71. Filmfestspiele von Venedig 2014
Das Regiment der Vögel |
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Pasolini: Abel Ferrara hat einen Film über seine filmische Schwesterseele gemacht | ||
(Foto: Capricci Films (France) Europictures (Italy)) |
Mittwoch, 14 Uhr, Sala Perla: Wie übersetzt man bloß so einen deutschen Titel »Zerrumpelt Herz«? Im Italienischen versucht es das Festival mit »Cuori Frantumati«, das klingt nicht schlecht – aber ich kann halt auch kein Italienisch. Das englische »shattered hearts« klingt mir zu pragmatisch...
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Manchmal dauert es über eine Woche, bis man endlich dem begegnet, weswegen man Festivals wie dieses vor allem besucht: Eine Überraschung, etwas, was man so vorher noch nie gesehen hat. Diesmal ging es mir so, wer hätte das gedacht, ausgerechnet mit dem dritten und letzten deutschen Beitrag auf diesem Festival: Zerrumpelt Herz, das Regiedebüt des Filmstudenten Timm Kröger, das in der Sektion »Settemana de la Critica« (»Woche der Kritik«) läuft. Kröger ist gerade 28 Jahre alt, das Ganze sein Abschlussfilm und allein, es zu schaffen mit einem Hochschulwerk in Venedig zu landen, ist natürlich schon eine großartige Leistung für sich – neben Kröger auch von seiner Produzentin Viktoria Stolpe und seinen übrigen Mitstreitern.
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Wo vom Herz die Rede ist, da ist die Romantik nicht weit, und tatsächlich... Ein deutscher Wald, Laubbäume, Sommerlicht. Drei Menschen, eine Frau und zwei Männer. Eine Off-Stimme liest aus einem Brief. Ihn hat ein Komponist geschrieben, der sich offenbar aus dem brodelnden Berlin hierher zurückgezogen hat oder eher geflohen ist, wohl auch um zu komponieren, und die drei einlädt, ihn zu besuchen. Ressentiment und Leidensdruck prägen den Ton, denn der Schreiber lässt sich über »Hindemiths Gebrauchsquatsch« und »Weills Negermusik« aus, schreibt er habe weniger »Glück gehabt« in Bezug auf Frauen, als der Empfänger Paul, der verheiratet ist. Dies ist der Mann, der vorangeht, und die Frau von der die Rede ist, ist seine: Anna. Der Schreiber namens Otto spielt dann auch das vermeintlich Unreine der Großstadt gegen das vermeintlich Reine der Natur aus, schwärmt über »diese Wälder und die Töne, die mich hier umgeben.«
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Damit sind nicht nur Haltung und kulturelles Umfeld charakterisiert, sondern auch die Epoche: Schon vor dem ersten Bild hatte eine Texttafel auf das Buch »Otto Schiffmann« von 1931 verwiesen – das entpuppt sich erst dann als Fake, wenn ein Insert den Epilog am Filmende »1932« ansiedelt.
Davor, während die drei noch durch den Wald latschen, ein erstes Insert: »1929«. Das fixiert die Handlung endgültig in den letzten glücklichen Wochen der »Stabilitätszeit« der Weimarer
Republik, im Sommer vor der Weltwirtschaftskrise, dem gleichen Sommer, in dem die Brüder Siodmak, Edgar G. Ulmer, Eugen Schüfftan und Billie Wilder ihren »Menschen am Sonntag« drehten, dieses atemberaubende Werk über andere, noch etwas jüngere Menschen in eben jenem Weimar-Berlin, der Modernemetropolis, die der Briefschreiber Otto so voller Faszination verachtet.
Ich kann hier nicht ganz von meinem eigenen Film absehen, der Von Caligari zu Hitler heißt, und auch hier auf dem Festival läuft – weil ich es doch so überraschend wie bezeichnend finde, dass gerade jetzt Weimar aktuell ist, jedenfalls fürs Ausland. Eine Demokratie zwischen Utopie und Abgrund, eine Stabilitätszeit, auf die in unserer retrospektiven Wahrnehmung die Schatten der
Zukunft fallen.
Der Pränazismus zieht sich aufs Subtilste auch durch Krögers Film. In der Kleidung, in den Frisuren, in den Gesten, in der Sprache, in den Themen. Und natürlich in dem, was dann hier geschieht. Schon sehr früh dachte ich an Visconti, an seine »Deutsche Trilogie« wozu natürlich die Musikzitate Gustav Mahlers ihren Teil beitrugen.
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Der Film ist ausgesprochen gut gecastet. Diese Gesichter glaubt man tatsächlich aus Bildern, vor allem Photographien der Epoche zu kennen. und sie sind, wie man so sagt, »sehr deutsch.« Klar: Jetzt kann man sagen, was ist denn ein »deutsches Gesicht« und Alicia Rohrwacher zum Beispiel sieht vielleicht auch sehr deutsch aus, ist aber Italienerin. Trotzdem werden viele das so empfinden, und mit »sehr deutsch« ist auch immer gemeint: Altmodisch. Vergangen. Romantisch. So wie
Deutschland vor 1945 gewesen ist.
»Sehr deutsch« ist vieles in diesem Film. Grundsätzliches wie die spezielle Romantik, Natur und Märchenhaftes, wie der Irrationalismus der Figuren und vielleicht sogar des ganzen Films. Diesen Begriff meine ich übrigens so wenig als Vorwurf, wie das »sehr deutsch«, aber das muss man wohl doch dazu sagen.
Sehr deutsch sind zum Beispiel auch die weißen Vorhänge vor den Fenstern der Hütte, so scheint mir zumindest. Gibt’s so etwas auch
woanders?
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Der Wald, in den der Regisseur und sein Co-Autor Roderick Warich die drei Menschen versetzen, ist ein klassischer deutscher Märchenwald, ein Ort voller Geheimnisse und Abgründe. Die drei wollen Erholung auf der Hütte ihres Freundes finden. Doch der Komponist ist verschwunden, und sie dadurch sich selbst ausgeliefert. Das bekommt ihnen nicht.
Sie richten sich in der Hütte ein. Durchsuchen den Raum. Sie finden ihn unordentlich, sie finden ein bisschen Essen und Alkohol, sie finden
Ottos Kompositionen, die Paul bald seltsam in die Gesängen der Vögel im Wald wiederzuentdecken meint. Sie finden einige Photographien, aus denen hervorgeht: Otto war Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg. Sie finden auch die Kopie eines Gemäldes: „L’Origine du monde“ von Gustave Courbet, das besonders Willi seltsam zu faszinieren scheint. Später sprechen die Männer, als sie sich vor der Hütte allein glauben, über Otto. Er sei in seiner Studienzeit ein
Frauenheld gewesen, und jetzt finde man den Vermissten vermutlich in einem Bordell, erklärt Paul, nicht ganz ohne Neid. Ein Bordellbesuch könnte ihm passen, ergänzt Willi. Anna hört das Gespräch mit. Es ist beeindruckend, wie Kröger dafür sorgt, dass sich über solche Signale langsam, aber unaufhaltsam die Sexualität in die Hüttensituation einschleicht.
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Zugleich ist Otto als Abwesender doch ganz präsent. In den Erzählungen und Gesprächen der Freunde, den unausgesprochenen Rivalitäten, den jeweiligen Sehnsüchten der Figuren. Später im Bett erzählt Paul Anna von seinen Erinnerungen an den Freund – der wohl nicht immer nur freundschaftlich gehandelt hat. Seine Kompositionen seien die besseren gewesen. »...ob es daran liegt, dass er im Krieg war und ich nicht?« »Du bist mein Komponist.« sagt sie.
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Später dann erzählt Willi, dass das Gemälde von Courbet stammt und wie es heißt. Das ist, scheint mir, eher ein schwacher Moment des Drehbuchs; das hätte man nicht mehr erklären müssen. Entweder man weiß das alles, oder halt nicht. Allerdings erzählt die Szene auf subtile Weise etwas von Willis Interesse für Anna. So auch, wenn Willi davon erzählt, das Bild zeige womöglich Courbets Model und Geliebte Joanna Hiffernan. Die sei allerdings rothaarig gewesen – wie Anna. Diese Szene verweist noch in anderer Hinsicht auf das Kommende, den Hiffernan war vor allem mit einem anderen Künstler, mit dem US-Maler Whistler liiert.
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Man könnte so weiter den Anspielungen der Szenen nachgehen, man sollte ihn aber auch nicht zu Tode analysieren und zerreden. Zerrumpelt Herz ist ganz aus einem Guß, entfaltet einen bemerkenswerten Sog und ist vor allem ein sinnliches Erlebnis. Es ist dies allerdings auch dadurch, dass der Film intelligent ist, mit Referenzen arbeitet und diese genau gewählt sind. Nichts ist hier schlampig oder unachtsam.
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Als sich die Beziehungsdynamik bereits zuspitzt, verlaufen sich die drei bei einer weiteren Tageswanderung im Wald. Erst spät, fast im Dunkel kommen sie zurück – und da ist der Künstler Otto plötzlich wieder da. Doch wirkt er verstört und sprachlos, wie ein Schlafwandler, oder ein Geist. »Der war früher schon schwermütig und wunderlich und hat dann tagelang geschlafen.« tut Paul sein Verhalten ab. Die anderen spüren mehr.
An diesem Abend sieht man Anna erstmals rauchen, wie
die Männer. Ihre Rolle rückt mehr und mehr ins Zentrum. Schon vorher hat man gespürt, dass sie sich von ihrem Gatten allmählich entfremdet, emanzipiert. Es fallen merkwürdige Sätze: »Willi kann bei Dir im Bett schlafen, und ich auf dem Boden – ist ja nur für den Moment.« sagt Paul, weil Willi nach Ottos Auftauchen ein Bett braucht. Paul bringt die beiden fast zusammen, als ob er seine Frau loswerden wollte, sich bereits auf eine andere Welt vorbereite.
Ein paar Tage später, ist
Anna mit dem schlafenden Otto allein. Sie wäscht ihn, erweckt ihn gewissermaßen. Denn er wacht auf, und wie in Trance schlafen die beiden wortlos miteinander. Als Willi zurückkehrt, ist Otto verschwunden, und er photographiert die gelöst und verändert aussehende Anna.
Auch Paul spürt diese Veränderung und ihre Unabhängigkeit, und während Willi abreist, beschließt er mit Anne – »Du kannst ja machen, was Du willst.« – einen mysteriösen See zu suchen, den Otto
beschrieben hatte. Das gelingt. Schnitt: Ein nächtlicher, fast pechschwarzer Wald. In der Nacht sieht Paul auf einer Insel im See ein Feuer und eine steile Rauchsäule. Schnitt: Man sieht Anna weinen, ihr Gesicht ist dreckig. »Paul – Du gehst da nicht rüber. Da ist irgendetwas Seltsames.« Der »Instinkt der Frauen«. »Unsinn. Du wartest hier auf mich. Otto braucht Hilfe, das ist alles.« Am Morgen schwimmt er hinüber, und findet ein grünes Licht. Gegen Abend sehen wir sie, suchend hinüber
blickend. Die Kamera löst sich von ihrem Gesicht, fährt langsam zurück, sie scheint eins mit dem Wald zu werden, und wir wissen, dass er nicht zurückkommen wird. Allerspätestens jetzt darf man auch an Antonionis L’avventura denken.
Ein Epilog zeigt Anna im Zug, mit einem knapp vierjährigen Kind. 1932 zeigt das Insert. Dann sind sie an einem nördlichen Strand, den Caspar
David Friedrich gemalt haben könnte. Sie trifft Willi, erzählt, dass die Suche nach den Vermissten seinerzeit erfolglos gewesen sei, und dass ihr Sohn Hannes heiße, nach einem Verwandten von Paul. Wir aber wissen: Otto ist der Vater. Das bestätigt die Tatsache, dass Hannes bislang nicht spricht, aber eine Melodie summt, die der aus dem Wald verblüffend ähnelt...
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In diesem Epilog sieht Anna urban aus, gewandelt. Und sie ist geschminkt. Der Film, das entpuppt sich etwa zur Mitte, ist ganz ihre Geschichte, die Erzählung ihrer Befreiung in mehrfacher Hinsicht. Sie lernt, sich gehen zu lassen, auszubrechen, die andere Seite zu besuchen – Identifikationen einer Frau. Und ein blendender Auftritt für Eva Maria Jost.
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Gegen Ende wendet sich Zerrumpelt Herz wie eine Gothic Novel, oder eine Kurzgeschichte von E.T.A. Hoffmann oder Edgar Allen Poe ins Surreale. Die Vogelstimmen erscheinen als Zauber, der zumindest die beiden Musiker in seinen Bann zieht. Wenn Paul in den Nebelschwaden des Sees verschwindet, erklingt Mahlers 10.Symphonie. Ein rätselhafter Grundton, das Zusammenspiel von Kamera und Musik erinnert dezent noch einmal an einen ganz Großen: Denn Zerrumpelt Herz ist auch die Studenten-Version eines Visconti-Films. Die malerischen Kulissen, die Musik, eine fließende Kamera (außerordentlich gut: Roland Stuprich), die immer wieder Sehnsuchtsbilder malt, fügen sich zu einem mitunter perfekten Film-Tableau, das zugleich viele Klischees des typisch Deutschen bedient, das auch manche offene Fragen der Handlung nur durch einen Irrationalismus löst, für den Romantik nur ein schöneres Wort ist. Auch eine gewisse
Bedeutungshuberei, eine ganz zarte Neigung zu Manierismen kann man dem Film nicht absprechen. Dieses romantische Film-Drama ist irrational, ist ekstatisch, taghelle Mystik, und die irgendwann auftauchende Frage, was es eigentlich mit diesem Paul auf sich hat, ob er ein Vernunftsmensch ist, oder ein Sehnsuchtsmensch, die könnte man auch dem Regisseur stellen. Aber in der besseren Variante der deutschen Romantik, der Jenaer, der Schlegels, Novalis', Kleists, oder des des »Ältesten
Systemprogramms« von Hegel, wie später bei Hoffmann, Heine, Nietzsche konnte beides recht gut nebeneinander bestehen.
So möchte ich diesen Film verstehen: Seelenkino und als solches gewiß nicht für jedermann. Aber die Herausforderung ist es in diesem Fall produktiv. Sie zwingt den Betrachter sich unbequemen Fragen zu stellen. Und stilistisch, wie gesagt, findet man Momente und Bilder, die an Größere erinnern.
Der Wald steht schwarz und schweiget...
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Vergessen wir auch nicht: Es ist ein Erstlingswerk – und verglichen mit anderen Erstlingswerken meilenweit besser als 80, 90 Prozent aller anderen deutschen Filmhochschulabschlussfilme. Er ist mutig, ganz eigen. Faszinierend. Zerrumpelt Herz ein hervorragendes Debüt, einer der allerbesten und allemal der überraschendste Film im bisherigen Festival.
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Wer interpretieren möchte, der könnte sich den Film noch einmal angucken, und zwar unter der Prämisse, dass das Ganze nichts als ihre Wunschphantasie ist.
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Und schön ist auch: Insel auf Italienisch ist Isola – da haben wir dann schon fast die Isolation.
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Christophe Honoré, das wissen wir schon lange, traut sich was. Jetzt hat er Ovid verfilmt: Metamorphoses. Und der Zufall dass ich diese beiden Filme aufeinanderfolgend sah, führte zu jenen sonderbar-bezaubernden Koinzidenzen und Korrespondenzen, die wie nur ein Filmfestival bietet.
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Auch hier ein Wald: Ein Jäger mit Flinte durchstreift ihn, wir sind ohne Frage in der Gegenwart. Plötzlich trifft er auf eine Lichtung, und sieht eine nackte rothaarige Hexe, neben einem Wohnwagen. Sie wäscht sich mit einem Benzinkanister voller Wasser, dann blickt sie auf und schaut den Jäger unverwandt an: Sie ist ein Transsexueller, war ein Mann. Der Jäger flieht, aber der Zauber der Hexe hat ihn schon ereilt. Er flieht zur Autobahn, doch kurz davor ist er in einen Hirsch verwandelt. Ein anderer Jäger schießt auf ihn...
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Honoré erzählt Geschichten von Ovid und den antiken Mythen: Europa und Jupiter, Io, Argus hat überall Augen, Hera ist eifersüchtig. Er nimmt die Mythen einerseits wortwörtlich und eins zu eins, aber andererseits versetzt er sie in die Gegenwart. Das heißt, die Göttinnen und Sterblichen sind alle Kleinbürgertöchter mit kurzen H&M-Röcken und Carrefour-Tüten, die Männer als potentielle Vergewaltiger, Narcissus ein Mädchenheld und Basketballspieler, und alle Götter sind ein bisserl wahnsinnig. Die Girls sehen alle gut aus, die Jungs sehen alle zu gut aus. Sie haben dreckige Fingernägel und zwar sämtlich alle, so als hätte Honoré die Maskenbildnerin vor dem Dreh noch was Schwarz drunter schmieren lassen. Der Verfremdungseffekt funktioniert und fesselt trotzdem eine ganze Weile.
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Die Natur des Göttlichen ist die Verwandlung. Das wird hier klar, erinnert daran, dass auch Zerrumpelt Herz von Verwandlungen handelte. Das Göttliche ist in allem. Wir müssen wieder Spinoza lesen.
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Während des Screenings im Saal »Perla Due«, wo tagsüber die Pressekonferenzen stattfinden, sieht man Vögel über die Leinwand fliegen. Zuerst glaube ich, das sei Teil des Films. Dann verstehe ich: Nein – zwei Vögel sind in den Perla Due eingedrungen und fliegen durch den Lichtschein über die Leinwand. Verwandelte Götter, die sich das Werk Honorés nicht entgehen lassen wollen? Götterboten? Oder gar Paul und Otto, die es aus dem deutschen Märchenwald an den Lido verschlagen hat? So oder so jedenfalls ein wunderbar poetischer Effekt.
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Schon gemerkt? Die deutsche Berichterstattung aus Venedig lässt in diesem Jahr auch vom Umfang her sehr zu wünschen übrig: Sowohl »Süddeutsche« wie FAZ berichten nicht mehr wie gewohnt jeden Tag im Blatt. Immerhin schreibt Dietmar Dath parallel einen Blog, der freier formuliert und sehr lesenswert ist, nicht nur deshalb, weil er dort eine schöne kluge Miniatur über meinen eigenen Film geschrieben hat. Gerade sein
Bild, ich böte »sozusagen ein eigenes Arrangement von Kracauers Musik, er spielt eine freie Coverversion« gefällt mir sehr gut.
Die »SZ« hat keinen eigenen Blog. Aber selbst dann wäre das alles natürlich ein schlechtes Zeichen. Denn Blogs wie dieser hier, parallel und quer zu den Printmedien zugleich, sind etwas anderes als die Blogs der etablierten Medien. Die sind – auch Dath immerhin versucht, ein bisschen etwas anderes draus zu machen – nur ausgelagerte Zeitung.
Zeitung zweiter Ordnung, Zeitung ohne Druckkosten. Und es ist klar, welche Entwicklung der Kapitalismus erzeugt: Immer öfter wird es heißen. »Warum denn so viel Filmfestival im Blatt, das kann man doch auch im Blog machen.« Kann man natürlich nicht, denn das Blatt hat andere Leser. Die Blogs der Zeitungen sind der Ort fürs weniger Wichtige.
So schafft sich die Zeitung selber ab.
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Vielleicht kann es nicht anders sein. Aber gut ist es nicht. Hinzu kommt dann, dass das worüber berichtet wird immer wieder viel zu sehr auf den Wettbewerb konzentriert bleibt. Aber der Goldene Löwe ist nicht alles. Die vielen größeren und kleineren Perlen der Nebenreihen gehen auf diese Weise der Welt verloren. Aufmerksamkeit bekommt nur noch das, was bereits Aufmerksamkeit hat. Der Sinn von Kritik liegt aber gerade darin, dem Aufmerksamkeit zu geben, was sie zwar verdient, aber nicht bekommt. Den Rest erledigt die PR.
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Im »Maleti« kann man ja spätabends nicht nur uns Kritikern begegnen, sondern auch Filmemachern. Vorgestern saß da Roy Andersson am Nebentisch, gemeinsam mit acht schwedischen Kritikern. Das würde einem deutschen Regisseur nie passieren, außer bei Round-Table-Interviews – bei uns ist auch das nicht so entspannt wie bei den Schweden, und das schlägt sich natürlich auch in den Filmen nieder. Andersson ist allerdings auch leicht zu übersehen, er sieht aus wie eine der sympathischeren Figuren aus seinen Filmen, ein älterer mit zu wenig Haaren und etwas zu viel Bauch. Ich hab ihn gar nicht gleich gesehen, und um ein Haar wäre ich kurz zu dem Tisch gegangen, und hätte die Schweden gefragt, wie sie denn den neuen Andersson finden. Das wäre was gewesen...
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Gestern dann saßen wir irgendwann mit der Italienerin Alicia Rohrwacher und dem Argentinier Lissandro Alonso gemeinsam am Tisch. Die sind beide in der Jury, sie hatte Violeta, mit gebracht, die ja nicht nur in Argentinien Produzentin ist, sondern auch für die Mostra arbeitet.
Im Gespräch verteidigten Markus aus Wien und ich den neuen Abel-Ferrara-Film, mit dem vor allem die Damen in der Runde gar nichts anfangen. Abel Ferraras Portrait des italienischen
Filmemacher-Dichter-Philosophen Pier Paolo Pasolini hatte man gespannt, aber auch bang erwartet. Was würde das Entfant Terrible, der Chaot des Italoamerican Cinema mit Pasolini machen?
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Es gelang überraschend gut: Willem Dafoe spielt die Hauptfigur mit amerrikanischem Akzent. Ferrara konzentriert sich auf Pasolinis letzte Tage vor dessen mysteriöser Ermordung am Strand von Ostia, und schlägt Rückblicksschneisen in die Vergangenheit. Im Zentrum steht Pasolini als politischer Künstler und als Provokateur des konservativen Nachkriegsitaliens. Ein Zeitportrait, das immer wieder in die Aktualität mündet, und sofort große Lust macht, Pasolinis Bücher aus dem Schrank zu holen. Ferrara könnte mit seinem besten Film seit Jahren einen Preis holen.
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Der Film sollte am besten »Pasolini by Ferrara« heißen, meinte Markus. Oder »Ferraras Pasolini« fand ich. Erinnert sich jemand noch an die tollen Titel der Siebziger: Fellinis Casanova?
Wir machten uns dann einen Spaß daraus, noch ein paar solche bizarren Paarungen zu erfinden: Welchen Regisseur hätten wir gern von welchem Kollegen portraitiert?
Markus kam auf die wunderbare Komination: »Herzogs Takeshi Miike: meine Favoriten: ›Eckhart Schmidts Fassbinder; »Paul Verhoevens Riefenstahl. Und natürlich: ›Margarethe von Trottas Schlöndorff natürlich. Wenn Casanova Filmregisseur gewesen wäre.‹«‹«
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Red Amnesia vom Chinesen Wang Xiaoshuai erzählt von einer alten Frau, die von den Geistern der Vergangenheit heimgesucht wird. Sie materialisieren sich in einem jungen Mann mit merkwürdigen Manieren, den man lange für einen Geist und dann für einen Serienmörder halten muss. Er ist keines von beidem, sondern der Enkel einer Familie, die alte Dame einst während der Hexenjagd der Kulturrevolution denunzierte. Das Verdrängte kehrt zurück. Eine spannende Psychostudie, die Horrorfilmelemente mit einer dokumentarischen Reise verbindet, die das Publikum in halbe Geisterstädte führt: Verlassene Fabriken und heruntergekommene Dörfer, in denen einst das Heer der Arbeiter hauste, die in die Fabriken zwangsverpflichtet wurden.
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Auch dieser Film könnte einen Preis bekommen, zum Beispiel für seine Hauptdarstellerin. Der Schwede Roy Andersson A pigeon sat on a branch reflecting on existence (wir berichteten) bleibt aber nach wie vor der klarste Favorit auf den Goldenen Löwen.
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Im Fahrstuhl auf der Fahrt nach oben zum Presseraum höre ich einem Gespräch zu: »Sie können nicht zum zweiten Mal hintereinander einem Dokumentarfilm den Goldenen Löwen geben« Nein? Können sie nicht? Ich bin mir nicht so sicher. Ich möchte zwar auch nicht, dass Joshua Oppenheimer für seine Indonesien-Terror-Doku irgendetwas gewinnt. Die ist mir zu manieriert. Aber ich glaube er hat gute Chancen, zu viele Kollegen mögen den Film.
Mein persönlicher Favorit Trois coeurs wird eher nichts bekommen, da bin ich eigentlich sicher. Ich glaube nach wie vor an Roy Anderssons A pigeon sat on a branch reflecting on existence. Aber heute hatte ich mir gedacht, dass auch Red Amnesia des Chinesen Wang Xiaoshuai echte Chancen auf einen großen Preis
hat. Der Film wird besser und besser in der Erinnerung.
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Das Fragwürdige bei Oppenheimer ist, dass er seine Prozesse nicht offenlegt, und irgendwie auch, dass er zu längst Bekehrten predigt. Wie schon bei Oppenheimer stellt sich noch mehr bei Ulrich Seidl (der hier diesmal nicht im Wettbewerb läuft) die Frage, ob und wo das alles überhaupt als Dokumentarfilm bezeichnet werden muss. Oder ist es nicht viel mehr Laientheater im Wortsinn: Mit Laien über Monate zuerst recherchierte, dann eingeübte Szenarien. Jede Spontaneität ist aus
diesen Filmen getilgt. Seidl »gestaltet« die Wirklichkeit, er bildet nicht ab, dokumentiert nicht, sondern schafft, was er zeigt. Das finde ich bis zu einem gewissen grad unredlich, auch wenn ich gern glaube, dass er viel recherchiert und dass das, was ich am Ende auf der Leinwand sehe, etwas mit alldem zu tun hat. Aber ich muss es eben glauben, Seidls Filme geben mir darüber hinaus nichts, wodurch ich Aufschluss über diesen Prozess und Auswahlkriterien bekomme. Das gibt ihnen eine
geradezu totalitäre Note, einen Herren-Gestus.
Im Interview will Seidl zuerst nichts gelten lassen, was man über seine Protagonisten sagt, weist »bildungsfern« und »Unterschicht« zurück, beschreibt sein Milieu dann aber doch in einem Moment der Unaufmerksamkeit selbst als »durchschnittliche« Personen. Er habe sehr viele »Kandidaten« getroffen, erzählte Seidl. Das hört sich dann an wie ein Casting. Aber kann man Wirklichkeit casten?
Auch über den Film The
Postmans White Nights von Andreij Konchalowskii, der im Wettbewerb läuft und ein absolut gespielter Dokumentarfilm ist, kann man Ähnliches sagen.
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Die liebe Kollegin Anna vom BR, (der Name wurde auf ihren Wunsch geändert) hat Seidl im Interview gefragt, ob das Ganze nicht auch auf RTL laufen könnte. Fand er wohl nicht so witzig, und meinte da würden die Leute ja ausgebeutet. Anna hat auch treffend vermutet, es seien »alles Stellvertretergeschichten«, im Grunde habe Seidl einen Film über sich drehen wollen, und daran gemessen sei das Resultat ein wenig feige. Da kann ich nur zustimmen. Bleibt die Tatsache, dass es Seidl immer wieder gelingt, vieles infrage zu stellen, was wir über Film zu wissen glauben.
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Programmierung ist bei einem Festival die halbe Miete. Ganz offenkundig hat Festivalleiter Alberto Barbera in diesem Jahr in der Mittel des Festivals einen »Hänger« eingebaut, eine Art Sollbruchstelle. Seit Mitte der Woche zog das Programm wieder an. Dazu gehörten nicht zuletzt einige Filme, die hier außer Konkurrenz liefen, und über die wir noch nicht geschrieben haben: Etwa die Werke zweier alter Bekannter: Gleichermaßen dem Aufbruch New Hollywood verbunden, wie den besten Traditionen des klassischen US-Kinos sind Barry Levinson (inzwischen 72) und Peter Bogdanovich (gar 75). Bogdanovichs She’s Funny That Way wurde von den New Yorker In-Regisseuren Noah Baumbach und Wes Anderson produziert, die Hauptrolle spielt Andersons Lieblingsstar Owen Wilson. In der atemberaubenden Screwball-Komödie im Geist von Lubitsch verkörpert er einen reichen Berufssohn, der sich in ein Escort-Girl verliebt.
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She’s Funny That Way hat eine Rahmenhandlung: Das Interview eines aufstrebenden Schauspielstars. Sie glaube an Märchen und Magie sagt Izzy, und erzählt wie einst Lana Turner entdeckt wurde – alles Lüge antwortet die Interviewerin.
Sie sei eine Muse. Aber »even a muse needs a muse« Im Prinzip ist She’s Funny That Way eine nostalgische Hommage an die Screwball Komödien aus Hollywoods Glanzzeit. Einiges erinnert auch an Woody-Allen-Filme – mir gefiel die Albernheit, und hemmungslose Überdrehtheit dieser Komödie, die erwachsener ist, als das Meiste, worüber wir hier lachen sollen.
Eine weitere Geschichte aus dem wahren Leben verfilmte Barry Levinson mit keinem Geringeren als Al Pacino in der Hauptrolle: The Humbling ist die Adaption des vorletzten Romans von Philip Roth: »Die Demütigung« handelt von einem alternden Schauspieler, der plötzlich seine Fähigkeiten einbüßt, aber durch die Beziehung mit einer fast 30 Jahre Jüngeren einen dritten Frühling erlebt. Auch dies wirkt seltsam aus der Zeit gefallen, manchmal bemüht, kann man aber doch gut angucken, ohne sich zu langweilen.
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Auch sonst sah man auch abseits des Wettbewerbs Bemerkenswertes: Von Larry Clarks Erforschungen der Teenagerabgründe (The Smell of Us) über Christophe Honores schon beschriebener Ovid-Anverwandlung Metamorphoses bis hin zu einem Spielfilm überr die Lage kubanischer Künstler 23-Jahre nach Ende der UdSSR von Laurent Cantet, der 2008 die Goldene Palme gewonnen hatte.