GB/USA 2020 · 150 min. · FSK: ab 12 Regie: Christopher Nolan Drehbuch: Christopher Nolan Kamera: Hoyte van Hoytema Darsteller: John David Washington, Elizabeth Debicki, Robert Pattinson, Aaron Johnson, Kenneth Branagh u.a. |
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Nicht mehr als Schachfiguren in einem Gedankenspiel? | ||
(Foto: Warner Bros.) |
»All I have for you is a word: ›Tenet‹. It'll open the right doors. Some of the wrong ones too. Use it carefully.«
Aus dem Drehbuch»tenet – noun
one of the principles on which a belief or theory is based: 'It is a tenet of contemporary psychology that an individual’s mental health is supported by having good social networks.'
'The model is built on the basic tenet of binomial dichotomy.'
'The safety of survivors of domestic violence is the central tenet of this research project.'
'It is argued that as a core tenet of the practice experience it is timely and appropriate to review perceptions of risk and uncertainty.'«
Cambridge Dictionary
Man kommt aus diesem Film heraus und wundert sich, dass die Züge vorwärts fahren, dass die Vögel am Himmel nicht rückwärts fliegen und der Qualm der zigarettenrauchenden Kollegen nicht in die Zigarette hineingesogen wird...
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»Versuch nicht es zu verstehen. Fühle es!« – schon relativ zu Beginn legt Christopher Nolan dies einer Wissenschaftlerin in den Mund, die der Hauptfigur das Weltprinzip dieses Films erklärt. Damit legt der Regisseur auch seine eigenen Karten auf den Tisch. Denn keineswegs ist Nolan ein Irrationalist des Kinos. Im Gegenteil wirft man ihm immer wieder gern »Kälte« und allzu »geschmeidige« »Konstruktionen« vor – im Deutschland des Rumpelkinos ist so etwas alles ein Vorwurf.
Manche wollen es aber nicht kapieren, manche kramen dann doch wieder die alten Stereotypen hervor, nicht nur die, die man gegen Nolan schon immer eingewandt hat, sondern die, die das Kino des psychologischen Realismus immer schon gegen jede andere Form von Kino vorgebracht hat, sei es nun abstraktes Experimentalkino, oder sei es das nicht weniger abstrakte, nicht weniger experimentelle Blockbuster-Kino.
Ja, und dann genügt es natürlich nicht, dass die NZZ-Kritikerin den
Plot nicht versteht, sondern oh weh, noch schlimmer: Keine Hauptdarstellerin, wo man doch »im 21. Jahrhundert Geschichten aus neuen Perspektiven erzählt und Hauptrollen mit Frauen besetzt, sogar in Superhelden- und Actionfilmen«. Mensch, sowas aber auch. Reicht denn da nicht ausnahmsweise mal ein schwarzer Hauptdarsteller?
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Nolans Kino trennt die Spreu vom Weizen. Es trennt nicht nur das Publikum in mindestens zwei Teile, nicht nur die Filmkritik, in die, die bereit sind, sich auf das einzulassen, was der Film sein will, und ihm nicht das vorhalten, was es ihrer Ansicht nach sein soll. Sondern innerhalb des Bewusstseins eines jeden Zuschauers die Seite, die ihn skeptisch macht, und die Seite, die ihn euphorisch werden lässt.
Man muss Nolans Filmen gewachsen sein, und ich habe es am eigenen Leib erfahren, dass ich seinen Filmen nicht immer gewachsen war. Man lernt dazu. Auch Tenet ist ein Film, dem ich nach dem ersten Mal sehen nicht gewachsen bin. Aber ich habe dazugelernt, dies auch genauso hinzuschreiben und darauf aufmerksam zu machen, dass alles Folgende nur ein Vorläufiges sein kann. Ich will den Film noch mal sehen und gewissermaßen seiner Struktur folgen, in der Zeit zurückreisen und ihn vor und zurückspulen im Kopf, ihn auseinandernehmen, und dann neu zusammensetzen, und dann...
Mittlerweile kennt man die Erfahrung eines Nolan-Films: Denkt man über die Geschichten und bestimmte Szenen retrospektiv nach, mögen sie nicht völlig widerspruchsfrei sein. Aber das macht nichts. Denn Nolan ist ein Kino-Zauberkünstler, der den Blick des Zuschauers derart sicher zu steuern und seine Reaktionen perfekt zu beherrschen versteht, dass es jederzeit den Eindruck hat, es verstehe, was passiert. Nolan-Filme »funktionieren« im Gefühl des Publikums.
So auch in Tenet.
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Der erste Schriftzug ist in Rot, der zweite in Blau. Da Christopher Nolan ein Regisseur ist, der nichts dem Zufall überlässt, kann man davon ausgehen, dass bereits die Wahl dieser Farben ein Statement ist , eine Bedeutung hat. Tatsächlich werden wir sie später verstehen.
Aber es stimmt: Tenet besitzt – auf den ersten Blick zumindest – nicht so viel Tiefe, wie Interstellar oder auch Inception. Andererseits hat sich die Größe von Inception auch erst mit der Zeit entfaltet.
Es gibt großartige, wunderschöne Bilder in diesem erstaunlichen Film. Zum Beispiel, wenn ein Mann hier gegen sich selber kämpft. Das hat neben der visuellen eine symbolische Kraft, wie eine Heldenepisode aus der antiken Mythologie. Das Staunen der Figur über diesen Moment trifft sich mit dem Staunen von uns Zuschauern. Wir können nicht wirklich verstehen, was hier geschieht, dafür ist alles zu kompliziert, zu schnell geschnitten, zu rasant erzählt, aber auch zu gewagt in seinen Voraussetzungen. Wir müssen es fühlen, hinnehmen, was hier passiert. Wir müssen akzeptieren, dass Christopher Nolan wie der Gott seiner Welt die Gesetze der Physik, der Natur, und selbst die Gesetze der anderen Götter außer Kraft setzt. Das ist so schön wie beängstigend.
Alles beginnt mit einem Terroranschlag in einem Konzertsaal. Es soll, so ist später zu erfahren, die Oper von Kiew sein. Sie ist es aber nicht, ein Blick ins Netz genügt – zu wenig Zuckerbäckerstil, zu viel Beton. Sondern die Linnahall in Tallinn, ein modernistischer, flacher bunkerähnlicher Architektentraum. Ausverkauftes Haus, viel Geld sitzt im Saal, das Orchester spielt sich ein, die Türen werden fest verschlossen und sicher abgeriegelt. Gleich sehen wir, dass der Ort beobachtet wird, mindestens dreimal. Einmal von uns. Dann von einer Loge aus, hinter einer Glasscheibe; zwei Leute sitzen da und ein Bodyguard. Und dann nochmal von außen: In einem parkenden Fahrzeug sitzen weitere Männer, die erwartungsvoll auf das kommende Geschehen blicken. Einer sagt: »We live in a twisted world.« Er weiß nicht, wie recht er hat.
Dann plötzlich dringen die Maskierten ein. Brutal schlagen sie Mitglieder des Orchesters nieder, gewinnen Kontrolle über den Raum – so glauben sie zumindest. Das alles entpuppt sich aber als eine getarnte Operation, um einen Mann, offenbar einen amerikanischen Spion, der enttarnt wurde, im Chaos in Sicherheit zu bringen. Doch auch das ist nur der Schein von etwas anderem. Denn die Befreier selber werden gestört und enttarnt...
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Das Chaos nimmt zu. Nun lernen wir die Hauptfigur kennen: Ein schwarzer Amerikaner, etwa Mitte 30, (gespielt von John David Washington, dem Sohn von Denzel). Wir wissen noch nicht, was er eigentlich tut, falls er selber das noch weiß, aber wir lernen ihn in seinem Humanismus kennen, mit dem er versucht, Menschen zu retten, obwohl es die Operation gefährdet, und in seiner Opferbereitschaft: Der Mann wird gefangen genommen, gefoltert, ihm werden die Zähne ohne Narkose mit einer Zange einzeln herausgebrochen – in einem unbeobachteten Moment kann er eine Giftkapsel schlucken und sich töten.
»Welcome to the afterlife!« – er wacht auf, lag im künstlichen Koma, sein Gebiss ist wiederhergestellt. Ein anderer Mann ist da und begrüßt ihn. Nicht jeder bestehe den Test, den er bestanden habe.
Er, dessen Namen wir auch am Ende des Films nicht erfahren haben werden, übernimmt den eigentlichen Auftrag: »You are not working for us, you are dead.« Eine Mission Impossible, die ihm seine Auftraggeber auch nicht wirklich erklären können. Es ist nur klar: No Nonsense! Das ist alles verdammt bedeutend. Erst allmählich, von Station zu Station, kristallisieren sich einige Konturen heraus. Als er jemanden fragt, was er denn bekämpfen solle, raunt es nur auf seine Frage nach »World War III., nuclear holocaust?« – »Something worse.« Die wichtigste Information erhält er irgendwo im Norden, in irgendeinem gut versteckten Archiv. Dort lagern »Die Trümmer eines kommenden Krieges.«
Eine Wissenschaftlerin erklärt ihm die Prinzipien des »Invertierens« oder der »Inversion«. Das Ganze wird beschrieben als rückwärts laufende Entropie. Man schießt auf ein Ziel, und die Patrone schnellt von dort ins Pistolenmagazin. Den Rat, den die kluge Dame ihm noch erteilt, kann man nur den Zuschauern weiterreichen: »Don’t try to understand it – feel it.«
Dann ist er in Bombay. Dort trifft er Neil (Robert Pattinson), der so ein bisschen aus dem Nichts auftaucht – ein Beispiel, wo dieser Film vielleicht nicht perfekt erzählt ist – und der offenbar viel weiß, wenn nicht alles. Er soll ihm helfen, einen Mann zu kontaktieren, der beschrieben wird als »ein Broker zwischen unserer Zeit und der Zukunft.« Weil man solche Männer nicht treffen kann, brechen sie mit Drahtseilen und einer Art umgedrehtes Bungee Jumping in der perfekt gesicherten Hochhauswohnung ein. Ziemlich schnell wird klar, dass eigentlich nicht der Mann, sondern seine Frau das Brain vor Ort ist.
Und so weiter, und so weiter, Aufgaben werden gelöst, eine Station führt zur nächsten, die Dramaturgie scheint hier der eines Computerspiels mit seinen Levels zu ähneln. Auch Michael Caine, Nolans Stammschauspieler, ist dabei. Da gibt es ein paar Gespräche, wie man aussieht als Milliardär, darüber dass die Briten kein Monopol auf Snobismus haben, und Michael Caine antwortet: »Nein, aber sie haben eine Mehrheitsbeteiligung.«
Schließlich hat sich herauskristallisiert, dass
da ein verrückter russischer Milliardär, gespielt von Kenneth Brannagh, offenbar die Welt vernichten will und »aus der Zukunft« angreift. Dieser Milliardär hatte Zugang zu den geheimen »geschlossenen« Städten der Sowjetunion, und dort zu radioaktivem Material. Jetzt will er, was ihm fehlt. So könnte man das detailliert weitererzählen...
Aber noch immer ist nicht mal das erste Drittel vorbei. Und wesentlich, das hat man gemerkt, ist an Christopher Nolans neuem Film Tenet nicht die eigentliche Geschichte.
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Aber wesentlicher als die Story sind an Nolans neuem Film die Bilder, und der Weltentwurf, der ihnen zugrundeliegt: Fortwährend erlebt man großes, prachtvolles Spektakel: Ein Jumbojet, der in ein Haus hineinrollt; Verfolgungsjagden über Zeitmauern; eine Mine, die rückwärts nach innen explodiert; ein Haus, das aus seinen Trümmern wieder zusammengesetzt wird; Schiffe, die rückwärts fahren; Vögel, die rückwärts fliegen; immer wieder diese widernatürlichen, unmöglichen
Rückwärtsbewegungen – zugleich kann man, wenn man ganz genau hinschaut bemerken, dass nur bestimmte Figuren und Objekte sich rückwärts bewegen, alles Mögliche sich aber gleichzeitig vorwärts bewegt.
Es gibt also eine Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Bewegungen.
Das exakt ist die Struktur von Tenet. Wenn man auf diesen Titel achtet und zugleich vergisst, dass es sich um das englische Wort für »Grundsatz« und »Theorem« und »Glaubenssatz« handelt, kann einem auffallen, dass dies ein Palindrom ist, also ein Wort, das sich von hinten nach vorne genauso wie von vorne nach hinten lesen lässt.
So kann man auch die Gegenwart vor- und zurückspulen. Es handelt sich also um einen Zeitreisefilm, bei der die Zeitreise allerdings
in der Gegenwart stattfindet – innerhalb paralleler Welten.
Im Kino ist das möglich, und es ist das besondere Können des Regisseurs Nolan, dass er immer wieder, auch in diesem Thriller über Relativitätstheorie und Quantenphysik, die Fähigkeit des Kinos ausreizt, unmögliche Bilder zu präsentieren, die innerhalb der filmischen Logik trotzdem funktionieren.
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Zugleich ist alles sehr klassisch-elegant. Mindestens drei Genres überlagern sich hier: Tenet ist ein Spionage-Film, eine sehr avancierte, auch sehr zeitgemäße Neu-Version eines James Bond-Films, eines klassischen Agententhrillers mit schönen und geheimnisvollen Frauen, spektakulären Jet-Set-Schauplätzen und ganz vielen Actionsequenzen. Nicht unterschätzen sollte man, wie hier alles ausgestellt wird, wie Nolan die Lust an Bewegung inszeniert – dies ist insgesamt ein schöner Film, der mit Schauwerten und mit Spektakel arbeitet – auch immer ein Grund, warum man ins Kino geht.
Zweitens ist dies ein »Heist-Film«, ein Safeknacker-Film. Gleich zwei spektakuläre und wunderschön anzusehende Diebstahlsaktionen gibt es hier: Der Einbruch in ein dem Pentagon ähnliches Hochsicherheitsdepot in Norwegen, bei dem ein Jumbo mit hoher Geschwindigkeit hineingesteuert wird, ist schön, der Überfall in Tallin, mit vier Lastwagen, die einen Transporter einklemmen, um dann von oben mit der Feuerwehrleiter eines Feuerwehrwagens in ihn einzusteigen, ist noch schöner. Wie schon in Inception muss etwas gestohlen werden, diesmal aber nicht aus dem Unterbewusstsein, sondern aus einer Parallelwelt.
Das dritte Genre, dem dieser Film zuzurechnen ist, ist der Paranoia-Thriller. Denn es geht schon auch darum, unsere reale Welt darzustellen – Nolan zeigt sie aber als eine Welt, über die der Einzelne nicht verfügt, nicht mehr verfügt. Eine Welt, der er fast ohnmächtig ausgeliefert ist. Wir bekommen hier zwar Menschen gezeigt, die als Einzelne eine Differenz machen können. Auf der anderen Seite bekommen wir die gleichen Menschen gezeigt als welche, die hilflos dem Gang der Dinge ausgesetzt sind, und die vor etwas beschützt werden, was sie noch nicht mal als Gefahr wahrgenommen haben. Es gibt also die Differenz aus den wenigen Wissenden und den vielen Unwissenden.
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Diese Differenz entspricht hier mehr denn je der prinzipiellen Dramaturgie des Films: Was hier mit den Zuschauern passiert, ist, dass man eine Handlung zweimal erlebt: Einmal von links nach rechts, ein anderes Mal von rechts nach links. Was hier rückwärts, was vorwärts ist, wird zunehmend unklarer. Diese umgekehrte Handlungsrichtung ist nicht dasselbe, als würde die Handlung rückwärts laufen – denn was hier tatsächlich passiert, ist, dass ein Teil der Handlung in den ersten zwei Dritteln rückwärts gelaufen ist – oder invertiert –, und genau dieser Teil läuft im letzten Drittel dann vorwärts. Natürlich schon etwas beschleunigt, weil wir »wissen«, was passieren wird – und auch wieder nicht.
Dies alles ist in mancher Hinsicht auch der Wunschtraum unserer Zeit. Der Wunschtraum, dass man Dinge ungeschehen machen könnte, der Wunschtraum der universalen Manipulation: Der Manipulation nicht nur der Welt, wie sie ist, sondern auch der Welt, wie sie war, und der Welt, wie sie sein wird. Es ist der Wunschtraum, dass auch Geschichte und auch die Zeit ein verfügbarer Raum wäre. Es ist der Wunschtraum, den man nicht als Gotteskomplex pathologisieren muss, dass jeder von uns Gott ist, der am Joystick Welten baut und Welten einstürzen lässt. Wenige Regisseure leben diesen Traum so sehr in ihren Filmen aus, wie Christopher Nolan.
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Ob Tenet das Kino retten wird? Mal abwarten, ob es überhaupt zu retten ist. Aber wenn, dann ist es nur zu retten, indem wir Zuschauer wieder lernen, uns hinzugeben, unsere Macht abzugeben, zu staunen, zu fühlen. Indem wir beginnen, mit uns selbst zu kämpfen.
»Wo viel Licht ist, ist starker Schatten.« – Johann Wolfgang von Goethe, Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand.
Die Hoffnungen und der Hype, die seit Monaten in Christopher Nolans Tenet als Retter des Kinos projiziert wurden, scheinen sich tatsächlich zu materialisieren. Die erste Hollywood-Großproduktion, die es nach langem Zögern in die immer noch durch Corona-Regelwerk angeschlagenen internationalen Kinos geschafft hat, hat es nach dem ersten Wochenende auf immerhin 53 Millionen Dollar Einnahmen geschafft; mit 7,1 Millionen Dollar liegt Tenet im Heimatland Nolans, Großbritannien, sogar recht nah an den Einspielergebnissen von Nolan-Erfolgen wie Inception und Interstellar. Der heutige nachgezogene Start in den USA und einen Tag später, am 4. September in China, könnte also tatsächlich zu dem »bedeutenden Sieg« für das Kinoerlebnis in der COVID-19-Ära werden, von dem der Hollywood Reporter bereits am Wochenende geprochen hatte.
Dieser Erfolg dürfte zu einem großen Teil einem blockbuster-ausgehungerten Kinopublikum zu verdanken sein, das alles frisst, was ihm vorgeworfen wird, denn Tenet ist mit Abstand der schwächste Film in Nolans Werkverzeichnis und hätte unter »normalen« Verhältnissen wohl kaum die singuläre Aufmerksamkeit erhalten, die ihm jetzt zuteil wird.
Dabei reiht sich Tenet fast schon mustergültig in den Kanon von Nolans großen, die »Zeit« thematisierenden Filmen wie Memento, Inception und Interstellar ein. Doch in den fünf Jahren, die Nolan Tenet vorbereitet hat, schien es ihm zunehmend ein Anliegen gewesen sein, seine eigenen Ideen noch einmal zu vertiefen, und gewissermaßen das zu schaffen, was in der Literatur James Joyce mit »Finnegans Wake« und Arno Schmidt mit »Zettels Traum« versucht haben.
Dadurch zerbricht Nolans Film mehr noch als seine letzten Filme in einen komplexen theoretischen Teil, ein, um Arno Schmidt noch einmal ins Spiel zu bringen, »Längeres Gedankenspiel«, und in einen praktischen, die »objektive Realität«. Arno Schmidt hat diesen dichotomen »Zustand« literarisch abgebildet, indem er – wie etwa in KAFF auch Mare Crisium – die Buchseite zweigeteilt hat, um beiden Seiten gleichermaßen gerecht zu werden.
Nolan geht komplizierter vor. Die objektive Welt seiner westlichen Geheimdienst- und russischen Oligarchen-Welt skizziert Nolan in gewaltigen, großartig inszenierten stroboskopischen Bildwelten, die von dem präzis-peitschenden Score von Ludwig Göransson unerbittlich vorangetrieben werden. Bildwelten, in denen Flugzeuge wie Möwen ihren ursprünglichen entropischen Zustand verändern und unter einer temporalen Zangenbewegung sogar mit dem entgegengesetzten Zustand ko-existieren können und in denen es auch schon mal vorkommen kann, dass sich Ich und Ich in der Hitze des Gefechts über den Weg laufen. Das sind große, schwindelerregende Nolan-Momente, wie wir sie auch schon aus seinen anderen Filmen kennen. Aber Nolan will mehr. Denn es geht, und das darf man vielleicht nicht vergessen, bei Nolan wohl auch schon darum, so etwas wie ein Alterswerk zu schaffen.
Deshalb ist Nolans theoretischer Teil in Tenet, sein »längeres Gedankenspiel«, an dem er ja schon seit seinem Debüt Following immer Interesse hatte, noch weitaus umfangreicher als jemals zuvor. Denn mehr als jemals zuvor sind Nolans Protagonisten keine Protagonisten im eigentlichen Sinn mehr, also Charaktere, die eine Entwicklung durchlaufen, sondern schlichte Platzhalter für Ideen, die Nolan wichtig sind. Nolan markiert diese Vorgehensweise auch dadurch, dass er seiner CIA-Hauptperson tatsächlich keinen Namen gibt.
Die Dialoge in Tenet bewegen sich dementsprechend auf dem Niveau von Klassenraum-Erklärdialogen einer Physik-Klasse der deutschen gymnasialen Oberstufe. Zwar gelingen über die wie immer bei Nolan stereotyp-blasse Frauenrolle, in diesem Fall Kat (Elizabeth Debicki), ein paar gender-groteske Momente, weil Kat den Hauptprotagonisten (John David Washington) um einiges überragt, aber kaum beginnt sie davon zu reden, dass ihr Sohn ihr ein und alles ist, für den sie (fast) alles bereit ist zu tun, ist auch das schon wieder Makulatur, war auch das nur ein theoretischer Jux ohne praktische Folgen und wie alle Bewegungen der Figuren in Tenet nicht mehr als die Bewegung einer Schachfigur statt einer charakterlichen Entwicklung – mehr noch, als auch Nolans Personal wie Schachfiguren dann und wann ihren entropischen Zustand verändern, also rückwärts gezogen werden können, es eine uns bekannte menschliche Entwicklung und einen Beziehungsaufbau im klassischen Sinn nicht geben kann, nicht geben darf.
Dieses von Nolan dezidierte Ziehen der Figuren, manchmal zu schnell, dann wieder viel zu lang, und ihre dabei vermittelten theoretischen Worthülsen verhindern dann auch, dass einem das Personal auch nur in Ansätzen »ans Herz wächst« und damit die eigentliche Blockbuster-Katharsis, die Rettung der objektiven Realität vor einer globalen, temporalen Implosion, einem schon sehr schnell ziemlich egal ist. Und mehr noch, einem schon nach einer halben Stunde ernüchternd klar wird, dass Nolans einer Wissenschaftlerin in den Mund gelegter Satz: »Versuch nicht es zu verstehen. Fühle es!« genauso für die Katz ist und nichts weiter ist, als eine weitere als Prinzip getarnte Verballhornung. Und wo nichts zu fühlen ist, da ist auch nicht nichts mehr zu verstehen, was natürlich auch umgekehrt seine Gültigkeit hat. Nolan hin oder her.