, wie es wohl wäre, würden in den heutigen Alltag plötzlich Verhältnisse wie vor 300 Jahren einbrechen.
Endgültig absurd wird es am Ende nach dem letzten Zwischentitel: »Homo sapiens«. Ein Affe im Versuchslabor, auf schockierende Weise festgekettet und sein Kopf eingespannt, der Schädel aufgesägt und verdrahtet. Ihm werden bei lebendigem Leib Stromstöße versetzt, während die Laborantin neben ihm – hässlich, dick, im Kittel, wie fast alle Menschen in diesem Film hässlich, dick und unvorteilhaft gekleidet sind – während diese Laborantin also ungerührt telefoniert. Das
ist natürlich billigste Denunziation von Wissenschaft, so billig, dass es den Zuschauer beleidigt zurücklässt, aber trotzdem ein hochgradig eindrucksvolles, dabei seltsam schönes Bild.
Ebenso das Nächste: Ein Dutzend halbnackte Schwarze, offenbar afrikanische Eingeborene in traditioneller Kleidung, angekettet zum Teil mit Halseisen – »wie der Affe« kommt einem unwillkürlich in den Sinn, soll es wohl auch, obwohl und weil diese Assoziation rassistisch ist. Sie werden
von Weißen im Tropenkostüm des frühen im 20. Jahrhunderts mit Peitschen in einen Metallkessel getrieben, der wird erhitzt und beginnt sich zu drehen, womöglich von innen im Überlebenskampf angetrieben. Es folgt ein 180-Grad-Schwenk auf eine Party-Gesellschaft aus lauter reichen Alten, die sich das Spektakel angucken. Auch das denunziert überaus billig und viel zu einfach westlichen Kolonialismus, ist aber gut abzusehen und als Bild für sich stark.
Seit Jahrzehnten ist der Schwede Roy Andersson berühmt für seine sehr absonderlichen und wohlstilisierten Betrachtungen über den Menschen, etwa in Songs from the Second Floor. Auch sein neues Werk mit dem langen Titel Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach fügt sich wieder in die sehr besondere Ästhetik dieses Regisseurs: Es gibt keine klare
Hauptfigur, sondern gleich deren zehn bis zwanzig. Neben den Darstellern spielen auch die Räume Hauptrollen. Diese Räume sind in Anderssons Filmen sozusagen die halbe Miete; sie sind gleichberechtigte Hauptdarsteller: Sie sind Grau in Grau, Grüngrau in Grüngrau gehalten. Ihre Möbel stammen aus der schwer definierbaren Zeit der »Trentes Glorieuses«, der drei Dekaden des europäischen Wirtschaftswunders zwischen 1945 und 1975 – eine leicht angestaubte wohlfahrtsstaatliche
Ästhetik aus Brauntönen und Pastellfarben, aus Platik, Holz und billigem Metall. Die stilisierten Bilder sind auch sehr oft exakt nach Goldenem Schnitt gestaltet, von links kommen die Menschen, links ist der Raum offener, weiter, als rechts. Sehr schön anzusehen ist alles.
Man sieht zum einen Institutionen: Ein Krankenhaus, ein Männerwohnheim, eine Bushaltestelle, eine Gaststätte. Die Menschen in ihnen sind bis zum letzten Statisten überaus genau choreographiert. Die Menschen
haben weißrosa geschminkte Haut und pastellfarbene Kleidung. Alle haben einen trüben, traurigen, depressiven Gesichtsausdruck. Und doch ist alles zusammen auf befremdende Weise schön anzusehen und strahlt etwas unbedingt Artifizielles aus, manche würden sagen Manieriertes. Und manchmal wird nicht geredet, sondern gesungen.
Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach ist ein sehr, sehr lustiger Film. Sein Humor ist allerdings oft sarkastisch oder verzweifelt oder zynisch. Man lacht selten ironisch und nie mit den Figuren. Aber man lacht. Trotzdem ist die Stimmung keinesfalls heiter: Andersson zeigt oft Tod, menschliche Bosheit, Scheitern und Leiden, selten Liebe und Trost. Die Menschen hier sind böse und hässlich, ihr Treiben ist sinnlos. So wird alles zu einer Betrachtung über den Tod, unsere Ökonomie der offenen Rechnungen, und ein Dokument für die Selbstzweifel und den Selbsthass des Westens.
Gehen wir nochmal zurück zum Anfang: »Eine Taube saß auf einem Zweig und dachte über die Existenz des Menschen nach. Piep«. Dieser Anfang des Films enthält tatsächlich bereits den ganzen Film. Denn was sagt uns das? Was soll uns das sagen? Alles ist eitel? Alles sinnlos? Aber was? Das Leben der Menschen? Oder vielleicht das der Taube? Denn genaugenommen wissen wir ja nicht, ob eine Taube überhaupt denken kann, und wie das ist, wenn eine Taube nachdenkt. Wenn sie über den Menschen nachdenkt vertäubt sie vielleicht alles Menschliches, weswegen dann nur ein »Piep!« herauskommt, während umgekehrt, der Mensch, wenn er über die Taube nachdenkt, sie vermenschlicht, und eben glaubt, dass sie über die Existenz reflektiert, was natürlich auch nur ein humanistischer Fehlschluss ist. Weil so etwas Menschen tun, aber nicht Tiere. Immerhin schreiben Menschen Gedichte über Tauben, während Tauben keine Filme machen, und man auch von ihren Gedichten noch nichts gehört hat.
Mit anderen Worten: Was soll der Scheiß? So etwas auch nur kurz als philosophisches Problem ernst zu nehmen, sagt uns vor allem etwas über die Schwäche und Sensibilität (vielleicht übertriebene Sensibilität) der Menschen, vor allem der europäischen. Über ihre Unfähigkeit, sich selber ernst zu nehmen, und sich um sich zu kümmern, ihre Lage zu verbessern, anstatt nur vor sich hin zu jammern. »You are a crying baby« – der das sagt im Film ist natürlich der
menschenverachtende der beiden Humoristen. Und er sagt es zum Sensibilisten. Die Condition postmoderne ist leider noch nicht vorbei, zumindest in den Köpfen nicht.
Roy Andersson gelingt ein philosophischer Film, vernunftsskeptisch, wissenschaftsfeindlich, misanthropisch – nur ist womöglich der ganze Film selbst, seine Misanthropie und Feindschaft gegenüber aller Rationalität bereits ein wesentlicher Teil des Problems, das er vorgibt nur zu beschreiben.
Zugleich aber ist dieser Film auch berührend und schön. Es ist ein ausgezeichneter, sehr origineller und unbedingt sehenswerter Film. In diesen Kontext der sentimental verpackten Verhaltenslehren der Kälte gehört auch Roy Anderssons so kluge wie kalte Betrachtung über das Drama und die Absurdität der menschlichen Existenz.