71. Filmfestspiele von Venedig 2014
Die Bankrotterklärung der Phantasie |
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Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence: Der Gewinner des Goldenen Löwen 2014 | ||
(Foto: Neue Visionen Filmverleih GmbH) |
»To scandalize is alright. Beeing scandalized is a pleasure. I am more militant than ever.« – Pier Paolo Pasolini
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Als der französische Präsident der internationalen Jury, der Filmkomponist Alexandre Desplat am Samstagabend verkündete, wer den Goldenen Löwen von Venedig gewinnen würde, stand fest: Das schwedische Kino erlebte eine historische Stunde.
Der Sieg für Andersson ist einer der größten Erfolge des schwedischen Kinos in der Filmgeschichte, der größte seit über 50 Jahren, seit Ingmar Bergman 1958 für Wilde Erdbeeren in Berlin den Goldenen Bär gewann. Danach hatte er seine Filme seitdem zwar regelmäßig auf den Festivals von Venedig, Cannes, Berlin gezeigt, aber immer nur noch »außer Konkurrenz«.
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Schon der Titel des Gewinnerfilms Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach deutet den besonderen Stil dieses Werks an, seine Einzigartigkeit.
Statische, immer eindeutig künstlich anmutende Schauplätze, auch wenn ausnahmsweise mal in der freien Natir gedreht wurde. Meist aber baut Andersson im Studio seine Ort selbst, arrangiert wie ein Maler im Atelier alles,
kontrolliert das licht perfekt. Wenn das Ganze draußen spielt, ist der Horizont wie im klassischen Hollywood gemalt, oder metergroße Photoprojektionen schaffen die perfekte Illusion.
Zwischen Illusion und Entlarvung pendelt auch, was Andersson zeigt: Kurze Szenen, scheinbar zusammenhanglos, die sich dann doch, nach etwa 20 Minuten allmählich zu einem immer detaillierteren Puzzle fügen. Figuren kehren wieder, Situationen wiederholen sich. Aus jedermans Alltag vertraute Motive
wechseln mit Absonderlichem, Absurdem, scheinbar Banalem, und dann wieder real Unmöglichem, etwa in jener Szene, als Karl XII., Schwedens letzter Absolutist, der versuchte ein schwedisches Weltreich zu errichten, mit komplettem Hofstaat in einer Kneipe der Gegenwart auftaucht.
So bildet sich ein Netz, in dem jeder Faden mit vielen anderen verbunden ist und am Ende etwas formt, das einem Kaleidoskop menschlicher Existenz gleichkommt: Jede Drehung arrangiert das Bild neu, jeder
Perspektivwechsel läßt etwas entdecken.
Es gibt viel Humor, gelegentlich Slapstick, aber vor allem einen bitteren Sarkasmus der gelegentlich die Grenze zum Zynismus überschreitet.
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Andersson ist ein Stimmenimitator des alltäglichen Horrors, unserer aller Abgründe und des Scheiterns. Er ist kein Künstler der Hoffnung, der Liebe, der Sehnsüchte und der gelingenden Utopie. Diese Distanz zum Prinzip Hoffnung trennt ihn dann nicht nur von Bergman, sondern auch von anderen ganz Großen wie Antonioni, Bunuel, oder Godard.
Sich selbst stellte Andersson in seiner Preisrede in die Tradition des italienischen Neorealismus, und erwähnte seine Liebe zu Vittorio de
Sica.
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Mit ihrer guten Entscheidung hat die internationale Jury, der unter anderem auch der deutsche Regisseur Philip Gröning und die Österreicherin Jessica Haussner angehörten, wichtige Maßstäbe gesetzt.
Denn dies ist eine Parteinahme für radikale Kunst, für Film als Medium des Unbequemen, der Kritik, des philosophischen Nachdenkens über die Welt, der Beunruhigung und der Herausforderung Bestehenden.
Das kann auch unterhalten, das kann sogar sehr lustig sein – so
wie man auch beim Lesen einer Geschichte von Kafkas oder Thomas Bernhard manchmal lauthals lachen muss. Aber Entertainment ist eben nicht alles und Ende das Unwichtigste.
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Diese Entscheidung ist allerdings teuer erkauft. Denn die anderen wichtigen Preise überzeugen weit weniger, und schaffen im Gegenteil ein derart disparates Gesamtbild, dass man nur ahnen kann welche Debatten, welche Geschmacks- und Verständnisdifferenzen sich hinter ihnen verbergen.
Dass mit Joshua Oppenheimer und Andreij Kontschalowskij gleich beide – zugegeben ungewöhnliche – Dokumentarfilme im Wettbewerb die anderen zentralen Preise gewannen, wirkt wie
eine Bankrotterklärung der Phantasie. Hier werden Fakten prämiert, wie die selbstverständliche, aber auch politisch überaus billige Parteinahme für die Opfer von Massakern vor 50 Jahren in Indonesien – und im Fall des 77-jährigen Konschalowskij ein Proletkult-Kino, das man in der Vergangenheit begraben hoffte: In seinem Film über einen Wodka-triefenden Dorfkosmos in einer malerischen nordsibierischen Seenlandsschaft, spielen Laien sich selbst – alles ist
hier sichtbar eingeübt, nichts spontan, alles ist behauptet, nichts wahrhaftig – kitschiges Bauerntheater mit dünner Kunsttünche lackiert.
Der letztjährige Sieg des Dokumentarfilms Sacro GRA war vertretbar. Aber die Häufung von Dokumentarfilmpreisen in einem vom Spielfilm dominierten Festival wird diesem langfristig schaden.
Wo Fiktion mit Fakten wetteifert, ist das kein
Wettbewerb unter Gleichen, erst recht nicht, wenn die Dokumentarfilme so formbewusst auftreten wie in diesem Fall, und eine Jury Kompromisse finden muss – auf Tatsachen kann man sich viel leichter einigen, als auf Stile. Und so kommt die Phantasie schnell unter die Räder.
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Dabei hat die Mostra genug andere Probleme: Die Konkurrenz aus Toronto hat mehr Geld, und lockt mit moderner Infrastruktur, während die alten Gebäude in den Lagunenschwaden verfallen.
Der Lido, einst mondänes Ferienmekka des europäischen Jet Set, rottet vor sich hin und ist immer noch teuer, aber hässlich wie noch nie. Seit nunmehr fünf Jahren klafft in Sichtweite des Roten Teppich direkt vor dem Festivalzentrum ein riesiges Loch, das nur notdürftig mit Plastikplanen bedeckt
ist. Die Fotografen weichen dem Motiv geschickt aus, für alle anderen ist es unübersehbar.
Hier sollte noch unter dem Vorgänger von Festivalchef Barbera ein neues Zentrum gebaut werden – dafür fehlt nun das Geld. Immerhin wurde das Vorhandene für viele Millionen renoviert. So bleibt das Festival eines im Übergang, dessen Zukunft langfristig bedroht scheint. Aber immer noch ist dies nach Cannes die zweitwichtigste Schau der Welt fürs Autorenkino. Und schließlich hat Venedig
schon ganz andere Stürme überstanden.
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»Vielleicht gibt es bald Filmfestivals nur noch nur für ›real celebrities‹ und die Brache«, »schon heute schreiben viele Journalisten über Festivals, obwohl sie gar nicht da sind. Das ist ein Teil der Zukunft.« Mit einer befreundeten Presseagentin, die wir hier einmal N. nennen wollen hatte ich dieser Tage ein interessantes Gespräch. Sie verschickt die Filme, die sie betreut per Link. »Ich habe jetzt schon dreißig Abdrucke, am Ende der Woche fünfzig. Die Hälfte der Autoren ist nicht hier.« N. hat auch diverse Filme, die sie betreut als Link. »Was irgendwie im Netz ist, wird auch piratiert«, da macht sie sich keine Illusionen.
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Es ist immer ein besonderes Erlebnis: Am Morgen des Sonntag nach der Preisverleihung radele ich immer nach ein letztes Mal mal zum Festivalzentrum. Ich würde es wohl auch tun, wenn ich nicht müsste, aber ich muss sogar. Früher war de Presseraum noch geöffnet, und da saßen dann die übriggebliebenen Journalisten im Dutzend um ihren Text wegzuschicken, oder überhaupt erst zu schreiben. In Zeiten von Wireless, Ultrabook, und Tablet gibt es das nicht mehr. Dafür sitzen die
Journalisten nun in den Cafés mit WiFi am Boulevard Sta.Elisabetta und drängeln sich dort um die wenigen Schattenplätze. Ich bin einer der ganz wenigen, die trotzdem (und glücklicherweise) noch einmal zum Sala Grande müssen. Denn ich mache Radio und dort liegen die Studios der Rai, in denen, geht es nach dem Aussehen, schon der Duce gesessen hat.
Die Fahrt ist wunderschön, und zugleich stimmt sie melancholisch. Alles vorbei! Purer Abschied. Alles Geschäftige ist verschwunden, die
Ufer-Straße ist fast menschenleer. Früher, als das Nobelhotel »Des Bains« noch nicht geschlossen war, sah man hier wenigstens noch die Spätsommergäste. Heute sieht man nur die Arbeiter, die die Sperrholzkulissen der Mostra abbauen.
Auch der Wind wirkt kühler, es ist als ob in der Nacht der Herbst eingezogen wäre.
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Die Abschlußfeier war deprimierend. Um halb neun ging es los, um zehn Uhr bereits gab es weder Essen noch Trinken. Die Preisträger waren mit vielleicht 150 besonders wichtigen Gästen im ersten Stock des Hotels Excelsior, das gemeine Volk wurde ins Bett geschickt. Wir aßen dann im »Afrika« und dann ging’s natürlich noch ein letztes Mal ins Maleti.
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Dort sinnierte Jupp Schnelle dann erstmal über seine derzeitige Lieblingsthese, den »Niedergang des Lido«. Ich will diese Schwanengesänge nicht glauben. Und das Gerede über Toronto, das diesmal wieder besonders laut klang, kenne ich inzwischen auch seit meinem ersten Mostra-Besuch, seit 14 Jahren also. Immer unternimmt Toronto gerade irgendetwas: Ein neuer Palast, eine neue Reihe, mehr Geld, mehr Einladungen. Venedig dagegen bleibt, wie es ist – schön und attraktiv also. Toronto kann damit nicht konkurrieren. Schade nur, dass viele, vor allem Deutsche und Anglophone so auf die Amerikaner fixiert sind. Die ziehen Toronto vor. Aber was dann dort läuft sind dann halt nur amerikanische Sachen, und die europäischen Filme, die Venedig nicht haben wollte, also zum Beispiel Phoenix von Christian Petzold. In irgendeiner deutschen Zeitung lese ich eine Schlagzeile darüber, in der die Begriffe »KZ« und »High Heels« vorkommen, und dann lese ich besser nicht weiter. Ich will mir den Film nicht verderben, und warte die eigentliche Premiere im Wettbewerb von San Sebastian ab. Dort kann man nämlich dann das sehen, was in Toronto lief.
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Venedig kann meiner Ansicht nach Toronto getrost ignorieren. Die eigenen Schwächen allerdings nicht. Es muss ein Festival des Weltkinos sein.
Mit Susanne aus München rede ich über Architektur. Wie schrecklich der Lido aussieht, meint sie, die ganze neueren Gebäude verfielen. Die Formel »Alte Architektur hält, neue verfällt« ist ein bisschen zu schlicht und mir zu konservativ, trifft ab er die Grundtendenz.
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Man kann jetzt auch nicht behaupten, dass das Festival in diesem Jahr höllisch spannend gewesen wäre. Es war eher anständig und nett, und das sind beides Worte, die nicht wirklich ein Lob sind. Jeder einzelne Film für sich war in Ordnung. Zusammen ergab sich kein Bild, keine Tendenz, und dann kam dazu, dass man vieles nicht sehen konnte. Die Nebenreihen liefen in zu kleinen Sälen. Die Filme der Offiziellen Auswahl schienen sich mehr zu überlagern und gegenseitig zu blockieren, als in
früheren Jahren.
Festivalchef Alberto Barbera ist ein viel sympathischerer Mensch als Marco Müller, aber womöglich ist der unsympathische Müller doch der bessere Festivaldirektor. Barbera versteht viel vom Kino, er liebt Filme und er guckt sie wirklich an – im Gegensatz zu manch anderem Festivalchef. Als ich ihn dieser Tage auf der Straße traf, und begrüßte, wollte er sich sofort über meinen Film unterhalten, und kannte ihn offensichtlich genau.
Aber er programmiert
nicht gut. Ihm gelingt es nicht, die Filme so zu aufeinander folgen zu lassen, dass eine große Erzählung des Festivaljahres entsteht, mit Parallelgeschichten, Zusammenhängen und zugleich Konflikten, Widersprüchen, die sich aneinander entzünden, sich gegenseitig befruchten, und so dialektisch weitere Zusammenhänge herstellen. Auch bei Müller konnte man über viele Entscheidungen streiten, aber... es gab immer etwas zu debattieren.
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Ist der Goldene Löwe für Roy Andersson jetzt ein Grund fürs deutsche Kino stolz zu sein? Manche Pressemitteilungen klingen so: »Goldener Löwe für deutsche Koproduktion« tönte es bei der Süddeutschen, wie sonst nur in der Pressestelle des FC Bayern.
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Die Schweden übersetzen den Titel übrigens, Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach. Weil wir nach der Vorstellung den schwedischen Kollegen ein Interview gegeben haben, hat es jetzt auch Von Caligari zu Hitler in eine schwedische Tageszeitung geschafft. Mit Übersetzungsfunktion versteht man sogar, was da geschrieben steht. Und offenbar sehen es auch die Schweden nicht anders als wir: »In der spektakulärsten Aufnahmen reitet Karl XII in eine moderne Bar für Mineralwasser trinkt, während seine Carolinians marschieren Poltawa vor den Fenstern.«
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Auch abseits des Wettbewerbs sah man Bemerkenswertes: Von Larry Clarks Erforschungen der Teenagerabgründe (The Smell of Us) über Christophe Honores Ovid-Anverwandlung Metamorphoses, über die ich schon geschrieben habe, bis hin zu einem Spielfilm über die Lage kubanischer Künstler 23-Jahre nach Ende der UdSSR von Laurent Cantet, der 2008 die Goldene Palme gewonnen hatte. Viele bekannte Namen tummeln sich diesmal in den Nebensektionen. So auch James Franco, der auch in seinem dritten Spielfilm als Regisseur wieder die Abgründe der Südstaaten aufsucht, und eine Faulkner-Story verfilmt: The Sound and the Fury hat einen epischen Atem, und beschreibt den Verfall einer Großbesitzerfamilie aus vier Perspektiven anhand der Schicksale ihrer vier Kinder: Der eine Sohn ist schwerbehindert, der zweite bringt sich um, der dritte ein neurotischer Sadist und die Tochter hat ein uneheliches Kind. Zuvor hatte sich der Vater bereits totgesoffen – Buddenbrooks in Mississippi.
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»Life’s but a walking shadow, a poor player/ That struts and frets his hour upon the stage/ And then is heard no more. It is a tale/ Told by an idiot, full of sound and fury/ Signifying nothing.« Shakespeares Macbeth (Act 5, Scene 5) wird zitiert zu Beginn des Films, wie bei Faulkner. Dessen Vaterfigur, ein belesener Säufer und mitfühlender Patriarch redet in Faulkners Worten kaum schlechter als Shakespeare: »Man – the sum of its climacting experience ... a stalemate ... the saddest of all, lower than ... sometimes water ... men are just accumulations – dolls stuffed with souldust.«
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Franco spielt selbst den behinderten Benji, eine starke Leistung und dich das Problem des Films. Insgesamt ist dieser zu langsam, zu affektiert, beeindruckend, aber auch ein klein wenig unbefriedigend. Oder muss es reichen, dass der Bösewicht am Schluß Gefühle zeigt: »Bring my brother back, bring him back.« Da ist sowieso alles zu spät.
Aber immer wieder richtige Sätze: »Quentin loved the shadows« über den Bruder, der sich dann umbringen wird, eine Filmstunde später.
Und alles
in allem macht es Spaß, den Film zu sehen, wie immer bei Franco.
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Als die Linke noch Fußball gespielt hat, war sie besser. Scheint mir jedenfalls bei Ansicht von Ferraras Pasolini, auf den ich noch mal zurückkommen will.
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»Is Sex political?« – Pasolini: »Of course. There is nothing, which is not political«.
Pasolini: »To scandalize is alright. Beeing scadalized is a pleasure. I am more militant than ever.«
Pasolini: »narrative art is dead.«
Pasolini redet. Viel, dauernd. Pasolini ist in diesem Film erstmal ein Sprücheklopfer, nahe am Maulheld. Einer der zu allem was zu sagen hat, nie den Mund hält. Pasolini redet englisch. Was er dann auf Englisch sagt, ist unüberbietbar.
Wenn er mal
ruhig ist, kommt Bach. Nicht irgendwas, sondern klarerweise die Matthäus-Passion. Kleiner kann Ferrara nicht. Er ist ein Katholik, opulent, blutdürstig. Vielleicht ist das genau der richtige Zugsng für Pasolini, einen, der so gar nict in unsere Zeit passen will.
Dieser Zeit und diesem Publikum, uns also mutet Ferrara eine acht Minuten lange Interviewszene zu, in der größere Teile von Pasolinis letzten Interview nachgespielt werden. Recht so! Der Text ist berühmt, aber heute kennt das
keiner mehr. Pasolini – was würden unsere lieben deutschen Kritiker wohl mehrheitlich über einen Pasolini-Film schreiben, wenn sie ihn zu sehen bekämen? Nichts Gutes ist zu vermuten.
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Über Pasolini kann man streiten. Willem Dafoe spielt Pasolini, der Christus Scorseses den Ferraras, der Passionsdarsteller, den für uns gestorbenen Messias der Linken. Mutter Mutter, warum hast Du mich verlassen?
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Zwei Hauptprobleme hat der Film, nein drei: Die visualisierten Szenen aus Pasolinis ungedrehtem Werk können an das gedrehte gar nicht herankommen. So wie man Träume träumen möchte, aber nicht bebildert sehen, so ist das verfilmte ungedrehte Drehbuch eben nur ein Werk zweiter Ordnung. Dann: Die Ästhetik Ferraras ist der Pasolinis nicht gewachsen. Man fragt sich daher gelegentlich wie wohl dieser das Werk Ferraras beurteilen würde, und diese Frage kann nicht zu Ferraras Gunsten
ausgehen.
Und schließlich: Es ist ein so eindeutiger Hetero-Film, dass es unangenehm berührt. Die Frauen, die Ferarra zeigt sind wam und sexy, die Männer verdruckst und kaum zu sehen – von Pasolini/Dafoe abgesehen. Es ist Ferraras Blick der aber den des Mannes, den er bewundert, dementiert.
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»Narrative art is dead« – »mine is not a tale. It is a parabel.« Damit erklärt Ferrara seine Methode. Um Realismus geht es ihm gar nicht. Er verdichtet die letzten 24 Stunden des großen Künstlers zur Synthese seines Lebens: Mit dem Drehbuchautor Maurizio Braucci (»Gomorrha«) geht es eher um Verfremdungsmittel und um Mosaiksteine, die ein Bild seines Lebens entstehen lassen.
Diskontinuierlich switched der Film zwischen Ereignissen hin und her. Er visualisiert Pasolinis
Texte.
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»All I want is that you look around and take notice of the tragedy. What is the tragedy? It’s that there are no longer any human beings; there are only some strange machines colliding with each other. ... But not what I know and what I see. I want to say it plain and clear: I go down into hell and I see things that do not disturb the peace of others. But be careful. Hell is rising toward the rest of you. ... Don’t be fooled. And you are, along with the educational system, television, your pacifying newspapers, the great keepers of this horrendous order founded on the concept of possession and the idea of destruction. Luckily, you seem to be happy when you can tag a murder with its own beautiful description. This to me is just another one of mass culture¹s operations. Since we can¹t prevent certain things from happening, we find peace in constructing shelves where to keep them.« – Pier Paolo Pasolini, letztes Interview
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Kinderspiele in Schneelandschaft. Ein kleiner Junge, vielleicht zehn, elf, rauft etwas mehr als andere. Er heißt Aslan, ist in Ayse verliebt, die bei der Schulinszenierung von »Schneewittchen und die sieben Zwerge« das Schneewittchen spielt. Er möchte Prinz sein, wurde vom Lehrer aber nur als einer der sieben Zwerge bestimmt. »The teacher should made me prince.«
Er lebt mit seinem viel älteren Bruder und seinem Vater auf einem Hof in einem kleinen armen
ostanatolischen Dorf. Irgendwann kann das Pferd nicht mehr ausreichend arbeiten, da wird der Kostgänger ausgesetzt. Eine Katharsis für den Jungen. Tiere sind eine Sache in dieser Welt, und auch Aslan denkt nicht anders, er guckt aber genauer hin. Darum sieht er, dass Sivas, ein bei Hundekämpfen besiegter, schwer verwundeter Hund, mehr wert ist, und wählt ihn zu seiner persönlichen Mission. Er kümmert sich um ihn, päppelt ihn auf.
Regisseur Kaan Müjdeci taucht tief ein in die Welt
der (illegalen) Hundekämpfe, über die er zuvor einen Dokumentarfilm gedreht hast.
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Wie wird ein Mann zum Mann? Dass ist die tiefere Frage. Müjdeci erzählt von der Männerwelt der türkischen Gesellschaft. Aslan wird zum »richtigen« Jungen. Und der Film das Portrait einer Männergesellschaft. Sobald der Hund da ist, hat der Film trotzdem Probleme. »Die Dinge sind nicht so wie Du sie Dir vorstellst« – das ist der letzte Satz. Ein Abschied von der Kindheit.
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Das erste Drittel des Films ist das Beste. Sobald der Hund auftaucht hat der Film Probleme. Kinder und Hunde... soll man ja auch nicht. Mir gefällt der Film, aber gerade gegen Schluß nimmt er viele jener Motive und Erzähl-Fäden nicht mehr auf, die er zuvor angelegt hatte. Schade.
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Flugzeugabstürze sind gut für die Kunst, denke ich, als die Szene aus Pasolinis hinterlassenem Romanfragment visualisiert wird. Heute gibt es so etwas nicht mehr, weil sie Flugzeuge sicherer sind. Da braucht die Kunst neue wahrscheinlichere Katastrophen.
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Draußen ist Vollmond. Aus dem Nebenhaus klingt Raffaela Carrá. »Dokumentarfilme sind schwierig«, sagt N. dann auch noch. Auch ein schöner Satz aus Pasolini: »The end doesn’t exist. We just wait. Something will happen.«