03.09.2014
71. Filmfestspiele von Venedig 2014

Die Python und das Meer­schwein­chen

The Look of Silence
The Look of Silence: Ein Optiker macht sich auf die Spur der Diktatur-Täter in Indonesien
(Foto: Koch Media / Neue Visionen Filmverleih GmbH)

Menschenblut schmeckt süß-salzig und andere Einsichten sogenannter »Dokumentarfilme« von Joseph Oppenheimer und Ulrich Seidl – Venedig-Notizen, Folge 2

Von Rüdiger Suchsland

In unserer Immer-Noch-Lieb­lingsbar »Maleti«, die gerade erheblich an Charme verliert, aber dazu ein andermal, saß man bis vor wenigen Jahren auf weißen Plas­tik­ses­seln, jenen Stühlen mit Armlehnen, die auch auf unserem Appart­ment­balkon und gefühlt in jedem dritten Lokal auf dem Lido und global kräftig an der allge­meinen Verhäss­li­chung unserer Welt arbeiten. Wer hat die eigent­lich erfunden? Wer stellt sie her? Ihr Designer muss ja Millionen verdient haben – so etwas habe ich schon öfter gedacht. Im ersten Film nach der Eröffnung tauchen sie gleich auf, gleich im ersten Bild – diesmal in Rot, und auch die Farbe passt gut. »Ich hab ihn aufge­schnitten, seine Innereien kamen heraus.« sagt der Mörder, der auf ihm sitzt. The Look of Silence heißt der Film, was ich mit »Das Antlitz der Stille« über­setzen würde.
Es fängt furios an in Venedig mit einem Wech­sel­spiel aus hellen und dunklen Seiten, aus harten ernsten Filmen und flotten Komödien, die natürlich auch ernst sind, aber auf andere Weise.

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Der Wett­be­werb begann gleich mit dem einzigen Doku­men­tar­film, der diesmal ausnahms­weise auch um den Goldenen Löwen kämpft: The Look of Silence heißt der Beitrag des erst 39-jährigen Ameri­ka­ners Joshua Oppen­heimer, der auch dänische Wurzeln hat und derzeit in Kopen­hagen lebt, wurde im vergan­genen Jahr mit The Act of Killing berühmt, einem weltweit gefei­erten und oft preis­ge­krönten, aber keines­wegs unum­strit­tenen Doku­men­tar­film über die schwie­rige Bewäl­ti­gung von Mord und Terror in Indo­ne­sien, in dem die Mörder ihre Taten auf der Thea­ter­bühne nach­spielen, und dadurch zum Teil eine scho­ckie­rende Katharsis erleben. Der war eindrucks­voll und zugleich durch seinen Manie­rismus abge­stoßen. Ich glaube, viel von dieser Katharsis war nur behauptet, lag eigent­lich im Auge des Betrach­ters auf den Film­fes­ti­vals des Westens. Den Mördern selbst nehme ich die Reue dagegen nicht ab.

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Oppen­hei­mers neuer Film setzt diese Arbeit fort, aber er macht es besser. Diesmal beschäf­tigt er sich spezi­eller mit jenen wenigen Jahren, die auf den Mili­tär­putsch seit 1965 folgten, und die schon seiner­zeit durch Peter Weirs groß­ar­tigen Spielfilm Ein Jahr in der Hölle zu trauriger Berühmt­heit kamen.
Ein Doku­men­tar­film, der die Täter und ihre Kinder und die Nach­fahren der ermor­deten Opfer zu Wort kommen lässt. Es geht um die schwie­rige Bewäl­ti­gung von Mord und Terror in Indo­ne­sien. Aber eine Annähe­rung um die Ecke: Ein uralter Mann wird in der Dusche von einer alten Frau gewaschen. Er ist fast blind, sitzt im Rollstuhl und ist, das alles stellt sich in den nächsten Minuten etwas sehr geduldig heraus, 103 Jahre alt. Da sind die Eltern des Prot­ago­nisten, der als Bruder eines Opfers, das er nie kannte jetzt, fast 50 Jahre später recher­chiert, was geschah, wie sein Bruder starb. Er ist ein Optiker und versorgt auch die Täter mit Brillen.
Wir sehen eine Schul­klasse, die anti­kom­mu­nis­ti­scher Propa­ganda ausge­setzt sind, auf dem Niveau von »Commu­nists are cruel.«

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Dann erzählen Menschen, die sich als Mörder des »Kommando Aksi« heraus­stellen, wie sie mordeten. Mit der Machete vor allem. Das ist der Unter­schied zu unseren feinen Altnazis: Sie haben wirklich Blut an den Händen, haben die Opfer gesehen und gehört, haben zum zweiten Mal zu geschlagen, wenn der erste Hieb zu schwach war um den Hals zu durch­trennen, sie haben Männer getötet, indem sie ihnen den Penis abschnitten und lebenden Frauen die Brüste abgehackt, und deren Köpfe später in Müll­tonnen geworfen. Sie sind keine Schreib­tisch­täter, sie haben statt Anzügen T-Shirts an, und die Machete ist auch noch in Gebrauch, aber nur noch, um Kokus­nüsse aufzu­schlagen.
Mehrfach erzählen Männer, wie sie das Blut ihrer Opfer getrunken haben. Menschen­blut schmecke »salty and sweet« erfahren wir, und in Indo­ne­sien scheint der Volks­glaube verbreitet, dass man, wenn man schon morde, das Blut seiner Opfer trinken müsse, »um nicht verrückt zu werden«.
Als einer das erzählt, sitzt seine Tochter neben ihm, und erfährt angeblich gerade zum ersten Mal, dass ihr Vater das Blut der Toten getrunken hat. Ein paar Minuten später sagt sie: »Maybe because he did it, he is still strong.«

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Solche Momente sind es, die mich stören. Man hört immer wieder einmal aus dem Off sinngemäß »Joshua, das hatten wir ja bespro­chen«. Es gab offenbar sehr lange Vorre­cher­chen und der Regisseur ist ein Teil der Welt seiner Figuren.
In den Credits lesen wir dann lauter »Anonymous«. Das finde ich mindes­tens wich­tig­tue­risch, wenn nicht sogar etwas verlogen.

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Der Film ist eine ganz mühsame und zähe Sache. Ein brutaler, aber eindrucks­voller Film über zum Teil schwer vorstell­bare Grau­sam­keiten.
Irgend­wann fragt die Frau des Optikers, als sie von den Recher­chen ihres Mannes erfährt: »Denkst du nicht an deine Kinder?« Da fragt man sich als Zuschauer ja schon eine Weile – der Film zeigt den Dialog, stellt sich auch dieser Proble­matik, wie so mancher, nicht.

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Was mit ihm nach solchen Fragen während der Diktatur passiert wäre, fragt der Optiker den Komman­deur vom »Kommando Aksi«. »You can’t imagine« antwortet dieser ohne Selbst­zu­frie­den­heit, aber mit dem Wissen eines Menschen, der Dinge kennt, die wir nicht kennen, »you can’t imagine«.
Ein allge­meiner Gedanke: Wir sollten mehr der Phantasie und den Träumen und unserem Unbe­wussten vertrauen, weniger dem was wir für Realität halten. Ein Doku­men­tar­film über die Diktatur, das könnte auch ein Mons­ter­film sein.

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Auch unan­ge­nehm zu sehen, aber mehr bizarr als grausam ist Ulrich Seidls neue Doku­men­tar­ex­pe­di­tion/-exploita­tion: Der öster­rei­chi­sche Anti-Haneke, der mit der Spießer­ab­grundser­for­schung Hundstage berühmt, mit dem Migranten-Swinger-Drama Import Export berüch­tigt wurde und mit seiner »Liebe-Glaube-Hoffnung«-Trilogie schließ­lich die Weihen der Kunst­aka­de­mien erhielt, arbeitet bereits im Titel offen speku­lativ: Wem kommen bei Im Keller nicht die Abgründe von Amstetten und die Passion der Natascha Kampusch vor Augen? Auf derar­tigen Voyeu­rismus setzt der Regisseur.

Was er dann zeigt: Gewohnt cleane, von Martin Gschlacht tatsäch­lich sehr schön foto­gra­fierte Bilder von Modell­ei­sen­bahnen und Party­kel­lern, Neonazis und Sado-Maso­chisten, vom Singen im Schießkeller und Saufen vor Hitler­bil­dern. Die Sadistin sagt dem Regisseur »Ich liebe meinen Ehesklaven abgöt­tisch« und diesem dann »Schwein komm her!«, worauf er fröhlich grunzt. Das Publikum denkt »Sachen gibt’s« und gluckst verlegen. Am bizarrsten viel­leicht die über 50-jährige Puppen­mutter, die immer in den Keller geht und dort lebens­echte Kinder­puppen auspackt, mit denen redet, und sie wieder wegpackt.

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Irgend­wann ist alles gleich: Klein­bürger-Rituale hat schließ­lich jeder. Der eine macht Musik, der andere peitscht. Und man weiß nicht mehr, was perverser ist, wer perverser ist: Die Nazis oder die Sadisten. Das Publikum dankt’s dem Kontroll­freak mit der Lach­be­reit­schaft derje­nigen, die sich sicher sind, mit alldem nichts zu tun zu haben.

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Wie bei Oppen­heimer stellt sich natürlich auch bei Seidl die Frage, ob das überhaupt als Doku­men­tar­film bezeichnet werden muss. Oder ist es nicht viel mehr Laien­theater im Wortsinn: Mit Laien über Monate zuerst recher­chierte, dann eingeübte Szenarien. Jede Spon­ta­n­eität ist aus diesen Filmen getilgt.
Die liebe Kollegin Anna vom BR, (der Name wurde auf ihren Wunsch geändert) hat Seidl im Interview gefragt, ob das Ganze nicht auch auf RTL laufen könnte. Fand er wohl nicht so witzig, und meinte, da würden die Leute ja ausge­beutet.
Anna hat auch treffend vermutet, es seien »alles Stell­ver­tre­ter­ge­schichten«, im Grunde habe Seidl einen Film über sich drehen wollen, und daran gemessen sei das Resultat ein wenig feige. Da kann ich nur zustimmen. Bleibt die Tatsache, dass es Seidl immer wieder gelingt, vieles infrage zu stellen, was wir über Film zu wissen glauben.

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Fast zu Beginn sieht man eine gelbe Python. Sie liegt in ihrem Glas­kasten, und ein Meer­schwein­chen kauert in der anderen Ecke. Langsam robbt sich die Schlange an die Beute ran, diese merkt nix, sondern hoppelt noch zutrau­lich auf diese zu. Dann eine plötz­liche, rasante Bewegung, Quiecken, das Meer­schwein­chen ist erwürgt.
Das reprä­sen­tiert die Haltung. Ulrich Seidl ist die Python, das Meer­schwein­chen der Gegen­stand des Films. Nur dass die Python schon erkennbar ein paar Vorgän­ger­meer­schwein­chen vertilgt hat, weil viel­leicht nicht jedes ähnlich schön sterben wollte. So hat auch der Regisseur sich bereits einige Prot­ago­nisten einver­leibt.

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»Das ist ja ein Spielfilm, das ist ja überhaupt kein Doku­men­tar­film« sagt Freund und Kollege Josef Schnelle zu mir. »Da gehört Dein Film 70.000 mal mehr auf dieses Festival als der. Das ist wirklich meine Meinung. Das ist unin­ter­es­sant und verlogen.«
Ach ja, mein Film. Tja, auch dazu bald mehr.